Urteil des OLG Hamm vom 28.06.2005

OLG Hamm: einstellung des verfahrens, behörde, ausbildung, darlehen, zuschuss, bankguthaben, zugang, chancengleichheit, bedürftiger, erfüllung

Oberlandesgericht Hamm, 4 Ss 85/05
Datum:
28.06.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 Ss 85/05
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 3 Ns 331 Js 73/04 (213/04)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine
andere kleine Strafkammer des Landgerichts Paderborn
zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Das Amtsgericht Q hat die Angeklagte wegen Betruges in drei Fällen zu einer
Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 70,- € verurteilt. Die hiergegen gerichtete
Berufung der Angeklagten hat das Landgericht Paderborn verworfen und zugleich das
Urteil auf die Berufung der Staatsanwaltschaft im Rechtsfolgenausspruch abgeändert,
dass die Angeklagte zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 70,- € verurteilt
worden ist.
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Zum Tatgeschehen hat die Strafkammer folgende Feststellungen getroffen:
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"Die Angeklagte beantragte mit schriftlichem Antrag vom 13.01.1999 beim
Studentenwerk Q als Amt für Ausbildungsförderung die Bewilligung einer
Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG).
Der Antrag ging am 18.01.1999 beim Studentenwerk Q ein. In dem Antrag erklärte
die Angeklagte bewusst wahrheitswidrig, keinerlei Vermögen zu haben, obwohl sie
tatsächlich über eigenes Bankguthaben in Höhe von mehr als 70.000,00 DM
verfügte, das sie von ihrem 1984 verstorbenen Vater geerbt hatte. Im Vertrauen auf
die Richtigkeit der Angaben der Angeklagten bewilligte das Studentenwerk Q ihr
mit Bescheiden vom 29.06.2000 für den Zeitraum von Januar 1999 bis September
1999 unter Berücksichtigung der von ihr bezogenen und angegebenen
Halbwaisenrente eine Ausbildungsförderung von insgesamt 4.578,00 DM, die
hälftig als Zuschuss und hälftig als unverzinsliches Darlehen gewährt wurde.
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Am 30.07.1999 stellte die Angeklagte beim Studentenwerk Q einen weiteren
Antrag auf die Bewilligung einer Ausbildungsförderung, in dem sie wiederum
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bewusst wahrheitswidrig angab, keinerlei Vermögen zu haben,
obwohl sie tatsächlich noch über ein Barvermögen in Höhe von rund 65.000,00 DM
verfügte. Im Vertrauen auf die Richtigkeit ihrer Angaben wurde ihr mit Bescheiden
vom 28.02.2000 unter Berücksichtigung der von ihr bis zum 27. Lebensjahr
bezogenen und angegebenen Halbweisenrente für den Zeitraum von Oktober 1999
bis November 1999 eine monatliche Ausbildungsförderung von 917,00 DM und für
den Zeitraum von Dezember 1999
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bis September 2000 eine monatliche Ausbildungsförderung in Höhe von 1.004,00
DM bewilligt, und zwar wiederum hälftig als Zuschuss und hälftig als
unverzinsliches Darlehen.
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Mit schriftlichem Antrag vom 28.08.2000 beantragte die Angeklagte beim
Studentenwerk in Q erneut die Bewilligung einer Ausbildungsförderung nach dem
Ausbildungsförderungsgesetz, der am 29.08.2000 beim Studentenwerk Q einging.
Auch in diesem Antrag gab die Angeklagte bewusst wahrheitswidrig an, kein
Vermögen zu haben, obwohl sie tatsächlich noch über Bankguthaben in Höhe von
rund 16.000,00 DM verfügte. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben der
Angeklagten wurde ihr mit Bescheid vom 28.09.2000 für den Zeitraum von Oktober
2000 bis Januar 2001 eine monatliche Ausbildungsförderung von 1.030,- DM
wiederum hälftig als Zuschuss und hälftig als Darlehen gewährt.
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Hätte die Angeklagte in ihren Anträgen jeweils pflichtgemäß zutreffende Angaben
zu ihren Vermögensverhältnissen gemacht, wäre ihr - was ihr von vornherein klar
war - keine Ausbildungsförderung bewilligt worden.
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Die für den Zeitraum von Oktober 1999 bis Januar 2001 zu Unrecht erhaltene
Ausbildungsförderung in Höhe von insgesamt 10.518,29 € zahlte die Angeklagte
nach Erhalt des Rückforderungsbescheids des Studentenwerks Q vom 27.03.2004
zurück. Aufgrund des Rückforderungsbescheids des Studentenwerks Q vom
21.04.2004 zahlte sie später auch die für den Zeitraum vom 01.10.1995 bis zum
31.12.1998 zu Unrecht erhaltene Ausbildungsförderung in Höhe von 16.015,17 €
zurück."
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Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Angeklagten, mit der sie die
Verletzung sachlichen Rechts rügt.
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Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Verfahren hinsichtlich der Tat vom
28. August 2000 gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen sowie die Revision im Übrigen
gemäß § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe zu verwerfen, dass die Berufungskammer
eine nachträgliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 StPO zu
treffen habe.
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II.
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Die zulässige Revision hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
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Der Schuldspruch hält der sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht Stand, denn die
getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung der Angeklagten wegen Betruges
nicht. Bei der Feststellung betrügerisch erlangter staatlicher Sozialleistungen müssen
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die richterlichen Entscheidungsgründe in nachvollziehbarer Weise zu erkennen geben,
dass und inwieweit auf die sogenannten überzahlten Beträge nach den Grundsätzen
des jeweiligen Leistungsgesetzes tatsächlich kein Anspruch bestand (so auch OLG
Düsseldorf, StV 2001, 354 - Sozialhilfebetrug). Diesen Anforderungen werden die
Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils nicht gerecht.
Die Kammer hat lediglich festgestellt, dass das Vermögen der Angeklagten zur Zeit der
ersten Antragstellung mehr als 70.000,00 DM, bei der zweiten Antragstellung annähernd
65.000,00 DM und zum Zeitpunkt der letzten Antragstellung noch über 16.000,00 DM
betrug.
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Allein diese Tatsachen sind jedoch nicht geeignet, einen jeweiligen Anspruch der
Angeklagten auf Ausbildungsförderung auszuschließen, denn gemäß § 28 Absatz 3
BAföG sind bei der Ermittlung des anzurechnenden Vermögens von diesen Beträgen
die im Zeitpunkt der einzelnen Antragstellung bestehenden Schulden und Lasten
abzuziehen. Zu diesen abzugsfähigen Schulden zählen auch etwaige
Erstattungsansprüche des Studentenwerks Q, die diesem gemäß § 50 Abs. 1 SGB X
aufgrund einer den jeweils abgeurteilten Taten vorangegangenen rechtswidrigen
Ausbildungsförderung der Angeklagten möglicherweise zustanden.
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Dabei ist es unerheblich, ob diese öffentlichrechtlichen Erstattungsansprüche zum
jeweiligen Tatzeitpunkt bereits rechtlich entstanden waren oder ob es dazu gemäß § 50
Abs. 1 SGB X noch des Erlasses eines die jeweiligen Bewilligungsbescheide
zurücknehmenden Verwaltungsakts bedurft hätte. Denn der Begriff "im Zeitpunkt der
Antragstellung bestehende Schulden" in § 28 Abs. 3 BAföG ist übereinstimmend mit
dem OVG Münster (FamRZ 1985, S. 222, 223) dahingehend auszulegen, dass von ihm
alle Forderungen unabhängig von ihrem rechtlichen Bestand, ihrer Fälligkeit und dem
Zeitpunkt ihrer Einziehung erfasst sind, mit deren Geltendmachung der Antragsteller
ernsthaft rechnen muss.
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Für ein solch wirtschaftliches Verständnis spricht der im Wege teleologischer Auslegung
ermittelte Sinn und Zweck des § 28 Abs. 3 BAföG, bei der Feststellung des bei
Antragstellung vorhandenen Vermögenswertes eine gewiss bevorstehende
Verringerung des Vermögens zu berücksichtigen, um sicherzustellen, dass der
Antragsteller im bevorstehenden Bewilligungszeitraum über die erforderlichen
finanziellen Mittel für seine Ausbildung und seinen Lebensunterhalt verfügt. Damit
fordert § 28 Abs. 3 BAföG von der Bewilligungsbehörde eine Prognose über die
zukünftige Vermögenssituation des Antragstellers. Diese ist jedoch nicht davon
abhängig, ob die gegen den Antragsteller gerichteten Forderungen nach juristischer
Betrachtung bereits entstanden sind, sondern entscheidend ist allein die faktische
wirtschaftliche Belastung. Das wirtschaftliche Risiko für den Antragsteller, auf Zahlung
in Anspruch genommen zu werden, ist aber bei einer noch nicht entstandenen
öffentlichrechtlichen Forderung nach § 50 Absatz 1 SGB X dann von den gleichen
Faktoren abhängig wie bei einer entstandenen zivilrechtlichen Forderung, wenn die
einzige zur Zeit der Antragstellung noch fehlende Entstehungsvoraussetzung für den
Rückforderungsanspruch der Erlass eines die ausgekehrte Förderungssumme
zurückfordernden Verwaltungsakts ist. Dieser ist gemäß § 50 Abs. 1 SGB X ohne
Ermessensspielraum als zwingende Rechtsfolge zu erlassen, sobald die Behörde die
Rechtswidrigkeit des zuvor ergangenen Bewilligungsbescheides feststellt und diesen
darauf zurücknimmt. Ob ein zurücknehmender Verwaltungsakt gemäß § 45 SGB X
erlassen wird, steht im Ermessen der Behörde. Noch fehlende
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Entstehungsvoraussetzung für die Rückzahlungsschuld wäre im Zeitpunkt der
Antragstellung damit lediglich, dass die Behörde die Unrechtmäßigkeit der
vorangegangenen Förderung bemerkt und sich innerhalb ihres Ermessens für die
Geltendmachung des daraus resultierenden Rückforderungsanspruchs entscheidet.
Auch der Schuldner einer zivilrechtlichen Forderung muss aber tatsächlich erst zahlen,
wenn der Gläubiger von seinem Anspruch Kenntnis erlangt und sich entschließt, ihn
geltend zu machen.
Für die Einbeziehung des Rückzahlungsanspruchs der Bewilligungsbehörde in den
nach § 28 Abs. 3 BAföG vorzunehmenden Abzug vom Vermögen spricht ferner der
soziale Zweck des BAföG insgesamt, die Chancengleichheit beim Zugang zur (Hoch)
Schulbildung durch finanzielle Förderung bedürftiger Auszubildender herzustellen.
Würde einem einkommensschwachen Auszubildenden die Förderung von der
Bewilligungsbehörde im Hinblick auf das einzig vorhandene Vermögen versagt, und
dieses daraufhin sogleich von derselben Behörde durch einen das Vermögen
übersteigenden Rückforderungsbescheid eingefordert, würde dem Auszubildenden die
finanzielle Grundlage seiner Ausbildung genommen und seine Mittellosigkeit
herbeigeführt. Das BAföG würde diesem Auszubildenden eine weitere Ausbildung
faktisch versagen und seinen sozialen Zweck verfehlen.
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Entgegen der Auffassung von Rau/Zschieschack (StV 2004, 669, 672) handelt es sich
bei der Umsetzung der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte im Rahmen der
Schadensberechnung nicht um die Berücksichtigung rechtmäßigen
Alternativverhaltens. Sie ist vielmehr zwingende Voraussetzung zur Beurteilung der
Frage, ob der Bewilligungsbehörde durch die Gewährung der Förderung ein Schaden
entstanden ist.
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Ob nach Abzug des Freibetrages von 6.000,00 DM gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BAföG und
etwaiger Rückforderungsansprüche des Studentenwerks gemäß § 28 Abs. 3 BAföG von
dem zum jeweiligen Tatzeitpunkt vorhandenen Vermögen von 70.000,00, 65.000,00 und
16.000,00 DM noch ein anzurechnendes Vermögen verblieb und der Angeklagten somit
jeweils kein Anspruch auf Ausbildungsförderung zustand, kann das Revisionsgericht
mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen nicht prüfen. Die Kammer hat zwar
die Höhe der vom Studentenwerk am 21. April 2004 für den Zeitraum von Oktober 1995
bis Dezember 1998 zurückgeforderten Ausbildungsförderung mit 16.015,17 Euro
beziffert, jedoch nicht dargelegt, wie sich dieser Betrag errechnet und ob dem
Studentenwerk noch weitere Rückforderungsansprüche zustanden, deren Erfüllung zum
Zeitpunkt der jeweiligen Antragstellung noch ausstand.
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Das angefochtene Urteil war daher insgesamt aufzuheben und zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine
Strafkammer des Landgerichts Q zurückzuverweisen.
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III.
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Die von der Generalstaatsanwaltschaft beantragte Einstellung des Verfahrens nach
§ 154 Abs. 2 StPO hinsichtlich der Tat vom 28. August 2000 kommt hingegen nicht in
Betracht. Es ist nicht auszuschließen, dass die Angeklagte insoweit freizusprechen sein
wird oder sich hinsichtlich aller drei Taten nur wegen Betrugsversuches strafbar
gemacht hat, so dass die Tat vom 28. August 2000 nicht als unwesentliche
Nebenstraftat im Verhältnis zu den Übrigen anzusehen wäre.
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IV.
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Sofern sich nach erneuter Hauptverhandlung ein Vermögensschaden feststellen lässt,
wird eine Verurteilung wegen Betruges oder versuchten Betruges nicht dadurch
ausgeschlossen, dass möglicherweise auch der Ordnungswidrigkeitentatbestand des §
58 Abs. 1 Nr. 1 BAföG erfüllt ist. Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung
des Bayerischen Obersten Landesgerichts (NStZ 2005, 172 ff.) an, wonach § 263 StGB
nicht durch § 58 Abs. 1 Nr. 1 BAföG verdrängt wird.
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