Urteil des OLG Hamm vom 06.02.2003

OLG Hamm: geschwindigkeit, bus, unfall, fahrstreifen, schmerzensgeld, betriebsgefahr, reparaturkosten, wiederbeschaffungswert, fahrzeug, heimatort

Oberlandesgericht Hamm, 6 U 190/02
Datum:
06.02.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 U 190/02
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 2 O 253/02
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung des
weitergehenden Rechtsmittels - das am 11.09.2002 verkündete Urteil
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn teilweise abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, über den erstinstanzlich zuerkannten
Betrag hinaus als Gesamtschuldner an den Kläger weitere 455,73 Euro
nebst 5 % Zinsen über den Basiszinsssatz seit dem 13.06.2002 zu
zahlen.
Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 1/9 und die Beklagten
zu 8/9.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
1
Die Berufung hat nur zu einem geringen Teil Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet.
2
Gemäß §§ 7, 17 StVG, 823 BGB, 3 Nr. 1 PflVG haben die Beklagten dem Kläger wegen
des Autobahnunfalls vom 24.09.2001 auf der Grundlage einer Haftungsquote von 70 %
Schadensersatz zu leisten, weil der Beklagte zu 1) mit dem bei der Beklagten zu 2)
versicherten Bus unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO den Fahrstreifen von
rechts nach links gewechselt hat, ohne genügend auf den Pkw Audi A 4 des Klägers zu
achten, der sich auf dem Überholfahrstreifen mit ca. 200 km/h näherte. Wegen der
hohen Betriebsgefahr seines Fahrzeugs muß der Kläger 30 % seines Schadens selbst
tragen.
3
1.1
4
Der Senat hat in seiner Entscheidung gemäß § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO die vom
Landgericht festgestellten Tatsachen zugrundegelegt, denn es gibt keinen konkreten
Anhaltspunkt für Zweifel daran, daß die hohe Überschreitung der Autobahn-
Richtgeschwindigkeit für den Unfall ursächlich geworden ist.
5
Den ihm obliegenden Nachweis, daß es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h
zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre, vermag der Kläger
durch Einholung eines verkehrsanalytischen Gutachtens, auf welches er sich zum
Beweise beruft, nicht zu führen. Als für den Kläger die Gefahr erkennbar wurde – dieser
Zeitpunkt ist maßgeblich -, ist es ihm immerhin noch gelungen, vom linken über den
rechten Fahrstreifen bis auf den rechten Seitenstreifen hinüberzuwechseln, wo er dann
vor dem Bus der Beklagten gegen einen dort aufgestellten mit einem Verkehrszeichen
bestückten Sicherungswagen geprallt ist. Unter diesen Umständen spricht alles dafür,
daß bei Einhaltung von 130 km/h angesichts der dann relativ geringen
Geschwindigkeitsdifferenz – der Bus fuhr nach den polizeilichen Feststellungen ca. 100
km/h – schon eine Angleichungsbremsung (eventuell in Verbindung mit einem
geringfügigen kontrollierten Ausweichen) zur Vermeidung des Unfalls ausgereicht hätte.
Es lassen sich jedenfalls keine gesicherten Anhaltspunkte feststellen, auf deren
Grundlage mit Hilfe einer Verkehrsanalyse nachgewiesen werden könnte, daß es
gleichwohl zu einem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre. Denn
zum Abstand der Fahrzeuge im Zeitpunkt des Erkennbarwerdens der Gefahr gibt es
keine gesicherten Erkenntnisse. Fest steht insoweit nur, daß er jedenfalls mindestens so
groß war, daß der Kläger noch hinter dem Bus vom linken Fahrstreifen nach rechts auf
den Seitenstreifen wechseln konnte. Eine Situation wie diejenige, welche etwa der
Entscheidung des OLG Frankfurt vom 12.01.1994 (OLGR 94, 87) zugrunde lag, läßt sich
danach nicht feststellen.
6
1.2
7
Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß eine derart hohe Überschreitung der
Richtgeschwindigkeit wie hier regelmäßig zur Anspruchskürzung gemäß § 17 StVG
führt (vgl. BGH DAR 92, 275 = VersR 92, 714; Senat OLGR 95, 5; Senat MDR 00, 518;
OLG Hamm – 13. ZS – OLGR 94, 27; OLG Köln OLGR 91, 64), wenn nicht der Kläger
den Nachweis führt, daß auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit der Unfall mit
vergleichbar schweren Folgen vermieden worden wäre.
8
Hier lag die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit durch den Kläger höher als in den
meisten der einschlägigen veröffentlichten Entscheidungen, und es ist bekannt, daß bei
höherer Geschwindigkeit der Bremsweg sich nicht linear, sondern exponentiell
verlängert. Infolgedessen verringert sich die Beherrschbarkeit in Gefahrensituationen,
die sonst leicht zu meistern wären, umso mehr, je mehr die Richtgeschwindigkeit
überschritten wird. Auf der anderen Seite wird das Gewicht des Verursachungsanteils
des vorausfahrenden Fahrstreifenwechslers geringer, weil bei extrem hoher
Geschwindigkeit des aufschließenden Fahrzeugs eine Fehleinschätzung durch den
Vorausfahrenden wahrscheinlicher wird.
9
Der überwiegende Verantwortungsanteil fällt jedoch bei der Abwägung gemäß § 17
StVG der Beklagtenseite zur Last, denn der Beklagte zu 1) hat sich entgegen § 7 Abs. 5
Satz 1 StVO beim Fahrstreifenwechsel nicht so verhalten, daß eine Gefährdung anderer
ausgeschlossen war; er hatte die äußerste Sorgfalt einzuhalten. Bei der gebotenen
genauen Beobachtung hätte es ihm auffallen müssen, daß sich der Kläger mit hoher
10
Überschußgeschwindigkeit näherte, und er hätte deswegen seinen Fahrstreifenwechsel
zurückstellen müssen. Neben seinem Verschulden fällt auch die gegenüber einem Pkw
erhöhte Betriebsgefahr des Busses ins Gewicht, der es durch seine Breite für den
Kläger schwieriger gestaltete, den drohenden Auffahrunfall durch ein kontrolliertes
Ausweichen zu vermeiden. Unter Abwägung aller Umstände erschien es deswegen
dem Senat die vom Landgericht angesetzte Mitverantwortungsquote von 40 % zu hoch.
Er hat sie deswegen auf 30 % reduziert.
2.
11
Beim Schmerzensgeld (§ 847 BGB) hat sich der Senat unter Würdigung von Ausmaß
und Dauer der unfallbedingten Beschwerden ähnlich wie das Landgericht an einem
Ausgangs- oder Vergleichsbetrag (für den Fall voller Haftung) von 500,00 Euro
12
orientiert und im Hinblick auf den Mitverantwortungsanteil
13
des Klägers das ihm zustehende Schmerzensgeld mit 350,00 Euro
14
bemessen. Da hierauf vorprozessual 310,00 Euro
15
gezahlt worden sind, schulden die Beklagten dem Kläger
16
hier weitere 40,00 Euro.
17
3.
18
Zu den geltend gemachten Positionen des materiellen Schadens gilt folgendes:
19
3.1
20
Der Nutzungsausfallschaden ist vom Landgericht im Ausgangsbetrag zutreffend mit
916,24 Euro bemessen worden. Daß für die Wiederbeschaffung eine längere als die
vom Landgericht zugrundegelegte übliche Wiederbeschaffungsdauer von 14
Kalendertagen erforderlich gewesen sei, läßt sich nicht feststellen. Das
Schadensgutachten enthält keine Angaben. Welche Bemühungen der Kläger für die
Wiederbeschaffung eines gleichwertigen Gebrauchtfahrzeugs unternommen hat, und
weswegen sie ggf. erfolglos geblieben sind, ist nicht dargelegt. Der Schadensumfang
legte von Anfang an nahe, daß eine Reparatur unwirtschaftlich sein würde. Das ist
letztlich durch das Schadensgutachten, nach welchem die Reparaturkosten den
Wiederbeschaffungswert um mehr als 40 % überstiegen, bestätigt worden. Es hätte
daher dem Kläger oblegen, sich alsbald um eine Wiederbeschaffung zu bemühen. Es
handelte sich auch nicht um ein ausgefallenes Fahrzeug, so daß deswegen mit einer
längeren Wiederbeschaffungsdauer zu rechnen gewesen wäre.
21
3.2
22
Die Unterstellkosten sind durch die Rechnung der Firma L vom 19.11.2001 (Bl. 29 d.A.)
belegt. Es war aber nicht erforderlich, Unterstellkosten für 57 Tage anfallen zu lassen.
Die Entfernung zwischen dem Unfallort und dem süddeutschen Heimatort des Klägers
und seine unfallbedingte gesundheitliche Beeinträchtigung mögen zwar die
Veräußerung des Fahrzeugwracks erschwert haben. Mehr als eine Woche kann dem
23
Kläger hierfür aber nicht zugebilligt werden (§ 287 ZPO). Pro Tag sind ihm 18,50 DM
netto in Rechnung gestellt worden, so daß für sieben Tage inkl. Mehrwertsteuer
150,22 DM = 76,80 Euro
als ersatzfähig anzusetzen sind.
24
3.3
25
Auf die Begründung, mit der das Landgericht dem
26
Kläger die geltend gemachte Schadensposition
27
"Kosten Straßenbau" aberkannt hat, nimmt der Senat
28
Bezug; sie ist mit der Berufung nicht angegriffen worden.
29
3.4
30
Die Aufstellung des ersatzfähigen materiellen Gesamt-
31
schadens im angegriffenen Urteil, die mit 1.323,65 Euro
32
abschließt, erhöht sich demgemäß lediglich um die
33
o.a. Unterstellkosten auf 1.400,45 Euro.
34
Entsprechend ihrer Haftungsquote von 70 % haben die
35
Beklagten davon 980,32 Euro
36
zu ersetzen. Zusammen mit dem o.a. restlichen Schmerzens-
37
geld von 40,00 Euro
38
stehen also dem Kläger noch 1.020,32 Euro
39
zu, über die vom Landgericht zuerkannten 564,59 Euro
40
hinaus also weitere 455,73 Euro.
41
4.
42
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) bestehen nicht. Die
prozessuallen Nebenentscheidungen im übrigen beruhen auf §§ 92, 100, 708 Nr. 10,
713 ZPO.
43