Urteil des OLG Hamm vom 19.10.2001

OLG Hamm: einstellung der zahlungen, selbstbehalt, eltern, ausbildung, erwerbsunfähigkeit, verschulden, bedürftigkeit, wohnung, leistungsfähigkeit, sittlichkeit

Oberlandesgericht Hamm, 11 UF 36/01
Datum:
19.10.2001
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
11. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 UF 36/01
Vorinstanz:
Amtsgericht Gronau, 13 F 131/01
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 14. Dezember 2000
verkündete Urteil des Amtsgerichts Gronau teilweise abgeändert und
wie folgt neu gefasst: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für ihre
Tochter W wie folgt Unterhalt zu zahlen: a) für die Zeit von Juni 1999 bis
Juli 2000 4.200,- DM nebst 8 % Zinsen seit dem 01.08.2000; b) für
August und September 2000 monatlich 300,- DM; c) ab Oktober 2000
monatlich 200,- DM. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen zu 1/3 die Beklagte und zu
2/3 der Kläger. Die Kosten der ersten Instanz werden der Beklagten zu
1/5 auferlegt, dem Kläger zu 4/5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger macht gegen die Beklagte die deren Tochter W zustehenden
Unterhaltsansprüche geltend, die er als Träger der Sozialhilfe auf sich übergeleitet hat.
Dem liegt folgendes zu Grunde:
2
Die Beklagte hat zusammen mit ihrem bereits verstorbenen Ehemann 7 Kinder
großgezogen. Die Tochter M, geboren am 24.04.1954, hat nach dem
Realschulabschluss eine dreijährige Ausbildung als Fotogravurzeichnerin absolviert
und am 31.07.1973 erfolgreich abgeschlossen. Danach hat sie die Fachoberschule
besucht und im Herbst 1974 die Fachhochschulreife erlangt. Anschließend hat sie
zunächst an der Fachhochschule für Design in D studiert, später ab dem
Sommersemester 1976 an der Fachhochschule für Design in M. Dort war sie bis zum
Sommersemester 1995 eingeschrieben, ohne je eine Diplomprüfung zu absolvieren.
3
Die Eltern haben die Ausbildung ihrer Tochter bis Ende 1985 finanziell unterstützt,
zuletzt mit monatlich 300,- DM. Ihren weiteren Bedarf hat die Tochter durch
verschiedene Nebentätigkeiten gedeckt. Als die Eltern ihre Zahlungen Ende 1985
gänzlich einstellten, bestritt die Tochter ihren ganzen Lebensunterhalt durch neben dem
Studium geleistete Erwerbstätigkeit. Dazu arbeitete sie ab September 1987 20
Wochenstunden bei der Post. Da sie noch als Studentin eingeschrieben war, zahlte sie
nur Beiträge zur Krankenversicherung, nicht zur Rentenversicherung.
4
Im Februar 1995 gab sie ihre Stelle bei der Post gegen eine Abfindung von 17.000, DM
5
auf, weil sie gesundheitliche Probleme hatte. Im September 1995 beantragte sie
Sozialhilfe. Bei einer vom Sozialamt veranlassten ärztlichen Untersuchung wurde eine
Psychose festgestellt. Nach einer 4 Monate dauernden stationären Behandlung folgte
eine 2-jährige Rehabilitationsmaßnahme, die aber keinen durchschlagenden Erfolg
hatte. Nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 23.06.1999 lag weiterhin
Erwerbsunfähigkeit vor. Diese Erwerbsunfähigkeit dauert unstreitig fort. Der Kläger
leistet daher fortlaufend Sozialhilfe in Höhe von monatlich rund 1.200,- DM (vgl. die
Aufstellung Bl. 6 der GA).
Der Kläger hat etwaige gegen die Beklagte bestehende Unterhaltsansprüche der
Tochter auf sich übergeleitet. Er hat vorgetragen, das anrechenbare Einkommen der
Beklagten betrage 2.920,- DM. Unter Berücksichtigung des angemessenen
Selbstbehalts von 1.800,- DM sei sie daher in der Lage, Unterhalt in Höhe der
erbrachten Sozialhilfeleistungen zu zahlen.
6
Er hat beantragt,
7
die Beklagte zu verurteilen, an ihn für Frau W wie folgt Unterhalt zu zahlen:
8
a)
9
für die Zeit von Juni 1999 bis Juli 2000 rückständige Beträge in Höhe von 15.068,00
DM nebst 8 % Zinsen seit dem 01.08.2000;
10
b)
11
ab August 2000 monatlich 1.120,- DM.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie hat geltend gemacht, der Unterhaltsanspruch ihrer Tochter sei verwirkt. Diese habe
gegen die Pflicht verstoßen, ihr Studium zügig zu Ende zu bringen. Unterstelle man,
dass sie ihr Examen nach einer im oberen Bereich liegenden Studiendauer von 5
Jahren abgeschlossen und anschließend gearbeitet hätte, wäre ihr Lebensbedarf heute
durch eine Erwerbsunfähigkeitsrente zumindest im Umfang des Sozialhilfebezugs
abgedeckt.
15
Dass sie nicht diesen Weg gewählt, sondern ohne Abschluss fortlaufend studiert und
trotz nebenher laufender Erwerbstätigkeit keine Absicherung für das Risiko der Berufs-
und Erwerbsunfähigkeit geschaffen habe, sei eine Lebensführungsschuld. Ihre
Inanspruchnahme sei auch im Sinne von § 1611 BGB grob unbillig, da sie sieben
Kinder aufgezogen und M bei ihrer Ausbildung hinreichend unterstützt habe.
16
Hilfsweise hat die Beklagte geltend gemacht, dass bei der Ermittlung ihres
anrechenbaren Einkommens weitere fortlaufende Aufwendungen abzuziehen seien.
Dann ergebe sich bis Juli 2000 ein Betrag von 2.732,69 DM, ab August ein Betrag von
2.680,69 DM. Im übrigen stehe ihr ein Selbstbehalt von 2.250,- DM zu und ein weiterer
Betrag von 200,- DM zur Vermögensbildung. Also könne sie monatlich allenfalls 280,70
DM bzw. 230,79 DM aufbringen.
17
Das Amtsgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Es hat gemeint, der
Unterhaltsanspruch der Tochter M sei nicht verwirkt. Dass M lange ohne Abschluss
studiert habe und nur freiberuflich tätig gewesen sei, ohne für die üblichen
Absicherungen zu sorgen, sei kein schwerwiegendes sittliches Verschulden im Sinne
von § 1611 BGB.
18
Das anrechenbare Einkommen der Beklagten betrage bis Februar 2000 2.763,- DM, von
März bis September 2000 2.659,- DM und ab Oktober 2000 2.472,45 DM. Da der
Selbstbehalt mit monatlich 1.800,- DM anzusetzen sei, seien von Juni 99 bis Februar
2000 monatlich 963,- DM zu zahlen, von März bis September 2000 monatlich 859,- DM
und ab Oktober 2000 monatlich 672,- DM.
19
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Berufung, mit der sie ihren Antrag
auf Abweisung der Klage weiter verfolgt. Sie wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen
und trägt ergänzend vor, der Tochter sei wiederholt und eindringlich vorgehalten
worden, sie müsse baldmöglichst für eine Absicherung im Alter sorgen. Das habe sie
abgetan, weil sie anders habe leben wollen. Das könne man nur als sittliches
Verschulden werten.
20
Die Beklagte beantragt,
21
abändernd die Klage abzuweisen.
22
Der Kläger beantragt,
23
die Berufung zurückzuweisen.
24
Er verteidigt das angefochtene Urteil. Er meint, die Annahme eines sittlichen
Verschuldens scheide aus, weil die Tochter sehr wohl vorgehabt habe, für ihr Alter zu
sorgen und daran nur durch ihre unverschuldete Krankheit gehindert worden sei.
Zumindest die Lebensgestaltung seit der Aufnahme der Tätigkeit bei der Bundespost im
September 1987 sei nicht zu beanstanden. Das könne nicht als Einschlagen eines
risikobehafteten Lebensweges bewertet werden.
25
Entscheidungsgründe
26
Die Berufung ist zulässig und überwiegend begründet. Zwar bestehen auf den Kläger
übergegangene, aus den §§ 1601 ff BGB folgende Unterhaltsansprüche der Tochter W
gegen die Beklagte, jedoch nicht in der vom Amtsgericht zugesprochenen Höhe. Die
Ansprüche sind vielmehr gemäß § 1611 BGB auf einen der Billigkeit entsprechenden
Beitrag zum Unterhalt zu reduzieren.
27
1.
28
Bevor geprüft werden kann, ob Unterhaltsansprüche gemäß § 1611 BGB aus
Billigkeitsgründen ganz oder teilweise entfallen, ist deren genaue Höhe festzustellen
29
1.1 Bedürftigkeit und Bedarf:
30
Ist jemand außerstande, sich selbst zu unterhalten, kann er von den mit ihm in gerader
31
Linie Verwandten Unterhalt gemäß den §§ 1601, 1602 BGB verlangen.
Dass die Tochter der Beklagten erwerbsunfähig ist und sich nicht selber unterhalten
kann, ist unstreitig. Folglich ist die Beklagte als ihre Mutter dem Grunde nach
unterhaltspflichtig.
32
Zum Bedarf der Tochter, der sich nach § 1610 BGB bestimmt, ist nicht näher
vorgetragen. Die Parteien gehen aber übereinstimmend davon aus, dass der aus der
früheren Lebensstellung der Tochter abgeleitete Unterhaltsbedarf jedenfalls die Höhe
der Sozialhilfesätze erreicht.
33
1.2
34
Der Unterhaltspflichtige muss nur insoweit Unterhalt zahlen, als er das ohne
Gefährdung seines eigenen angemessenen Bedarfs kann. Da sich die Umstände für die
Bemessung des eigenen Bedarfs der Beklagten im Laufe des streitigen Zeitraums
verschiedentlich geändert haben, ergeben sich nach Zeitabschnitten wechselnde
Ansprüche wie folgt:
35
1.2.1 Ansprüche für die Zeit von Juni 1999 bis Februar 2000:
36
a)
37
Die Parteien gehen übereinstimmend von einem Gesamteinkommen der Beklagten in
Höhe von 3.043,48 DM aus.
38
b)
39
Das Amtsgericht hat davon zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit die Monatsbeiträge für
folgende Versicherungen vorweg abgesetzt:
40
Lebensversicherung 93,60 DM
41
Krankenhaustagegeldversicherung 12,76 DM
42
Hausratsversicherung 10,76 DM
43
Unfallversicherung 4,98 DM
44
Haftpflichtversicherung 8,98 DM
45
Die Abzugsfähigkeit der Lebensversicherung ist unstreitig, während die übrigen
Versicherungsbeiträge entsprechend dem Vortrag des Klägers unberücksichtigt bleiben
müssen. Zwar stellen auch diese eine sinnvolle Daseinsvorsorge dar, sind aber so
gering, dass sie nicht vorweg abzuziehen, sondern aus dem Selbstbehalt aufzubringen
sind.
46
c)
47
Der Kläger hat unstreitig gestellt, dass die Beklagte aus gesundheitlichen Gründen einer
Haushaltshilfe bedarf und dafür bis Februar 2000 monatlich 120,- DM und ab März 2000
48
monatlich 224,- DM aufzuwenden hatte. Diese Beträge sind daher bei der Ermittlung
des angemessenen Bedarfs gesondert zu berücksichtigen.
d)
49
Unstreitig ist auch, dass die von der Beklagten aufzuwendenden Mietkosten die in dem
Selbstbehalt enthaltenen Warmmietkosten von 800,- DM um 29,45 DM übersteigen.
Diese Mehrkosten sind daher zusätzlich abzusetzen.
50
e)
51
Streitig ist zwischen den Parteien, welcher Betrag der Beklagten neben den erörterten
Mehrkosten als angemessener Selbstbehalt im Sinne von § 1603 Abs. 1 BGB
verbleiben muss.
52
Nach den Hammer Leitlinien wird der angemessene Selbstbehalt der Eltern gegenüber
volljährigen Kindern mit 1.800,- DM bemessen ,während der Selbstbehalt von Kindern
bei Inanspruchnahme durch ihre Eltern mit 2.250,- DM bemessen wird (Ziffern 20, 49
HLL).
53
Die Argumentation, der Selbstbehalt, den die Beklagte beanspruchen könne, müsse so
wie der Selbstbehalt gegenüber einem erwachsenen, in einer Ausbildung stehenden
Kind bemessen werden, übersieht die Unterschiedlichkeit der Fälle. Die Tochter M hatte
spätestens 1985 ihren Anspruch auf Ausbildungsunterhalt verloren und sich durch
Erwerbstätigkeit eine selbständige Lebensstellung aufgebaut. Das war eine
maßgebliche Zäsur; gegenüber dem jetzt erneut entstandenen Unterhaltsanspruch ist
der Selbstbehalt daher großzügiger zu bemessen.
54
Andererseits hält der Senat aber nicht für gerechtfertigt, den Selbstbehalt so zu
bemessen, wie er Kindern zugebilligt wird, die ihre bedürftig gewordenen Eltern
unterhalten sollen. Kinder müssen ihre Lebensstellung in der Regel noch erarbeiten und
haben daher einen höheren Eigenbedarf.
55
Dem Senat erscheint daher gerechtfertigt, den Selbstbehalt der Beklagten mit einem
zwischen 1.800,- DM und 2.250,- DM liegenden Betrag von 2.000,- DM anzusetzen.
56
f)
57
Dann ergibt sich als für Unterhaltszwecke verfügbares Einkommen:
58
Gesamteinkünfte 3.043,48 DM
59
./. angemessener Selbstbehalt 2.000,00 DM
60
./. Zahlungen auf die LV 93,60 DM
61
./. Kosten der Haushaltshilfe 120,00 DM
62
./. Mehrkosten Wohnung 29,45 DM
63
verbleiben 800,43 DM
64
Nur in dieser Höhe kommt also überhaupt eine Unterhaltszahlung an die Tochter in
Betracht.
65
1.2.2 Ansprüche für die Zeit von März bis September 2000:
66
Die Leistungsfähigkeit sinkt, weil die für die Haushaltshilfe abzusetzenden Kosten von
monatlich 120,- DM auf 224,- DM steigen. Es ist wie folgt zu rechnen:
67
Gesamteinkünfte 3.043,48 DM
68
./. Selbstbehalt 2.000,00 DM
69
./. Zahlungen auf die LV 93,60 DM
70
./. Haushaltshilfe 224,00 DM
71
./. Mehrkosten Wohnung 29,45 DM
72
verbleiben 696,43 DM
73
Zahlungen an die Tochter kommen also nur noch in Höhe von - abgerundet - 696,- DM
in Betracht.
74
1.2.3 Ansprüche für die Zeit von Oktober 2000 bis Juni 2001:
75
Die Beklagte ist in eine teurere Wohnung gezogen; die Kosten übersteigen die im
Selbstbehalt enthaltene Warmmiete von 800,- DM nunmehr um 216,- DM, die als
Mehrkosten zusätzlich abzugsfähig sind. Das für Unterhaltszwecke verfügbare
Einkommen sinkt also weiter:
76
Gesamteinkünfte 3.043,48 DM
77
./. Selbstbehalt 2.000,00 DM
78
./. Zahlungen auf die LV 93,60 DM
79
./. Haushaltshilfe 224,00 DM
80
./. Mehrkosten Wohnung 216,00 DM
81
verbleiben 509,88 DM
82
Die Leistungsfähigkeit sinkt also auf 510,- DM.
83
1.2.4 Ansprüche für die Zeit ab Juli 2001:
84
Die Hammer Leitlinien sind für die Zeit ab dem 01.07.2001 neu gefasst und angepasst
worden. Der Selbstbehalt der Eltern gegenüber dem volljährigen Kind ist auf 1.960,- DM
angehoben worden, der Selbstbehalt von Kindern gegenüber Eltern auf 2.450,- DM.
Dem gemäß ist auch der Selbstbehalt der Beklagten um denselben Prozentsatz von
85
etwa 8,8 % zu erhöhen. Dann ergibt sich ein Betrag von etwa 2.180,- DM.
Der Betrag, den die Beklaget ohne Gefährdung ihres eigenen Bedarfs aufbringen kann,
sinkt von 510,- DM auf 330,- DM.
86
2. Billigkeitsprüfung:
87
Da die Tochter der Beklagten durch eigenes sittliches Verschulden bedürftig geworden
ist, braucht die Mutter gemäß § 1611 BGB nur einen billigen Beitrag zu ihrem Unterhalt
zu leisten. Ein gänzlicher Ausschluss kommt hingegen nicht in Betracht.
88
2.1
89
Bei einem sittlichen Verschulden handelt es sich nach der Definition der
Rechtsprechung um eine Vorwerfbarkeit von erheblichem Gewicht. Es liegt vor, wenn
das Verhalten, das die Bedürftigkeit herbeigeführt hat, sittliche Missbilligung verdient.
Der Bedürftige muss in vorwerfbarer Weise anerkannte Gebote der Sittlichkeit außer
acht gelassen haben (BGH FamRZ 85, S. 275).
90
a)
91
Der Kläger meint, § 1611 BGB sei nicht anwendbar, weil die Bedürftigkeit der Tochter
auf deren Krankheit beruhe und nicht durch ein sittlich missbilligenswertes Verhalten
herbeigeführt sei. Das ist aber eine verkürzte Betrachtung. Vielmehr ist an die
Lebensführung bis zur Krankheit anzuknüpfen und zu fragen, inwieweit die Bedürftigkeit
darauf beruht.
92
b)
93
Das Amtsgericht hat gemeint, es sei kein Verstoß gegen Gebote der Sittlichkeit, wenn
man anders lebe und auf die allgemein übliche, auf Vorsorge gegen Risiken bedachte
Lebensführung verzichte. Der Senat sieht das anders. Das Verhalten der Tochter
verstieß gegen die Gebote der Sittlichkeit, weil sie Risiken auf Kosten der Eltern in Kauf
nahm.
94
Sittliches, dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entsprechendes Verhalten ist eine
Frage des Gebens und Nehmens. Rechten stehen Pflichten gegenüber. Wer von seinen
Eltern die Finanzierung einer Ausbildung verlangt, muss seine so erworbene
Qualifikation dann auch entsprechend einsetzen. Früher konnten Eltern von ihren
Kindern, deren Ausbildung sie ermöglicht hatten, Unterstützung in ihrem Alter
95
erwarten. Auch wenn dieser "Generationenvertrag" heute in den sozialen
Sicherungssystemen aufgegangen ist, bleibt es ein Gebot der Sittlichkeit, dass die
Kinder ihre Ausbildung wenigstens zu einer Absicherung gegen eigene Berufs- oder
Erwerbsunfähigkeit nutzen, um den Eltern nicht später erneut zur Last zu fallen.
96
Natürlich ist jedem freigestellt, wie er sein Leben gestaltet. Wer Risiken eingehen will,
kann das tun, aber nicht auf Kosten der Eltern. Wer dennoch so handelt, verdient
sittliche Missbilligung.
97
Gegen das dargestellte Gebot sittlichen Handelns hat die Tochter der Beklagten
98
verstoßen. Zwar ist nicht vorwerfbar, dass sie nach abgeschlossener Ausbildung als
Fotogravurzeichnerin noch das Fachabitur machte und ein Studium anschloss. Damit
waren die Eltern ausdrücklich einverstanden und haben diese Ausbildung auch
finanziert. Sie hätte das Studium aber zügig zu Ende führen müssen. Wenn ihr das, aus
welchen Gründen auch immer, nicht möglich war, musste sie aufhören. Die offenbar
ziellose Fortführung des Studiums war nicht nur die Überbeanspruchung einer
öffentlichen Einrichtung, sondern auch der Verstoß gegen das Gebot, einen
aussichtslosen Weg abzubrechen und sich durch Ausübung des schon erlernten Berufs
wirtschaftlich unabhängig und leistungsfähig zu machen. Spätestens mit der Einstellung
der Zahlungen Ende 1985 hatten die Eltern der Tochter genau das deutlich zu
verstehen gegeben.
Die Tochter hat zwar nach 1985 ihren Lebensunterhalt selbst bestritten, aber durch die
ziellose Fortführung des Studiums missbräuchlich die Voraussetzungen geschaffen,
weiter ohne soziale Absicherung in der Rentenversicherung arbeiten zu können und so
mit weniger Aufwand hinreichende Mittel für den eigenen Lebensunterhalt zur
Verfügung zu haben. Der angebliche Vorbehalt, später Rentenversicherungsbeiträge
nachzuzahlen, lässt dieses Verhalten nicht in milderem Licht erscheinen. Es war
vielmehr das bewusste Eingehen eines unnötigen Risikos und ist deshalb als sittliches
Verschulden im Sinne von § 1611 BGB zu werten.
99
c)
100
Die jetzige Bedürftigkeit beruht auch auf dem aufgezeigten Verschulden, denn die
Tochter könnte heute ihren Lebensunterhalt decken, wenn sie auf die durch die
Einstellung der Zahlungen deutlich gewordene Missbilligung der Eltern reagiert und
Anfang 1986 eine versicherungspflichtige Arbeit aufgenommen hätte. Sie wäre zwar
auch dann Anfang 1995 erkrankt, hätte aber Krankengeld bezogen und wäre bis zur
endgültigen Feststellung der Erwerbsunfähigkeit weiter sozialversichert gewesen. Da
sich die Erwerbsunfähigkeit erst 1987 nach der erfolglosen zweijährigen Rehabilitation
herausgestellt hat, wären jedenfalls von 1986 bis 1997 Beiträge in die
Rentenversicherung gezahlt worden, insgesamt rund 144 Beiträge.
101
Damit wäre die fünfjährige Wartezeit für die Inanspruchnahme einer Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 SGB VI erfüllt gewesen.
102
Der Kläger hat nicht bestritten, dass die so erworbene Rente zur Deckung des
Lebensbedarfs der Tochter ausgereicht hätte.
103
d)
104
Dafür, dass die Tochter wegen der späteren psychischen Erkrankung nicht vorwerfbar
gehandelt habe, ist nichts ersichtlich.
105
2.2
106
Regelfolge der verschuldeten Bedürftigkeit ist die Beschränkung des Unterhalts auf
einen billigen Beitrag zum Unterhalt. Ein Ausschluss erfolgt nur, wenn die Zahlung grob
unbillig wäre. Anhaltspunkte für eine grobe Unbilligkeit sind weder vorgetragen noch
sonst ersichtlich.
107
Also kommt nur eine Beschränkung der oben errechneten Ansprüche in Betracht. Für
die Zeit bis September 2000, in der das für Unterhaltszwecke verfügbare Einkommen
zwischen 800,- und 700,- DM gelegen hat, hält der Senat einen Unterhaltsbeitrag von
300,- DM für billig, in der Zeit danach wegen des weiteren Absinkens der
Leistungsfähigkeit einen Beitrag von monatlich 200,- DM.
108
3.
109
Für die Zeit von Juni 1999 bis Juli 2000 ergibt sich ein zu zahlender Rückstand von
4.200,- DM (14 * 300,- DM). Mit der Zahlung dieses Rückstands ist die Beklagte durch
die endgültige Zahlungsverweigerung im Schreiben vom 19.07.2000 in Verzug geraten.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 284, 288 BGB.
110
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 97, 92 ZPO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 708 Ziffer 10 ZPO.
111