Urteil des OLG Hamm vom 20.06.2006

OLG Hamm: gebühr, rücknahme, pflichtverteidiger, vergütung, anmerkung, beratung, wahlverteidiger, gefahr, bürge, mehrbelastung

Oberlandesgericht Hamm, 4 Ws 144/06
Datum:
20.06.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 Ws 144/06
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 3 KLs 2/05
Tenor:
1. Die Rechtssache wird wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung dem
Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§§ 56, 33 Abs. 8 S.
2 RVG). Insoweit handelt es sich um eine Entscheidung des
mitunterzeichnenden Ein-zelrichters.
2. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben, soweit die dem
Pflichtvertei-diger B2 für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger aus der
Staatskasse zu zah-lende Vergütung auf mehr als 2.613,60 Euro
festgesetzt worden ist.
3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche
Kosten werden nicht erstattet.
G r ü n d e :
1
I.
2
Dem Angeklagten C ist am 9. Dezember 2004 zunächst Rechtsanwältin B als
Pflichtverteidigerin beigeordnet worden. Mit Schriftsatz vom 4. Februar 2005 hat sich
Rechtsanwalt B2 zunächst als Wahlverteidiger für den Angeklagten gemeldet. Auf
Nachfrage des Vorsitzenden der 3. Strafkammer des Landgerichts Münster vom
3
10. Februar 2005 hat er erklärt, er werde voraussichtlich Wahlverteidiger bleiben,
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für den Fall einer auswechselnden Beiordnung versichere er, dass dadurch keine
Mehrkosten entstünden (Bl. 286 d.A.). Diese Zusage hat er durch Schriftsatz vom 17.
März 2005 (Bl. 341 d.A. i.V.m. 275 d.A.) und 7. September 2005 (Bl. 646 d.A.) erneut
bestätigt.
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Nach Entpflichtung von Rechtsanwältin B hat diese die Festsetzung der Gebühren und
Auslagen für die Pflichtverteidigung in Höhe von 699,65 Euro beantragt, u.a. die
Grundgebühr gemäß Nr. 4101, 4100 VV RVG in Höhe von 162,00 Euro netto für das
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Verfahren 63 Js 2590/04 StA Münster (vgl. Bl. 567 f. d.A.), die antragsgemäß festgesetzt
worden sind (Bl. 569 d.A.).
In der Hauptverhandlung vom 11. Mai 2005 hat Rechtsanwalt B2 für den Angeklagten C
die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren vier Monaten beantragt, der
im wesentlichen geständige Angeklagte hat im letzten Wort erklärt, ihm tue die Sache
leid.
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Der Angeklagte C ist am 23. Mai 2005 unter Einbeziehung einer Vorverurteilung wegen
räuberischen Diebstahls und versuchten Diebstahls (Einheits-jugendstrafe von einem
Jahr zehn Monaten) wegen schweren Raubes zu einer Einheitsjugendstrafe von vier
Jahren verurteilt worden.
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Gegen dieses Urteil hat Rechtsanwalt B2 "zunächst fristwahrend" Revision eingelegt,
die er zugleich mit der allgemeinen Sachrüge begründet hat. Nachdem ihm am
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4. Juli 2005 das vollständig abgefaßte Urteil zugestellt worden ist, hat er mit Schriftsatz
vom 5. Juli 2005 die Revision "nach Studium der vertretbaren Urteilserwägungen"
wirksam zurückgenommen.
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Mit Schriftsatz vom 6. September 2005 hat Rechtsanwalt B2 die Festsetzung seiner
Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 3.429,66 Euro beantragt.
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Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat durch Beschluß vom 3. November 2005 die
zu erstattenden Gebühren und Auslagen zunächst auf insgesamt 2.345,64 Euro
festgesetzt. Auf die als Erinnerung auszulegende Beschwerde des Pflichtverteidigers,
mit der er sich ausschließlich gegen die Absetzung der Gebühren Nr. 4131/4130 und Nr.
4141 VV RVG wendet , und die Erinnerung des Bezirksrevisors bei dem Landgericht
Münster gegen den Ansatz der beiden geltend gemachten Gebühren Nr. 4105 VV RVG
sind - unter Nichtabhilfe der Erinnerung des Pflichtverteidigers - die zu erstattenden
Gebühren und Auslagen anderweitig - wie folgt - auf 2.027,80 Euro festgesetzt worden:
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Grundgebühr Nr.4101/4100 VV RVG für das Verfahren ########
162,00
Euro
Grundgebühr Nr.4101/4100VV RVG für das verbundene Verfahren
##########
162,00
Euro
Verfahrensgebühr erster Rechtszug Strafkammer/Jugendkammer Nr.
4113/4112 VV RVG Verfahren #########
151,00
Euro
Verfahrensgebühr erster Rechtszug Strafkammer/Jugendkammer Nr.
4113/4112 VV RVG Verfahren #########
151,00
Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 27.04.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG
263,00
Euro
Zusatzgebühr nach Nr. 4116 VV RVG, Terminsdauer 9.00 - 14.15 Uhr
108,00
Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 11.05.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG
263,00
Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 23.05.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG
263,00
13
Euro
Geschäftsreise (2 x 88 km x 0,30 Euro) - eigener Pkw
52,80
Euro
Tage- und Abwesenheitsgeld von nicht mehr als 4 Stunden Nr. 7005 VV
RVG
20,00
Euro
Tage- und Abwesenheitsgeld von nicht mehr als 4 Stunden Nr. 7005 VV
RVG am 22.03.2005
20,00
Euro
Übertrag
1.615,80
Euro
Übertrag
1.615,80 Euro
Post- und Telekommunikationspauschale, Nr. 7002 VV RVG
20,00 Euro
Fotokopierkosten Nr. 7000
112,30 Euro
gesamt
1.748,10 Euro
16% MWSt.
279,70 Euro
Vergütung
2.027,80 Euro
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Die 3. Strafkammer des Landgerichts Münster hat am 10. März 2005 durch ihren
Einzelrichter die aus der Staatskasse zu ersetzende Vergütung des Rechtsanwalts B2
für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger auf insgesamt 3.091,52 Euro festgesetzt. Sie hat
dabei dem Pflichtverteidiger sowohl die Gebühr nach Nr. 4131 VV RVG mit Zuschlag
(505,00 Euro netto) als auch Nr. 4141 VV RVG (412,00 Euro netto), somit brutto weitere
1.063,72 Euro zuerkannt.
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Dieser Beschluß ist dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Münster am 16. März 2006
zugestellt worden. Dieser hat gegen den Beschluß mit Schriftsatz vom 16. März 2006,
der spätestens am 17. März 2006 bei dem Landgericht eingegangen ist (Tag der
Weiterleitung an den Senat) sofortige Beschwerde eingelegt. Das Rechtsmittel hat sich
zunächst gegen den Ansatz beider nachträglich bewilligter Gebühren gerichtet. Durch
Schriftsatz des Leiters des Dezernats 10 der hiesigen Verwaltungsabteilung ist die
Beschwerde in Absprache mit dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Münster
zurückgenommen worden, soweit sie sich ursprünglich auch gegen den Ansatz der
Gebühr Nr. 4131/4130 gerichtet hat. Damit steht nur noch der Ansatz der Gebühr Nr.
4141 VV RVG für die Rücknahme der Revision im Streit.
16
II.
17
Die gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 bis 8 RVG zulässige Beschwerde des
Bezirksrevisors bei dem Landgericht Münster hat - wie von dem Leiter des Dezernats 10
der hiesigen Verwaltungsabteilung beantragt - Erfolg.
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1. Der Senat hatte nicht darüber zu entscheiden, ob dem Verteidiger nach seinem
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ausdrücklich erklärten Verzicht auf durch den Pflichtverteidigerwechsel verursachte
Mehrkosten die Grundgebühr gemäß Nr. 4100, 4101 VV RVG im Verfahren #####
####### in Höhe von 162,00 Euro netto zustand oder nicht, obwohl diese Gebühr
zugunsten der Pflichtverteidigerin B festgesetzt worden ist.
2. Die Gebühr Nr. 4141 VV RVG für die Rücknahme der Revision steht dem
Pflichtverteidiger vorliegend nicht zu.
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Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Gebühr entsteht, ist in Rechtsprechung
und Kommentarliteratur, soweit diese überhaupt explizit dazu Stellung bezieht,
umstritten.
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Zum Teil wird vertreten, die Gebühr entstehe unabhängig davon, ob die Revision vor der
Rücknahme begründet worden sei, und auch unabhängig davon, ob eine (Revisions-
)Hauptverhandlung durch die Rücknahme vermieden werde (vgl. OLG Düsseldorf,
Beschluß vom 12. September 2005 - III - 1 Ws 288/05 -, zitiert nach www.burhoff.de;
OLG Hamm, Einzelrichterentscheidung des 4. Strafsenats vom 24. Januar 2006 - 4 Ws
554/05 -; LG Hagen, Beschluß vom 23. Februar 2006 - 51 KLs 400 Js 815/04 (21/05) -,
zitiert nach www.burhoff.de -; Burhoff (Hrg.), RVG - Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4141
VV Rdnr. 37).
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Nach anderer Ansicht ist jedenfalls dann, wenn die Revision im Zeitpunkt der
Revisionsrücknahme noch nicht begründet worden ist, für die Gebühr nach Nr. 4141 VV
RVG kein Raum, weil in einem solchen Fall selbst die theoretische Möglichkeit einer
Revisionshauptverhandlung nicht bestehe (vgl. KG, Beschluß vom 4. April 2006
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- 4 Ws 28/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; KG, Beschluß vom 28. Juni 2005 - 5 Ws
311/05 -, NStZ 2006, 239 f. = RV-Report 2005, 352; ; OLG Braunschweig, Beschluß vom
16. März 2006 - Ws 25/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; OLG Bamberg, Beschluß vom
22. März 2006 - 1 Ws 142/06 -, zitiert nach www.burhoff.de - die beiden letzten
Entscheidungen die Frage der Vermeidung einer Revisionshauptverhandlung offen
lassend -).
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Schließlich wird vertreten, dass die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG nur dann entstehe,
wenn nach Begründung der Revision konkrete Anhaltspunkte für die Anberaumung
einer Revisionshauptverhandlung bestünden (vgl. KG, Beschluß vom 4. Mai 2006 - 4
Ws 57/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 17. Mai 2005
- 1 Ws 164/05 - zitiert nach www.burhoff.de; OLG Hamm, Beschluß vom 28. März 2006 -
1 Ws 203/06 -).
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Im Ergebnis folgt der Senat der letztgenannten Auffassung.
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Nach Nr. 4141 VV RVG ist der Gebührentatbestand wie folgt beschrieben:
27
"Durch die anwaltliche Mitwirkung wird eine Hauptverhandlung entbehrlich:
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Zusätzliche Gebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr"
29
In der amtlichen Anmerkung ist dazu weiter ausgeführt:
30
"I. Die Gebühr entsteht, wenn
31
1. ...
32
2. ...
33
3. sich das gerichtliche Verfahren durch Rücknahme ... der Revision des
Angeklagten ... erledigt; ist bereits ein Termin zur Hauptverhandlung bestimmt,
entsteht die Gebühr nur, wenn ... die Revision früher als zwei Wochen vor Beginn
des Tages, der für die Hauptverhandlung vorgesehen war, zurückgenommen wird."
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Sowohl der Wortlaut des Tatbestandes der Gebührenbeschreibung als auch der
amtlichen Anmerkung in Abs. 1 Nr. 3 dazu sprechen dafür, dass durch die Rücknahme
der Revision eine sonst jedenfalls nahe liegende Revisionshauptverhandlung
vermieden werden muss, was in der Praxis allerdings eher einen Ausnahmefall
darstellen dürfte. Durch die Neuregelung ist der Grundgedanke zu § 84 Abs. 2 BRAGO
übernommen worden, intensive und zeitaufwändige Tätigkeiten des Verteidigers
außerhalb der Hauptverhandlung gebührenrechtlich zu honorieren, wenn sie zu einer
Vermeidung der Hauptverhandlung und damit zum Verlust der
Hauptverhandlungsgebühr führen (vgl. BT-Ds. 15/1971 S. 219 - 230 - zu Nummer 4141 -
; OLG Zweibrücken, a.a.O.). Demgemäß ist aber die vom Gesetzgeber gewollte
Honorierung dort nicht angezeigt, wo der Anfall der Hauptverhandlungsgebühr (Nr. 4132
VV RVG) nicht zu erwarten steht. Würde man mit dem OLG Düsseldorf gleichwohl die
Gebühr zuerkennen, stünde sich der Pflichtverteidiger, der die eingelegte (und ggfls.
begründete) Revision zurücknimmt, gebührenrechtlich besser, als der, der sie
durchführt. Während im letzten Fall regelmäßig für das Revisionsverfahren (ohne
Hauptverhandlung) nur die Gebühr nach Nr. 4130/4131 VV RVG in Höhe von 412,00
Euro bzw. 505,00 Euro anfällt, erhielte der Pflichtverteidiger im ersten Fall daneben
zusätzlich die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG. Das ist nicht nur unbillig, sondern auch
mit dem Anliegen des Gesetzgebers nicht zu vereinbaren. Abgesehen davon bürge eine
solche Handhabung die große Gefahr der Einlegung mit anschließender Rücknahme
von Revisionen allein aus gebührenrechtlichen Gründen, was im Ergebnis zu einer
kaum noch zu bewältigenden Mehrbelastung der Landgerichte durch die Notwendigkeit
vollständig abgefasster Urteile führen kann.
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Die vom Senat vertretene Ansicht erscheint auch nicht unbillig. Die im Anschluss an die
(gebührenrechtlich neutrale) Einlegung der Revision vorzunehmende prüfende und
beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts wird durch die Gebühr Nr. 4130/4131 VV RVG
abgedeckt. Diese umfasst die Prüfung und Beratung, ob und mit welchem Inhalt die
Revision durchgeführt werden soll. Ergebnis dieser Beratung kann sein, die Revision
weitergehend zu begründen oder aber auch sie mangels Erfolgsaussicht
zurückzunehmen.
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Speziell im vorliegenden Fall wird deutlich, dass diese prüfende und beratende
Tätigkeit erst nach Zustellung des Urteils und durch Empfehlung der
Revisionsrücknahme durchgeführt worden sein kann, da die nur vorsorglich eingelegte
Revision ersichtlich auch nur vorsorglich mit der nicht näher ausgeführten Rüge der
Verletzung materiellen Rechts begründet worden ist. Die Frage der Durchführung der
Revision sollte ersichtlich erst noch geprüft werden.
37
Der 3. Senat des OLG Hamm neigt dazu, sich dieser Rechtsauffassung anzuschließen.
Der hiesige 2. Senat hat die vorliegende Rechtsfrage noch nicht entschieden.
38
III.
39
Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 S. 2 und 3 RVG.
40