Urteil des OLG Hamm vom 03.03.2005

OLG Hamm: fahrverbot, freies ermessen, berufliche tätigkeit, gefährdung, geschwindigkeitsüberschreitung, urlaub, höchstgeschwindigkeit, messgerät, angemessenheit, ordnungswidrigkeit

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss OWi 817/04
03.03.2005
Oberlandesgericht Hamm
2. Senat für Bußgeldsachen
Beschluss
2 Ss OWi 817/04
Amtsgericht Herne-Wanne, 11 OWi 600 Js 603/04 (267/04)
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über
die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht
Herne-Wanne zurückverwiesen.
G r ü n d e:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen "wegen einer fahrlässig begangenen
Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 II, 49 StVO in Verbindung mit §§ 24, 25 StVG
kostenpflichtig zu einer Geldbuße in Höhe von 150 EURO verurteilt" und außerdem ein
Fahrverbot von einem Monat verhängt. Dazu hat es folgende tatsächliche Feststellungen
getroffen:
"Am 18.02.2044 gegen 10.25 Uhr befuhr der Betroffene seinem Pkw, Fabrikat Ford, mit
dem amtlichen Kennzeichen ##-## ## die BAB ##, Fahrtrichtung E, in I. Zu dieser Zeit
führten Beamte der Autobahnpolizei N bei KM 42,35 mit dem Messgerät MU VR 6 F der
Firma S, das bis zum 31.12.2005 geeicht war, eine gezielte Geschwindigkeitsüberwachung
über die Einhaltung der an dieser Stelle durch Verkehrszeichen 274 (mit Zusatz: "werktags
von 6 bis 19 Uhr") angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h durch.
Dabei wurde der von dem Betroffenen gesteuerte Pkw mit einer Geschwindigkeit von 154
km/h, nach Abzug der Messwerttoleranz, gemessen.
Der Betroffene hat die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht in Abrede gestellt.
Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen das Regelfahrverbot und die Regelgeldbuße
festgesetzt. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Betroffene insbesondere gegen
die Festsetzung des Fahrverbots. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die
Rechtsbeschwerde zu verwerfen.
II.
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Die zulässige Rechtsbeschwerde hat - zumindest vorläufig - teilweise Erfolg.
1.
Soweit der Betroffene die formelle Rüge erhoben hat, war diese allerdings unzulässig, das
sie nicht ausreichend im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO begründet worden ist.
2.
Die Sachrüge hat hingegen Erfolg.
a) Die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen allerdings die
Verurteilung wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit gemäß den §§ 41 Abs. 2 (Zeichen 274.1), 49 StVO, 24 StVG. Es ist
nicht zu beanstanden, dass das angefochtene Urteil sich hinsichtlich der Feststellungen zur
Geschwindigkeitsmessung darauf beschränkt mitzuteilen, dass die
Geschwindigkeitsmessung mit einem Messgerät MU VR 6 F durchgeführt worden ist. Bei
dieser Art der Geschwindigkeitsmessung handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung
aller Bußgeldsenate des OLG Hamm um ein sog. standardisiertes Messverfahren. Damit
sind, wenn - wie hier - keine Besonderheiten vorliegen, die vom Amtsgericht gemachten
Angaben ausreichend (vgl. OLG Hamm NStZ 1990, 546; Beschluss des Senats vom 20.
Januar 1999, 2 Ss OWi 1/99 = NZV 1999, 215 = VRS 96, 382 sowie Beschluss des Senats
vom 24. Juni 1999 - 2 Ss OWi 509/99 = NStZ-RR 1999, 374 = VRS 97, 449 = NZV 2000, 9;
Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 3 StVO Rn. 59 m.w.N.). Der Betroffene hat
zudem auch weder die Geschwindigkeitsüberschreitung an sich noch deren Höhe
bestritten (vgl. insoweit Senat VRS 96, 458 = NZV 1999, 391). Damit ist die Beschränkung
der Rechtsbeschwerde auf die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs wirksam. Es ist
im Übrigen zu beanstanden, dass das Amtsgericht einen konkreten Toleranzwert nicht
genannt hat. Der Senat hat bereits früher darauf hingewiesen, dass bei einer Verurteilung
wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Angabe des Toleranzabzugs jedenfalls
dann entbehrlich ist, wenn sich aus sonstigen Umständen ergibt, dass es sich bei der vom
Amtsgericht der Verurteilung zugrunde gelegten Geschwindigkeit bereits um die um einen
Toleranzabzug verminderte Geschwindigkeit handelt (vgl. Senat in VA 2004, 137 (Ls.) =
DAR 2004, 464 = ZAP EN-Nr. 572/2004 = VRS 107, 114). Dem wird das angefochtene
Urteil gerecht, da es mitteilt, dass es sich bei der der Verurteilung zugrunde gelegten
Geschwindigkeit um die "nach Abzug der Messwerttoleranz" ermittelte handelt. Es kann
daher dahinstehen, ob es der Angabe des Toleranzwertes möglicherweise überhaupt nicht
mehr bedarf (so 3. Senat für Bußgeldsachen im Beschluss vom 18. März 2004, 3 Ss OWi
11/04, http://www.burhoff.de).
Die Rechtsbeschwerde hinsichtlich des Schuldspruchs war daher zu verwerfen.
2.
a) Die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs lässt jedoch einen Rechtsfehler
erkennen, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit und zur
Zurückverweisung führt. Die vom Amtsgericht dazu bislang getroffenen Feststellungen sind
nämlich lückenhaft und rechtfertigen (noch) nicht die Anordnung des verhängten
Fahrverbots.
Das Amtsgericht hat die Verhängung des Fahrverbotes gegen den Betroffenen, der
angestellter Außendienstmitarbeiter ist, bislang wie folgt begründet:
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"Den Betroffenen trifft die Verhängung des Fahrverbotes nicht als eine erhebliche Härte.
Eine drohende Gefährdung der beruflichen Existenz konnte nicht festgestellt werden.
Aufgrund der dem Betroffenen zugebilligten Möglichkeit, das Fahrverbot binnen vier
Monaten nach Eintritt der Rechtskraft zu verbüßen, ist es ihm möglich, etwaige
Auswirkungen auf seine berufliche Tätigkeit durch die Inanspruchnahme eines Teils des
Jahresurlaubs von insgesamt 30 Tagen für das Jahr 2005 abzumildern.
Der weitere Umstand, dass der Betroffene als sogenannter Vielfahrer in
überdurchschnittlichem Umfang am Straßenverkehr teilgenommen hat, rechtfertigt keine
andere Beurteilung, denn gerade für einen erfahrenen Verkehrsteilnehmer ist zum einen
wegen der vom Gesetzgeber vorgenommenen Konkretisierung in der BKatV, nach der für
bestimmte Verstöße regelmäßig die Verhängung eines Fahrverbotes vorgesehen ist, und
zum anderen aufgrund der durch hohe Fahrpraxis gewonnenen Erfahrung die Verhängung
eines Fahrverbotes vorhersehbar und berechenbar geworden (OLG Hamm, NZV 2003,
103, 104)."
Diese Feststellungen sind lückenhaft (§ 267 StPO). Sie ermöglichen es dem Senat nicht zu
überprüfen, ob die vom Amtsgericht getroffene Fahrverbotsentscheidung zutreffend ist oder
nicht. Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete
Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines
Fahrverbotes abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter
(vgl. BGH NZV 1992, 286, 288). Dem Tatrichter ist jedoch insoweit kein rechtlich
ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf Vorliegen von Ermessensfehlern
hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist, sondern der dem Tatrichter
verbleibende Entscheidungsspielraum ist durch gesetzlich niedergelegte und von der
Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insoweit
hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der
Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der
Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalls oder Regelfalls, zu der auch die
Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbotes
nach der Bußgeldkatalogverordnung zu zählen ist (vgl. 3. Senat für Bußgeldsachen JMBl.
1996, 246; zuletzt in VA 2004, 173). Zwar ist die Entscheidung des Tatrichters vom
Rechtsbeschwerdegericht im Zweifel "bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (vgl.
u.a. Senat in zfs 1996, 35 = DAR 1996, 68 = VRS 91, 138 sowie in VRS 92, 40, jeweils mit
weiteren Nachweisen). Der Tatrichter muss jedoch - nach ebenfalls übereinstimmender
Rechtsprechung der Obergerichte und, wie auch der Senat bereits wiederholt entschieden
hat (vgl. u.a. Senat in VRS 95, 138), - für seine Entscheidung eine eingehende, auf
Tatsachen gestützte Begründung geben.
Dem wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Das Amtsgericht teilt lediglich mit,
dass eine drohende Gefährdung der beruflichen Existenz nicht festgestellt werden konnte.
Es ist zwar in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass der Betroffene
berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge eines angeordneten Fahrverbotes
regelmäßig hinzunehmen hat. Derartige Nachteile rechtfertigen daher kein Absehen von
der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern grundsätzlich nur erhebliche Härten,
wie z.B. ein drohender Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust einer sonstigen
wirtschaftlichen Existenzgrundlage (vgl. OLG Hamm VRS 90, 210; DAR 1996, 325; NZV
1995, 366). Dass die Verhängung eines Fahrverbotes vorliegend nicht mit derartig
schwerwiegenden Folgen für den Betroffenen verbunden ist, lässt sich den
amtsgerichtlichen Feststellungen gerade nicht entnehmen, Es wird lediglich eine
"drohende Gefährdung der beruflichen Existenz" verneint, ohne näher darzulegen, worin
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diese Gefährdung ggf. besteht bzw. bestehen könnte.
Soweit das Amtsgericht die "Gefährdung der beruflichen Existenz" offenbar auch mit dem
Hinweis auf § 25 Abs. 2 a StVG verneinen will, sind auch insoweit nicht ausreichende
Feststellungen getroffen worden. Zwar hat der Senat in der Vergangenheit bereits darauf
hingewiesen, dass ein Absehen vom Fahrverbot dann nicht in Betracht kommt, wenn der
Betroffene einen ggf. drohenden Arbeitsplatzverlust mit zumutbaren Mitteln abwenden
kann. Das ist z.B. dann bejaht worden, wenn er die Möglichkeit hat, während der
Vollstreckung des Fahrverbots Urlaub zu nehmen (vgl. u.a. OLG Hamm NZV 1996, 118,
119), wobei die Vorschrift des § 25 a StVG von erheblicher Bedeutung ist. Allerdings kann
der Betroffene, worauf der Senat bereits ebenfalls hingewiesen hat, nur dann auf die
Möglichkeit des Urlaubs verwiesen werden kann, wenn feststeht, dass er tatsächlich noch
über einen ausreichend langen Jahresurlaub verfügt, den er innerhalb der Frist des § 25 a
Abs. 2 StVG auch "an einem Stück" abwickeln kann (OLG Hamm DAR 1999, 417 (Ls.) =
NStZ-RR 1999, 313 = VRS 97, 272 = NZV 2000, 96). Das lässt sich dem angefochtenen
Urteil nicht entnehmen. Es spricht nur pauschal von einem Teil des Jahresurlaubs, der in
Anspruch genommen werden kann.
III.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes zusätzlich hin:
Für die neue Fahrverbotsentscheidung wird zu beachten sein, dass der Betroffene sich bei
seiner Urlaubsplanung grundsätzlich auf die Möglichkeit der Verhängung des Fahrverbots
wird einrichten müssen (vgl. z.B. OLG Köln VRS 88, 392), und zwar spätestens ab
Zustellung des Bußgeldbescheides, in dem ein Fahrverbot angeordnet wird. Allerdings
muss das Fahrverbot ebenso wie die daraus resultierenden Folgen für den Betroffenen
noch verhältnismäßig sein (vgl. dazu nur BVerfG NJW 1996, 2284). Das bedeutet, dass der
Betroffene ggf. auf Wünsche seines Arbeitgebers hinsichtlich seiner Urlaubsplanung
Rücksicht nehmen muss und seinen Urlaub nicht frei gestalten und wählen kann.
Der Senat hat auch in der Vergangenheit bereits darauf hingewiesen, dass von einem
Fahrverbot dann abgesehen werden kann, wenn feststeht, dass die mit dem Fahrverbot
gewünschte Erziehungswirkung auch mit einer empfindlicheren Geldbuße erreicht werden
kann und ein Fahrverbot nicht erforderlich ist, um ich zu verkehrsgerechtem Verhalten
anzuhalten. Soweit ersichtlich wird von den Oberlandesgerichten bislang – wohl
angesichts der erheblich gewachsenen Verkehrsdichte und da es sich bei den
Katalogtaten um besonders schwere Verstöße handelt - die Erforderlichkeit des
Fahrverbots in der Regel zwar meist nicht verneint. Der Senat weist aber nochmals
daraufhin, dass die Höchstgrenzen für Bußgelder inzwischen verdoppelt worden sind und
nach §§ 17 Abs. 1 und 2 OWiG bei Vorsatz jetzt 1000 € und bei Fahrlässigkeit 500 €
betragen. Zumindest der normale Durchschnittsverdiener mit entsprechenden
Unterhaltspflichten dürfte durch die Ausschöpfung der neuen Höchstsätze mehr als in der
Vergangenheit auch ohne Fahrverbot von der erneuten Begehung vergleichbarer Verstöße
abzuhalten sein (so auch Deutscher NZV 1999, 113; vgl. dazu auch schon OLG Hamm VA
2001, 151 = NZV 2001, 436 = DAR 2001, 519 = VRS 101, 212 = zfs 2001, 567).
IV.
Nach allem sind damit weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen, so dass das
angefochtene Urteil - wegen der Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße – im
Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen war.