Urteil des OLG Hamm vom 13.06.2005

OLG Hamm: fahrverbot, freies ermessen, beschränkung, gefährdung, subjektiv, geschwindigkeitsüberschreitung, härte, urlaub, vollstreckung, sachprüfung

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss OWi 285/05
Datum:
13.06.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss OWi 285/05
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtfolgenausspruch mit den
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Anordnung des Fahrverbotes entfällt.
Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde verworfen.
Der Betroffene trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Jedoch wird die Gebühr für das Rechtsbeschwerdeverfahren um 2/3
ermäßigt. 2/3 der dem Betroffenen in der Rechtsbeschwerdeinstanz
entstandenen notwendigen Auslagen werden der Landeskasse
auferlegt.
Gründe: I. Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäß den §§ 41 Abs. 1, 49
StVO, 24, 25 StVG zu einer Geldbuße von 100 EURO verurteilt und außerdem ein
Fahrverbot von einem Monat verhängt. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des
Betroffenen, die er auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat. Die
Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Anordnung des Fahrverbotes entfallen zu
lassen und die Rechtsbeschwerde im Übrigen nach § 349 Abs. 2 StPO in Verbindung
mit § 79 Abs. 3 OWiG zu verwerfen.
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II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, und hat in der Sache auch teilweise Erfolg.
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1. Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch ist
wirksam. Nach allgemeiner Meinung, die der aller Senate für Bußgeldsachen des OLG
Hamm entspricht, kann die Rechtsbeschwerde ebenso wie die Revision auf
abtrennbare Teile beschränkt werden (Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 79 OWiG Rn. 32 mit
weiteren Nachweisen). Insoweit gelten die im Strafverfahren für die Beschränkung der
Berufung oder Revision auf das Strafmaß geltenden Grundsätze entsprechend (vgl.
dazu Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, § 318 StPO Rn. 16 ff. mit zahlreichen
weiteren Nachweisen). Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde ist danach nur
wirksam, wenn in der tatrichterlichen Entscheidung hinreichende Feststellungen für die
vom Rechtsbeschwerdegericht zu treffende Entscheidung über die Rechtsfolgen
getroffen werden (Göhler, a.a.O., mit weiteren Nachweisen). Dem werden die
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tatrichterlichen Feststellungen gerecht. Sie tragen die Verurteilung wegen einer
fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts.
2. Der Rechtsfolgenausspruch der amtsgerichtlichen Entscheidung kann jedoch
teilweise keinen Bestand haben. Die Verhängung des Fahrverbotes war - entsprechend
dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft- aufzuheben. Im Übrigen war die
Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 3 i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
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Das Amtsgericht hat seine Rechtfolgenentscheidung wie folgt begründet:
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"Die Regelbuße für einen derartigen Verkehrsverstoß beträgt 100,00 Euro und 1 Monat
Fahrverbot. Es handelt sich hier objektiv und subjektiv um eine besonders grobe
Pflichtverletzung, so dass von der Verhängung des Fahrverbotes auch nicht abgesehen
werden konnte. Da der Angeklagte seine Fahrereigenschaft bestritten hat, konnten
keine Feststellungen zu dem Grund der Geschwindigkeitsüberschreitung festgestellt
werden. Da er offensichtlich aber sehr bewußt sein Aussehen verändert hat, um seine
Identität zu verschleiern, reicht die Erhöhung der Geldbuße als Denkzettel- und
Besinnungsfunktion nicht aus. Auch gegen Erhöhung der Geldbuße konnte von der
Verhängung des Fahrverbotes nicht abgesehen werden. Im übrigen hat der Betroffene
auch keine existenzbedrohenden oder gar -vernichtenden Gründe geltend gemacht.
Dass er als Berufskraftfahrer Nachteile bei der Verhängung eines Fahrverbotes hat, ist
allerdings nicht auszuschließen. Da ihm im übrigen aber die Viermonatsfrist gemäß § 25
Abs. 2 a StVG eingeräumt wurde, kann er diese zu erwartenden Nachteile sehr gering
halten."
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Diese Begründung trägt die festgesetzten Rechtsfolgen aus mehreren Gründen nicht.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren teilweisen Aufhebungsantrag u.a. wie folgt
begründet:
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"Die Anordnung des Fahrverbotes begegnet jedoch insbesondere wegen der im Urteil
enthaltenen unzulänglichen Begründungen rechtlichen Bedenken.
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So ist zum einen die Begründung des Amtsgerichts, die Erhöhung der Geldbuße als
Denkzettel und Besinnungsfunktion reiche nicht aus, da der Angeklagte offensichtlich
sehr bewusst sein Aussehen verändert habe, um dessen Identität zu verschleiern,
bedenklich. Diese Feststellung deutet auf eine Berücksichtigung von zulässigem
Verhalten des Betroffenen als strafschärfenden Umstand hin.
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Im Übrigen sind die Feststellungen des Amtsgerichts hinsichtlich der Darlegung eines
subjektiv und objektiv groben Verkehrsverstoßes sowie hinsichtlich der Frage, ob dem
Betroffenen die Verhängung des Fahrverbotes nicht als eine erhebliche Härte trifft und
ob eine Beschränkung des Fahrverbots auf den Privat-Pkw des Betroffenen geeignet ist,
lückenhaft.
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Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen zur Anordnung eines Fahrverbotes
ermöglichen es dem Rechtsbeschwerdegericht nicht zu überprüfen, ob die vom
Amtsgericht getroffene Entscheidung zutreffend ist oder nicht.
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Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete
Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines
Fahrverbotes abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den
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Tatrichter (zu vgl. BGH, NZV 1992, 286 ff). Dem Tatrichter ist jedoch insoweit kein
rechtlich ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf Vorliegen von
Ermessensfehlern hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist, sondern der dem
Tatrichter verbleibende Entscheidungsspielraum ist durch gesetzlich niedergelegte und
von der Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeschränkt und
unterliegt insoweit hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in
gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht. Der Tatrichter
muss für seine Entscheidung eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung
geben.
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
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Das Amtsgericht hat ohne jede weitere Erörterung festgestellt, dass es sich objektiv und
subjektiv um eine besonders grobe Pflichtverletzung handele und, da der Angeklagte
seine Fahrereigenschaft bestritten habe, keine Feststellung zu dem Grund der
Geschwindigkeitsüberschreitung habe festgestellt werden können.
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Hinsichtlich der Frage, ob bei dem Betroffenen als Berufskraftfahrer die Anordnung
eines Fahrverbotes eine außergewöhnliche Härte darstelle, hat das Amtsgericht
lediglich festgestellt, dass der Betroffene keine existenzbedrohende oder gar
vernichtende Gründe geltend gemacht habe. Dennoch hat das Amtsgericht sodann,
ohne jedoch insoweit weitere Feststellungen zu treffen, eingeräumt, es sei allerdings
nicht auszuschließen, dass der Betroffene als Berufskraftfahrer Nachteile bei der
Verhängung eines Fahrverbotes habe.
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Zwar kann sich auch ein Berufskraftfahrer, der durch mangelnde Verkehrsdisziplin die
Fahrtberechtigung aufs Spiel gesetzt hat, sich nicht ohne Weiteres darauf berufen, auf
diese angewiesen zu sein. Jedoch hat das Amtsgericht, wenn es einen Ausnahmefall
dennoch ablehnt, die berufliche Situation des Betroffenen und die Folgen eines
Fahrverbots für seine wirtschaftliche Existenz in tatsächlicher Hinsicht darzulegen. Hier
hat das Amtsgericht keinerlei Feststellungen zu wirtschaftlichen und familiären Situation
des Betroffenen sowie zur Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses und zu den
Auswirkungen eines Fahrverbots hierauf getroffen.
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Das Amtsgericht hat eine "existenzbedrohende oder gar vernichtende Gefährdung der
beruflichen Existenz" verneint, ohne näher darzulegen, worin diese Gefährdung ggf.
besteht bzw. bestehen könnte.
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Soweit das Amtsgericht die Gefährdung der beruflichen Existenz offenbar auch mit dem
Hinweis auf § 25 Abs. 2 a StVG verneint hat, sind auch die insoweit getroffenen
Feststellungen nicht ausreichend. Zwar kommt ein Absehen vom Fahrverbot dann nicht
in Betracht, wenn der Betroffene einen ggf. drohenden Arbeitsplatzverlust mit
zumutbaren Mitteln, z.B. die Vollstreckung des Fahrverbots im Urlaub, abwenden kann.
Allerdings kann der Betroffene nur dann auf die Möglichkeit des Urlaubs verwiesen
werden, wenn feststeht, dass er tatsächlich noch über einen ausreichend langen
Jahresurlaub verfügt, den er innerhalb der Frist des § 25 a Abs. 2 StVG auch an einem
Stück abwickeln kann (zu vgl. OLG Hamm, DAR 1999, 417).
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Auch diese Feststellungen lassen sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Die
Urteilsfeststellungen sprechen insoweit nur pauschal davon, der Betroffene könne durch
die Gewährung der Vier-Monats-Frist die zu erwartenden Nachteile sehr gering halten.
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Von einer Zurückverweisung an die Vorinstanz ist hier abzusehen und in
entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO das angefochtene Urteil
dahingehend abzuändern, dass die Anordnung des Fahrverbots entfällt.
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Zwar ist diese Entscheidung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Hier ist jedoch
ausnahmsweise auszuschließen, dass eine neue Verhandlung Feststellungen ergeben
könnte, die ein anderes Ergebnis rechtfertigen würden.
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Das Fahrverbot ist als sogenannter "Denkzettel" für nachlässige und leichtsinnige
Kraftfahrer vorgesehen, um den Täter vor einem Rückfall zu warnen und ihm ein Gefühl
für den zeitweisen Verlust des Führerscheins und den Verzicht auf die aktive Teilnahme
am Straßenverkehr zu vermitteln. Diese Warnungs- und Besinnungsfunktion kann das
Fahrverbot - auch im Hinblick auf seinen Strafcharakter - aber nur erfüllen, wenn es sich
in einem angemessenen zeitlichen Abstand zur Tat auf den Täter auswirkt. Tatzeitpunkt
war hier der 22.02.2003. Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Recklinghausen
fand am 31.01.2005 statt, so dass zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung seit
Tatbegehung bereits fast zwei Jahre verstrichen waren. Unabhängig von der Frage, ob
die Nichtberücksichtigung des seit der Tat verstrichenen Zeitraumes durch das
Amtsgericht Recklinghausen nicht bereits zu beanstanden wäre, liegt der Tatzeitpunkt
mittlerweile 27 Monate zurück. Eine neue Hauptverhandlung könnte voraussichtlich
frühestens im Sommer 2005 stattfinden. Dieser Zeitablauf führt hier jedoch dazu, dass
das verhängte Fahrverbot seinen spezialpräventiven Zweck verliert. Es bedürfte dann
schon ganz besonderer Umstände für die Annahme, dass zu einer nach wie vor
erforderlichen erzieherischen Einwirkung auf den Täter die Verhängung eines
Fahrverbots unbedingt erforderlich ist. Solche besonderen Umstände sind hier nicht
ersichtlich, zumal der Betroffene straßenverkehrsrechtlich noch nicht in Erscheinung
getreten ist.
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Die zeitliche Verzögerung ist hier auch nicht dem Betroffenen anzulasten, der dieser
seine Fahrereigenschaft von vornherein nicht eingeräumt bzw. bestritten hat."
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Diesen Ausführungen tritt der Senat nach eigener Sachprüfung bei und weist zusätzlich
auf Folgendes hin:
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Das angefochtene Urteil entspricht hinsichtlich der Rechtsfolgenausspruchs nicht der
ständigen Rechtsprechung des Senats.
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Zu Recht beanstandet die Generalstaatsanwaltschaft, das Amtsgericht habe dem
Betroffenen zur Last gelegt hat, dass er sein Aussehen verändert habe, um seine
Identität mit der auf dem von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbild abgebildeten
Person zu verschleiern. Das verstößt gegen den Grundsatz, dass zulässiges
Verteidigungsverhalten nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf (vgl. dazu
eingehend und mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen Tröndle/Fischer, StGB,
52. Aufl., § 46 Rn. 53). Der Verstoß wird vorliegend noch dadurch verschärft, dass das
Amtsgericht nicht sicher festgestellt hat, dass der Betroffene sein Aussehen zu diesem
Zweck verändert hat, sondern insoweit, wie die Formulierung "offensichtlich" zeigt, nur
von einer Vermutung ausgeht.
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Der Senat hat auch bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass das
Rechtsbeschwerdegericht die Entscheidung des Tatrichters zur Verhängung des
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Fahrverbotes bzw., von einem Fahrverbot nicht absehen zu wollen, im Zweifel "bis zur
Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (vgl. zuletzt Senat in VRR 2005, 155[ Deutscher]
= StraFo 2005, 256 = www.burhoff.de mit weiteren Nachweisen). Der Tatrichter muss
jedoch - nach ebenfalls übereinstimmender Rechtsprechung der Obergerichte und, wie
auch der Senat bereits wiederholt entschieden hat (vgl. u.a. Senat, a.a.O., m.w.N.), - für
seine Entscheidung eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung geben.
Dem wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Das Amtsgericht macht zu
dieser Frage keinerlei Ausführungen, obwohl dazu gerade wegen des Umstandes, dass
der Betroffene Berufskraftfahrer ist und das Amtsgericht selbst Nachteile für den
Betroffenen nicht ausschließen kann, Anlass bestanden hätte.
Soweit das Amtsgericht die "Gefährdung der beruflichen Existenz" offenbar auch mit
dem Hinweis auf § 25 Abs. 2 a StVG verneinen will, sind auch insoweit nicht
ausreichende Feststellungen getroffen worden. Insoweit verweist der Senat auf seine
bereits erwähnte Entscheidung in VRR 2005, 155 = StraFo 2005, 256.
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Das AG hat sich auch nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob nicht ggf. eine
Beschränkung des Fahrverbotes auf den privaten Bereich möglich ist. Dies ist nach § 25
Abs. 1 Satz 1 StVG grundsätzlich zulässig. Auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe
NZV 2004, 653 wird verwiesen.
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Schließlich lässt das amtsgerichtliche Urteil auch eine Auseinandersetzung mit der
Frage vermissen, ob nicht vorliegend gegen eine massive Erhöhung der Geldbuße vom
Fahrverbot hätte abgesehen werden können (vgl. auch dazu Senat in VRR 2005, 155 =
StraFo 2005, 256 mit weiteren Nachweisen).
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Wegen der mit dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zusammenhängenden Fragen
und deren Auswirkungen auf die Verhängung eines Fahrverbotes verweist der Senat
auf seine Entscheidung in VD 2004, 195 = StraFo 2004, 282 = VA 2004, 157 (Ls.) = StV
2004, 489 = NZV 2004, 598.
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Nach allem war die angefochtene Entscheidung im Rechtsfolgenausspruch teilweise
aufzuheben. Der Senat hat von der ihm in § 79 Abs. 6 OWiG eingeräumten Möglichkeit,
in der Sache selbst zu entscheiden, Gebrauch gemacht und die Anordnung des
Fahrverbotes entfallen lassen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1, 4 StPO
i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG und berücksichtigt den Erfolg, den die Rechtsbeschwerde
teilweise hatte.
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