Urteil des OLG Hamm vom 17.02.2009

OLG Hamm: hinreichender tatverdacht, sachliche zuständigkeit, schwurgericht, beweiswürdigung, lokal, rüge, zustellung, wahrscheinlichkeit, beschränkung, strafrichter

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 67/09
Datum:
17.02.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 67/09
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 14 Ns 89/07
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
I.
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Das Amtsgericht – Strafrichter – Bielefeld hatte den Angeklagten am 04.07.2007 wegen
gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren
Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die dagegen gerichtete Berufung des
Nebenklägers hatte die kleine Strafkammer mit Beschluss vom 11.09.2007 als
unzulässig verworfen, weil er durch das amtsgerichtliche Urteil nicht beschwert sei. Er
mache zwar die Nichtaburteilung wegen eines nebenklagefähigen Deliktes (§ 395 Abs.
1 Nr. 2 StPO), nämlich wegen eines versuchten Mordes, geltend, diese sei aber fern
liegend. Auf die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hat der Senat mit Beschluss
vom 12.02.2008 (3 Ws 41/08) den die Berufung verwerfenden Beschluss des
Landgerichts aufgehoben, da unter Zugrundelegung des bisherigen Verfahrensstoffes
jedenfalls mehr als die bloß entfernte Möglichkeit einer Aburteilung des Angeklagten
wegen versuchten Totschlags oder Mordes bestand und das Ziel der Nebenklage nach
einer etwaigen Verweisung durch das Berufungsgericht an das Schwurgericht nach §
328 Abs. 2 StPO auch erreichbar wäre.
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Die kleine Strafkammer hat daraufhin die Berufungshauptverhandlung durchgeführt und
mit dem angefochtenen Urteil das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache an
das Landgericht – Schwurgericht – verwiesen.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Nebenkläger zum Abend des
05.01.2007 türkische Sänger für die Hochzeit eines Kollegen in ein Lokal bestellt. Der
Angeklagte begab sich nach einem Anruf seines Bruders spontan ab etwa 20.30 Uhr in
dieses Lokal. In seiner Jacke hatte er noch ein Messer, welches er zuvor zum Einbau
von Lautsprecherboxen in ein KFZ verwendet hatte. Im Verlaufe des Abends trank der
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Angeklagte zusammen mit seinem Bruder insgesamt etwa 2,1 Liter Raki, tanzte und
scherzte. Gegen 22.00 Uhr traf auch der Nebenkläger im Lokal ein. Gegen 23.30 Uhr
wollte der Nebenkläger die Musiker ins Hotel bringen und sodann selbst heimkehren.
Als er mit den Musikern zusammenstand kam der Angeklagte hinzu und fragte ihn, ob er
(der Nebenkläger) schlecht über seinen Vater gesprochen habe. Er holte dann das
Messer heraus, hielt es in der Faust und stach mehrfach mit Wucht auf den Nebenkläger
ein und fügte ihm dabei eine 15 cm lange Schnittwunde am linken Oberarm mit
Trizepssehnendurchtrennung sowie mehrere kleine Schnittwunden am linken Arm zu,
ferner eine zwei Zentimeter lange Schnittwunde am linken Mundwinkel sowie einen
Bruch der oberen Schneidezahnprothese. Als der Angeklagte noch einmal ausholte, um
auf den Angeklagten einzustechen, verletzte er seinen Bruder mit dem Messer unter
dem Kinn. Dem Zeugen B gelang es schließlich, den Angeklagten, der weiter auf den
Nebenkläger einstechen wollte, festzuhalten und ihm das Messer abzunehmen. Als der
Angeklagte festgehalten wurde, drohte er, dass ihm keiner zu nahe kommen solle, sonst
würde er ihn umbringen.
Das Landgericht war der Auffassung, dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen
nicht fern liegend sei, dass der Täter damit rechne, dass das Opfer zu Tode kommen
könne und – nur so lassen sich die Ausführungen im Urteil verstehen – hielt auch das
voluntative Vorsatzelement wegen einer hohen Alkoholisierung nicht für
ausgeschlossen, da nicht geklärt werden konnte, wie viel Raki der Angeklagte
(Hervorhebung durch den Senat) getrunken hatte und die Tat nach den Ausführungen
des Sachverständigen, der keine Anhaltspunkte für eine erhebliche Berauschung des
Angeklagten zum Tatzeitpunkt gefunden habe, "wenig impulshaft, sondern durchaus
vorbereitet und gesteuert" gewirkt habe.
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Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision und rügt die Verletzung
materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Verwerfung des
Rechtsmittels als unzulässig beantragt, weil ein Verstoß gegen § 328 Abs. 2 StPO
ausschließlich mit der Verfahrensrüge gerügt werden könne, was hier jedenfalls nicht
entsprechend § 344 Abs. 2 StPO geschehen sei.
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II.
7
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg.
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1.
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Das Rechtsmittel ist zulässig. Insbesondere ist der Angeklagte durch die
Verweisungsentscheidung beschwert, obwohl es keine Sachentscheidung enthält. Die
Beschwer ist darin zu sehen, dass das Berufungsgericht nicht die vom Angeklagten
erstrebte günstigste Sachentscheidung getroffen hat, sondern die Sache an ein anderes
Gericht verweist (vgl. BGH NJW 1975, 1246, 1237; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 208).
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2.
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Die Revision ist auch begründet.
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Nach § 328 Abs. 2 StPO verweist das Berufungsgericht die Sache durch Urteil an das
zuständige Gericht, wenn das erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit zu Unrecht
angenommen hat. Darüber hinaus ist die Vorschrift auch dann anwendbar, wenn sich
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die Unzuständigkeit des Amtsgerichts – und damit des Berufungsgerichts, dessen
sachliche Zuständigkeit nicht weiter ist, als die des Amtsgerichts (Meyer-Goßner StPO
51. Aufl. § 328 Rdn. 9) – im Laufe des Berufungsverfahrens herausstellt (Paul in: KK-
StPO 6. Aufl. § 328 Rdn. 13).
a) Ob die Rüge einer rechtsfehlerhaften Verweisung einer Strafsache nach § 328 Abs. 2
StPO durch das Berufungsgericht an ein höherrangiges Gericht mit einer
Verfahrensrüge oder (wie es der Angeklagte hier unternimmt) mit einer Sachrüge
geltend zu machen ist, ist in der Rechtsprechung umstritten.
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Die Ausführungen in der von der Generalstaatsanwaltschaft in Bezug genommenen
Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGHSt 42, 205 ff.) deuten zunächst einmal
darauf hin, dass insoweit eine Verfahrensrüge erforderlich ist. Es heißt nämlich in den
Entscheidungsgründen, dass es sich bei § 328 Abs. 2 StPO um eine
verfahrensrechtliche Vorschrift handele und im Rahmen der Revision gegen das
Berufungsurteil das Problem betroffen sei, ob das sachlich zuständige Berufungsgericht
das Verfahrensrecht beachtet hat, was nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge zu
beachten sei. Die auf eine Vorlage des Oberlandesgerichts Celle ergangene
Entscheidung betraf allerdings den umgekehrten Fall, nämlich dass das
Berufungsgericht selbst in der Sache entschieden und keine Verweisungsentscheidung
getroffen hatte. Auch das BayObLG (NJW 1987, 3091) hielt in einem Fall, in dem das
Berufungsgericht (bei fehlender Zuständigkeit des Amtsgerichts) gerade keine
Verweisungsentscheidung getroffen hatte, die Geltendmachung dieses Rechtsfehlers
mit einer Verfahrensrüge für erforderlich.
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Für die vorliegende Fallgestaltung, nämlich dass gerügt wird, dass das
Berufungsgericht zu Unrecht eine Verweisungsentscheidung nach § 328 Abs. 2 StPO
getroffen hat, lässt sich den Entscheidungen BayObLG NStZ-RR 2000, 177 und BGH
NJW 1975, 1236 entnehmen, dass jedenfalls das BayObLG eine Sachrüge für
ausreichend erachtete. Dies wird zwar in den genannten Entscheidungen nicht
ausdrücklich angesprochen. Jedoch zeigt dies der Sachverhalt der auf eine
Vorlageentscheidung des BayObLG ergangenen o.g. Entscheidung des
Bundesgerichtshofes und auch die Ausführungen in der o.g. Entscheidung des
BayObLG, die u.a. lauten, dass die Feststellungen und Erwägungen des Landgerichts
die getroffene Entscheidung nicht trügen, was auf eine Überprüfung auf die Sachrüge
hin deutet.
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Für die erstgenannte Auffassung – sofern man sie auf die vorliegende Fallgestaltung
anwenden will - spricht, dass es sich bei § 328 Abs. 2 StPO eindeutig um eine Vorschrift
des Verfahrensrechts handelt. Für die zweite Auffassung spricht hingegen, dass es
letztendlich bei der Begründung der Verweisungsentscheidung, ob nämlich
hinreichender Tatverdacht für die Begehung der schwerwiegenderen Straftat, für die die
Zuständigkeit des Amtsgerichts bzw. des Berufungsgerichts nicht gegeben war, besteht
(vgl. zu diesem Maßstab: BayObLG NStZ-RR 2000, 177 f.; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl.
§ 328 Rdn. 7), um Fragen geht, die üblicherweise in Revisionsentscheidungen auf die
Sachrüge hin geprüft werden und sich das entsprechende Verweisungsurteil nur zu
dieser Frage verhält. Auch erscheint es nicht zwingend, dass eine fehlerhafte
Entscheidung des Berufungsgerichts in der Sache und dessen fehlerhafte
Verweisungsentscheidung revisionsrechtlich in gleicher Weise geltend gemacht werden
müssen. Während bei einer fehlerhaften Entscheidung in der Sache sich die
entsprechenden Umstände, nämlich Entscheidung in der Sache durch das Gericht des
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ersten Rechtszuges, Umstände, die ergeben, dass der von diesem bejahte
Gerichtsstand falsch ist etc. (vgl. BayObLG NJW 1987, 3091) nicht unbedingt aus dem
angefochtenen Urteil ergeben müssen (insoweit also die entsprechenden Tatsachen
dem Revisionsgericht nur über eine Verfahrensrüge zur Kenntnis gebracht werden
können), ergeben sich die Umstände einer fehlerhaften Verweisungsentscheidung
zwanglos aus dem Urteil selbst.
Der Senat braucht die Frage allerdings nicht abschließend zu entscheiden. Auch wenn
der Angeklagte hier nur die Verletzung sachlichen Rechts rügt, so müßte der so
bezeichnete Angriff – wenn man eine Verfahrensrüge für erforderlich hält –jedenfalls
entsprechend § 300 StPO umgedeutet und auch als Verfahrensrüge angesehen
werden.
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Die so erhobene Rüge der Verletzung des § 328 Abs. 2 StPO wäre vorliegend im
Ergebnis ordnungsgemäß i.S.v. § 344 Abs. 2 StPO angebracht. Nach § 344 Abs. 2 StPO
müssen die den geltend gemachten Verstoß enthaltenen Tatsachen so genau dargelegt
werden, dass das Revisionsgericht auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein
oder Fehlen eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten
Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (OLG Hamm NJW 2009, 242 m.w.N.).
Will der Angeklagte rügen, dass das Berufungsgericht die Sache zu Unrecht an das
Schwurgericht verwiesen hat, so bedarf grundsätzlich der Darlegung, zu welcher
Entscheidung (ggf. auf welcher tatsächlichen Grundlage) das Amtsgericht gelangt ist
und welche Entscheidung (und auf welcher tatsächlichen Grundlage) das
Berufungsgericht getroffen hat. Die Revision trägt vor, dass die kleine Strafkammer die
Sache an das Schwurgericht verwiesen hat. Aus den Ausführungen zum fehlenden
Tötungsvorsatz entnimmt der Senat, dass der Angeklagte sich gegen die Annahme
eines hinreichenden Tatverdachts eines versuchten Tötungsdeliktes als
Verweisungsvoraussetzung wendet. Dass die Rüge ansonsten unvollständig ist, ist
unschädlich, da die den Revisionsangriff fundierenden Tatsachen in dem
angefochtenen Urteil, welches der Senat aufgrund der erhobenen Sachrüge ohnehin zur
Kenntnis zu nehmen hat, enthalten sind (vgl.: OLG Hamm Beschl. v. 18.03.2008
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– 3 Ss 92/08 m.w.N.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 208).
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b) Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen, da die
darin enthaltene "Beweiswürdigung" eine revisionsgerichtliche Überprüfung nicht
zulässt.
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Das die Verweisung aussprechende Urteil muss Gründe enthalten, die dem
Revisionsgericht eine Nachprüfung auf Rechtsfehler ermöglichen. Das bedeutet, dass
das Berufungsgericht in seiner Entscheidung aufzeigen muss, dass hinreichender
Tatverdacht bezüglich eines Deliktes besteht, für das seine Rechtsfolgenkompetenz
nicht ausreicht (BayObLG NStZ-RR 2000, 177; Paul in: KK-StPO 6. Aufl. § 328 Rdn. 10).
Das ist hier nicht der Fall.
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Das angefochtene Urteil enthält zwar die Feststellungen zum Tatgeschehen, welche an
sich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Aburteilung jedenfalls wegen
versuchten Totschlags ergeben. Die Überprüfung, ob diese Feststellungen, die zur
Annahme eines hinreichenden Tatverdachts führen, allerdings rechtsfehlerfrei getroffen
wurden, ist dem Senat nicht möglich, da das angefochtene Urteil nahezu keine
Beweiswürdigung enthält. Es wird lediglich mitgeteilt, dass der Angeklagte sich nicht zur
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Sache eingelassen hat. Ferner enthält es rudimentäre Ausführungen zur Begutachtung
des Sachverständigen. Worauf das Berufungsgericht indes seine Feststellungen zum
Tatgeschehen gründet, erschließt sich aus dem Urteil nicht. Der Senat kann daher nicht
überprüfen, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig
einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und nicht in sich widersprüchlich, lückenhaft
oder unklar ist oder gegen Denk- und Erfahrungssätze verstößt (vgl. dazu OLG Hamm
NZV 2008, 261 m.w.N.).
Dass Prüfungsmaßstab für die Verweisungsentscheidung nur ein hinreichender
Tatverdacht und nicht – wie im Falle einer Verurteilung – die volle Überzeugung des
Gerichts ohne vernünftige Zweifel ist, ändert daran nichts. Insoweit handelt es sich nur
um einen unterschiedlichen Überzeugungsgrad hinsichtlich der Tatbegehung. Im
Rahmen der Überprüfung eines Urteils nach § 328 Abs. 2 StPO muss das
Revisionsgericht aber auch überprüfen können, ob das Berufungsgericht die für die
Verweisungsentscheidung erforderliche Annahme hinreichenden Tatverdachts
rechtsfehlerfrei getroffen hat. Ansonsten wäre das Recht des Angeklagten auf den
gesetzlichen Richter nicht hinreichend geschützt (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).
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Der Senat kann auch wegen der revisionsrechtlichen Beschränkung auf das schriftliche
Urteil nicht auf den ihm - aufgrund seiner Vorbefassung im Rahmen des
Beschwerdeverfahrens – bekannten Akteninhalt zurückgreifen, zumal dieser auch
keinen Aufschluss darüber vermittelt, ob bzw. welche Zeugen in welcher Form in der
Berufungshauptverhandlung eine Aussage gemacht haben, bzw. welche sonstigen
Beweisergebnisse in der Verhandlung erzielt werden konnten.
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III.
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Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass er Bedenken hat, ob das Urteil dem
Angeklagten bereits ordnungsgemäß zugestellt ist. Für den Verteidiger des
Angeklagten, an den das Urteil zugestellt wurde, befindet sich keine Vollmacht bei den
Akten. Insoweit kommt zwar eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht in Betracht,
die sich nicht bei den Akten befinden muss und deren Vorliegen auch noch nach der
Zustellung nachgewiesen werden kann (BGH Beschl. v. 15.01.2008
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– 3 StR 450/07 = BeckRS 2008, 03063; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 145a Rdn. 2a).
Die bloße Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses durch einen Verteidiger reicht
aber insoweit als Nachweis nicht aus. Der entsprechenden Ansicht des BayObLG (NJW
2004, 1263, 1264) vermag sich der Senat nicht anzuschließen, da dann § 145a StPO
weitgehend ausgehöhlt würde.
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Der Einholung einer anwaltlichen Versicherung zur Zustellvollmacht bedurfte es hier
aber nicht mehr, da das Urteil ohnehin der Aufhebung unterlag und es damit auf seine
wirksame Zustellung an den Angeklagten nicht ankam.
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