Urteil des OLG Hamm vom 03.02.1999

OLG Hamm (umschulung, morbus scheuermann, abbruch, gesundheitswesen, beruf, ausbildung, zpo, 1995, ergebnis, tätigkeit)

Oberlandesgericht Hamm, 13 U 66/98
Datum:
03.02.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 66/98
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 15 O 221/97
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das am 13. Januar 1998
verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Mün-ster
abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Es beschwert die Klägerin in Höhe von 23.681,26 DM.
Von der Darstellung des
Tatbestandes
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Entscheidungsgründe
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Nach dem Ergebnis der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme hat die
statthafte Berufung des Beklagten auch in der Sache Erfolg.
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Entgegen der Ansicht des Landgerichts hat die Klägerin gegen den Beklagten keinen
Schadensersatzanspruch wegen ihres Verdienstausfalls im Zeitraum von August 1995
bis Juni 1997.
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Der Beklagte haftet der Klägerin gem. § 3 Nr. 1 PflVersG i.V.m. den §§ 823, 249, 252
BGB grundsätzlich für 80 % ihrer Schäden aus ihrem am 11. Mai 1986 in S erlittenen
Motorrad-Verkehrsunfall, in dessen Folge ihr linker Unterschenkel amputiert werden
mußte. Dies steht außer Streit. Dementsprechend hat der Beklagte der Klägerin den ihr
bis Juli 1995 entstandenen Verdienstausfall ersetzt, da die Klägerin unfallbedingt nicht
mehr in ihrem vor dem Unfallereignis ausgeübten Beruf als Krankenschwester tätig sein
konnte. Für die hier maßgebliche Folgezeit steht der Klägerin hingegen kein Ersatz
ihres Verdienstausfallschadens zu.
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ihres Verdienstausfallschadens zu.
Ob ein Verletzter ohne den Schadensfall durch Verwertung seiner Arbeitskraft
bestimmte Einkünfte erzielt hätte, ist durch eine nach §§ 252 S. 2 BGB, 287 ZPO
anzustellende Prognose zu ermitteln, für die auf der Grundlage gesicherter
Anknüpfungstatsachen ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den gewöhnlichen Lauf der
Dinge genügt. Maßgebend ist dabei die wahrscheinliche berufliche Entwicklung des
Geschädigten (vgl. Palandt-Heinrichs, BGB, 58. Aufl., § 252, Rn. 5 ff.).
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Hätte die Klägerin die im April 1992 begonnene, von August bis einschließlich
Dezember 1993 wegen einer erneuten operativen Unterschenkelstumpfkorrektur mit
anschließender Folgebehandlung unterbrochene, sodann im Januar 1994
wiederaufgenommene Umschulung zur Fachlehrerin im Gesundheitswesen
(Lehrschwester) fortgeführt und - ggf. nach Nachholung ihrer erkrankungsbedingten
Fehlzeiten - abgeschlossen, wäre ihr im streitgegenständlichen Zeitraum von August
1995 bis Juni 1997 kein Verdienstausfallschaden entstanden.
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Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ist davon auszugehen, daß die Klägerin nach
erfolgreichem Abschluß ihrer Umschulung jedenfalls bis August 1995 einen Arbeitsplatz
als Fachlehrerin im Gesundheitswesen erlangt hätte. Die dem entgegenstehende
Stellungnahme des Leiters der Krankenpflegeschule des Krankenhauses C vom 09.
September 1997 ist nicht repräsentativ für die Gesamtheit aller Krankenpflegeschulen.
Im übrigen steht sie im Gegensatz zur Verpflichtung insbesondere öffentlicher
Arbeitgeber, die Integration behinderter Arbeitnehmer nach Kräften zu fördern.
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Es mag zutreffen, daß die Klägerin als Lehrschwester gewisse Probleme hätte,
Ausbildungsinhalte zu vermitteln, die mit einer körperlich außergewöhnlich schweren
Tätigkeit einhergehen. Die Klägerin hat sich insoweit auf die Vermittlung sog.
Mobilisierungstechniken bezogen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß eine
Lehrschwester nicht nur Wissen im Bereich körperlich schwieriger Aufgaben vermittelt.
Im übrigen ist es durch eine Absprache im Lehrerkollegium ohne weiteres möglich und
allgemein üblich, durch entsprechende Aufgabenverteilung körperlich beeinträchtigtes
Lehrpersonal insoweit zu entlasten.
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Zudem hat die Beklagte substantiiert dargetan, daß selbst querschnittsgelähmte
Lehrerinnen in diesem Beruf tätig sind. Von daher ist nicht nachvollziehbar, daß und
warum es der Klägerin nicht gelungen wäre, die Ausbildung abzuschließen und eine
entsprechende Anstellung zu finden. Eine Arbeitsaufnahme bei einem anderen
Arbeitgeber als dem Krankenhaus C wäre ihr durchaus zuzumuten gewesen. Als
Fachlehrerin im Gesundheitswesen hätte die Klägerin aller Voraussicht nach zumindest
kein geringeres Einkommen erzielt als als Krankenschwester.
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Durch den Abbruch ihrer im Mai 1994 kurz vor dem Abschluß stehenden Umschulung
hat die Klägerin gegen ihre Verpflichtung zur Schadensminderung gem. § 254 BGB
verstoßen. Der Klägerin wäre es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ohne
weiteres möglich und zuzumuten gewesen, ihre Umschulung fortzuführen,
abzuschließen und sodann den Beruf der Fachlehrerin im Gesundheitswesen
auszuüben. Sie kann nicht damit gehört werden, dies sei ihr wegen ihrer unfallbedingten
gesundheitlichen Probleme nicht möglich gewesen.
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Der dem Senat seit langem als besonders sachkundig und erfahren bekannte
Sachverständige Prof. Dr. Q hat in seinem sorgfältig erstatteten und überzeugend
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begründeten orthopädischen Gutachten vom 10. Oktober 1998 festgestellt, aus
medizinischer Sicht hätten im Mai 1994 keine nachvollziehbaren Gründe für den
Abbruch der Umschulung der Klägerin zur Lehrschwester bestanden.
Die Klägerin leide neben der unfallbedingten Unterschenkelamputation links
unfallunabhängig unter einer anlagebedingten Verknöcherungsstörung der BWS und
LWS (Morbus Scheuermann) sowie einer anlagebedingten Gefügestörung
(Spondylolyse) am Übergang von der LWS zum Kreuzbein bei L5/S1. Die von der
Klägerin beklagten Beschwerden im Bereich des Unterschenkelstumpfes und der
Wirbelsäule seien aufgrund dieser Befunde erklärbar.
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Der Sachverständige hat umfangreiche, im Zusammenhang mit einer
Stumpfrevisionsoperation erhobene Befunde der Klägerin aus der Zeit von Juni bis
September 1993 ausgewertet. Zusätzlich hat er eigene Befunde durch die persönliche
Untersuchung der Klägerin im August 1998 erhoben. Wird das Befundmaterial in
Beziehung zur körperlichen Belastung der Ausbildung zur Fachlehrerin im
Gesundheitswesen gesetzt, so bestehen nach seinen Feststellungen unter
Zugrundelegung jahrzehntelanger Erfahrungen in der Beurteilung der beruflichen
Belastbarkeit von Patienten mit einer Extremitätenamputation keinerlei Hindernisse. Der
Beruf einer Lehrerin sei für eine unterschenkelamputierte Patientin hervorragend
geeignet. Zwar könnten und würden bei der Bewältigung des beruflichen Alltags immer
wieder Schwierigkeiten auftreten, möglicherweise auch Entzündungen am Stumpf. Dies
seien jedoch keine unüberwindlichen Hindernisse.
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Der Sachverständige hat desweiteren ausgeführt, es sei durchaus glaubhaft, daß die
Klägerin aufgrund ihres unfallunabhängigen Wirbelsäulenleidens nach mehrstündigem
Sitzen und auch nach mehrstündigem Stehen Rückenschmerzen verspüre. Gerade der
Beruf eines Lehrers biete jedoch die Möglichkeit des Wechsels der Körperhaltung
zwischen der Arbeitsposition des Sitzens, Stehens und Gehens.
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Der Sachverständige, dem der Ausbildungs- und Arbeitsalltag einer
Lehrkrankenschwester aus seiner beruflichen Tätigkeit an den Orthopädischen Kliniken
der Universität N geläufig ist, hat im übrigen nachvollziehbar festgestellt, unter
Zugrundelegung der erhobenen Befunde ergebe sich keine unfallbedingte
Notwendigkeit für den Abbruch der weiteren Ausbildung der Klägerin zur Fachlehrerin
im Gesundheitswesen (Lehrschwester). Der Beruf der Lehrschwester erlaube geradezu
in idealer Weise die Wahl der Arbeitsposition zwischen Stehen, Gehen und Sitzen für
den Fall, daß wegen vorübergehender Beschwerden ein häufigerer Positionswechsel
erforderlich sein sollte. Gesundheitliche Störungen der Klägerin begründeten jedenfalls
nicht den Abbruch der Umschulung.
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An diesen Feststellungen hat der Sachverständige auch im Hinblick auf die hiergegen
erhobenen Einwendungen der Klägerin festgehalten, sie habe den körperlichen
Belastungen der Umschulung zur Lehrschwester aufgrund ihrer unfallbedingten
Beeinträchtigung nicht entsprechen können. Im Rahmen der mündlichen Erläuterung
und Ergänzung seines Gutachtens im Senatstermin vom 03. Februar 1999 hat er
ausdrücklich wiederholt, unter Zugrundelegung der ihm vorliegenden umfangreichen
Befunderhebungen hätten im Frühjahr/Sommer 1994 aus medizinischer Sicht keine
nachvollziehbaren Gründe für den Abbruch der Umschulung der Klägerin zur
Lehrschwester bestanden.
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Es bestehe kein Anhaltspunkt dafür, daß im Bereich des Unterschenkelstumpfs der
Klägerin seit Sommer 1993 Entzündungen aufgetreten seien. Der Unterschenkelstumpf
der Klägerin sei zwar verhältnismäßig kurz, vermindert belastbar und aufgrund multipler
Revisions-operationen sensibilisiert. Dies stelle jedoch für die moderne
Prothesentechnik kein unüberwindliches Problem dar. Zum Zeitpunkt der Entlassung
der Klägerin aus der Universitätsklinik N im Sommer 1993 habe der
Unterschenkelstumpf ohne weiteres prothetisch versorgt werden können. Sollte dies im
Frühjahr 1994 noch nicht abgeschlossen gewesen sein, beruhe dies nicht auf
medizinisch relevanten Gründen. Hin und wieder auftretende Anpassungs- und
Trageprobleme der Prothetik seien bei Amputierten normal. Solche Schwierigkeiten
bekomme die heutige Prothesentechnik in den Griff. Sie begründeten keine
medizinische Notwendigkeit, die Umschulung zur Lehrschwester abzubrechen.
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Der einer Lehrerin im Gesundheitswesen mögliche häufige Wechsel zwischen Stehen,
Gehen und Sitzen sei ideal, um Stumpfprobleme zu vermeiden und zugleich der
anlagebedingt verminderten Belastbarkeit der Wirbelsäule der Klägerin Rechnung zu
tragen. Sie könne verschiedenen Unterrichtsmedien ihren körperlichen Vorgaben und
Bedürfnissen entsprechend einrichten und einsetzen.
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Der Senat folgt den in sich schlüssigen Feststellungen des Sachverständigen, der die
hiergegen gerichteten medizinischen Einwendungen der Klägerin überzeugend
widerlegt hat. Soweit die Klägerin im übrigen behauptet, im Rahmen der Umschulung
sei ihr seitens der Ausbildungsstätte nicht die Möglichkeit eingeräumt worden, ihrer
unfallbedingten Beeinträchtigung durch zeitweises Aufstehen, Hinsetzen o.ä. Rechnung
zu tragen, ist dies nicht nachvollziehbar. Einem körperlich beeinträchtigten
Auszubildenden wird in aller Regel die Möglichkeit gegeben, die Ausbildung in einer
seiner Beeinträchtigung angemessenen Art und Weise zu absolvieren. Sollte die von
der Klägerin gewählte Ausbildungsstätte dies nicht zugelassen haben, kann die
Klägerin dies dem Beklagten jedenfalls nicht anlasten.
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Die Klägerin kann auch nicht damit gehört werden, sie habe aus ihrer damaligen Sicht
der Dinge nicht damit gerechnet, den körperlichen Belastungen der Umschulung und
der Tätigkeit als Lehrschwester standzuhalten. Die Klägerin hätte vor Abbruch ihrer
Umschulungsmaßnahme zumindest eingehend abklären müssen, inwieweit die von ihr
evtl. subjektiv als nicht tragbar empfundenen Belastungen objektiv trotz ihrer
Behinderung zu erfüllen waren. Daß sie dies nicht unternahm, ist ihr anzulasten. Die
von ihr erst nach Abbruch ihrer Ausbildung eingeholten ärztlichen Stellungnahmen des
Dr. med. C vom 31. Mai 1994 und des Funktionsarztes G vom 01. November 1994, die
nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zudem in der Sache nicht zutreffen, entlasten
sie insoweit nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO. Die Festsetzung des Werts der
Beschwer folgt aus § 546 Abs. 2 ZPO.
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