Urteil des OLG Hamm vom 01.12.1989

OLG Hamm (kläger, unfall, unfreiwilligkeit, nachweis, gutachten, zahlung, termin, selbstverstümmelung, ergebnis, beginn)

Oberlandesgericht Hamm, 20 U 113/89
Datum:
01.12.1989
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 113/89
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 2 O 368/87
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 26. Januar 1989 verkündete
Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
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Der Kläger war bei dem Metzger ... im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme als
Auszubildender tätig. Am 15.04.1986 schloß er bei der Beklagten eine
Unfallversicherung mit einer Invaliditätssumme von 60.000,- DM ab, die er am
15.05.1986 auf 120.000,- DM aufstockte.
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Am 30.05.1986 war der Kläger im Betrieb seines Arbeitgebers damit beschäftigt, nach
Darstellung der Beklagten ohne dienstlichen Auftrag, an der vorhandenen schnell
laufenden Bandsägemaschine vom Fabrikat Reich Rinderhinterbeine zu durchsägen.
Die Sicherheitsvorrichtung des Sägeblattes fehlte schon geraume Zeit. Der Kläger sägte
ein ca. 50 cm langes Hinterbein ca. 15 cm vom rechten Ende her an. Nach Darstellung
des Klägers geriet er dabei aus unbekannter Ursache mit der rechten Hand vor die
laufende Säge. Jedenfalls wurden ihm Mittel- und Zeigefinger und zwei Drittel des
Daumens der rechten Hand abgetrennt, wobei jedoch eine Hautbrücke beugeseitig am
Mittelfinger stehenblieb. Jeweils das Endglied von Zeige- und Mittelfinger hatte der
Kläger sich allerdings schon im Jahre 1982 bei einer ähnlichen Beschäftigung
(Zerkleinerung von Fleisch) abgetrennt. Das Rinderbein, bei dessen Durchtrennung
nach Darstellung des Klägers der Unfall passiert ist, wurde sichergestellt und
zusammen mit der Maschine sachverständig untersucht. Dem Privatgutachter der
Beklagten Prof. Dr. ... den diese zusammen mit der Fleischereiberufsgenossenschaft mit
der Erstellung eines Gutachtens beauftragt hatte, schilderte der Kläger an der
Originalsäge und an dem Originalwerkstück, wie es seiner Meinung nach zu dem Unfall
gekommen war. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß die dabei demonstierten
Handhaltungen den tatsächlich eingetretenen Verletzungserfolg nicht hätten
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verursachen können. Die denkbaren Handhaltungen seien so ungewöhnlich und
atypisch, daß Unfreiwilligkeit ausscheide.
Daraufhin lehnte die Berufsgenossenschaft die Zahlung der beantragten Rente und die
Beklagte die Zahlung der ... der Höhe nach unstreitigen Entschädigung von 27.984,-
DM, die zuletzt noch mit der Klage geltend gemacht worden waren, ab.
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Das Landgericht hat ein Gutachten des Medizinaldirektors Dr. ... eingeholt, das es sich
im Termin hat erläutern lassen. Der Sachverständige hat für möglich gehalten, daß die
rechte Hand von der vielleicht glitschigen Beinscheibe abgerutscht und dann in die
Säge hineingezogen worden ist und daß ein solcher Vorgang geeignet war, die
tatsächlichen Verletzungen herbeizuführen. Das Landgericht hat den Nachweis der
Selbstverstümmelung nicht als geführt angesehen und hat deshalb der Klage
entsprochen.
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Die rügt die Berufung, mit der die Beklagte beantragt,
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abändernd die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat weiteren Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen Prof. Dr. ... und
Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. ..., das dessen Oberarzt Dr.
... im Termin erläutert hat.
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Zeuge Prof. Dr. ...
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Es war wohl im November 1986, als mir Herr ... an der Säge mit dem Originalwerkstück
seine damalige Arbeit demonstrierte. Ebenfalls anwesend waren noch Herr ... von der
Versicherung und Herr .... Herr ... hat zunächst erzählt, wie es damals gewesen war. Er
schilderte letztlich, daß alles sehr schnell gegangen sei und daß er genaue Einzelheiten
gar nicht berichten könne. Genaueres habe ich damals in meinem Gutachten
niedergelegt. Es folgte dann die Rekonstruktion mit dem Originalrinderbein. Dieses lag
an drei Punkten auf, nicht an vier Punkten. Es konnte deshalb, wenn auch nur
geringfügig, gekippt werden. Das Rinderbein ist genau untersucht worden. Der Knochen
war bereits angesägt worden. Weiter rechs war noch ein kleinerer Sägeschnitt. Es
waren insgesamt zwei Riefen vorhanden für die beiden möglichen Lagen des
Rinderbeins, für jede Lage also eine Riefe. Herr ... zeigte dann seine damalige
Handhaltung. Es war ein Klammergriff mit angelegtem Daumen. Er gab an, abgerutscht
zu sein. Jedenfalls versuchte er es, den Vorgang in einer solchen Weise zu
rekonstruieren.
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Auf Fragen:
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Die von mir erwähnte Riefe hatte ein vergleichsweise großes Spiel. Der Winkel der
beiden Riefen zueinander war gering.
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Sachverständiger Dr. ...
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Es handelt sich um eine sehr schnell laufende Säge. Das Durchsägen eines
Rinderbeines mit seinem starken Knochen dauert nach Auskunft des Arbeitgebers von
Herrn ..., was Herr ... ja auch bestätigt, allenfalls drei Sekunden. Finger setzen einen
wesentlich geringeren Widerstand entgegen, so daß diese sehr schnell, ja extrem
schnell durchgesägt werden können. Wenn Finger in die Säge geraten, hat man also
keine Zeit mehr, diese etwa wegen auftretender Schmerzen oder des Erkennens der
Gefahr noch zurückzuziehen. Finger werden deshalb sehr schnell durchtrennt, wenn sie
in die Säge geschoben werden. Hineingezogen werden sie allerdings nicht.
Feststellungen zur Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit ließen sich deshalb kaum treffen,
wenn nicht die beugeseitige Hautbrücke am Mittelfinger feststünde. Wir haben in ... noch
einmal Versuche durchgeführt, wie es überhaupt denkbar sein könnte, daß es zu dem
tatsächlich eingetretenen Verletzungsbild gekommen ist. Arbeitstypische
Handhaltungen scheiden dafür von vornherein aus, weil sonst auch der Mittelfinger, der
als erstes angesägt wird, voll durchtrennt worden wäre. Aus den darüber gefertigten
Lichtbildern in der Lichtbildmappe des schriftlichen Gutachtens kommen allein die Bilder
11 bis 13 als denkbare Handpositionen für den eingetretenen Verletzungserfolg in
Betracht. Die Hand müßte also voll vor dem Werkstück gelegen haben, was eigentlich
nur erklärlich ist, wenn sie schon vor Beginn des Sägevorganges da gelegen hat.
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Auf Frage von Rechtsanwalt ...:
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Der Knochen war angesägt, wie Prof. ... damals festgestellt hat. Das Fleischstück, das ja
auch fotografiert worden ist, ist nicht durchgehend rund, und es ist durchaus denkbar,
daß eine Höhlung vorgelegen hat, die einen teilweisen Schutz des Mittefingers
ermöglicht haben könnte.
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Die Akten des Sozialgerichts Dortmund s 17 U 117/87 nebst Beiakten lagen vor und
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Sachdarstellung wird auf den vorgetragenen Inhalt der
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat
nach dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme vor dem Senat den ihr obliegenden
Beweis (§180 a VVG) der Unfreiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung erbracht. Dafür
ist nicht der Nachweis einer absoluten oder unumstößlichen Gewißheit für eine
Selbstverstümmelung und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit
erforderlich, sondern nur der Nachweis eines für das praktische Leben brauchbaren
Grades von Gewißheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig
auszuschließen (BGH VersR 89, 758, 759).
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Der Senat hat die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger sich seine Verletzungen
bewußt beigebracht hat. Ein solcher Nachweis ist zwar im allgemeinen sehr schwer zu
führen, hier aber deshalb erbracht, weil denkbare Unfallursachen (im Sinne eines
unfreiwilligen Geschehens) mit dem tatsächlichen Verletzungserfolg nicht in
Übereinstimmung zu bringen sind. So steht zunächst fest, daß der Kläger nicht etwa
versehentlich das Rinderbein zusammen mit Fingern und Daumen durch das Sägeblatt
geschoben hat, denn sonst müßte ganz ungeachtet, der Tatsache, daß der beim Kläger
im Verhältnis zum Mittelfinger längere Ringfinger unverletzt und deshalb weit
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abgespreizt gewesen sein müsste, jedenfalls auch der vorne liegende Mittelfinger völlig
durchtrennt worden sein.
Denkbar ist ferner, daß Sägegut sich beim Sägevorgang dreht und dabei die Hand oder
Teile davon gegen das Sägeblatt geraten. Allerdings zieht entgegen den Ausführungen
des Sachverständigen Dr. ... das Blatt einer Bandsäge kein Sägegut in sich hinein, es
muß vielmehr hindurchgeschoben werden, wie dem Senat auch aus einer Vielzahl
anderer Gutachten bekannt ist. Das ändert aber nichts daran, daß beim Umkippen von
Sägegut die Finger bereits durch den Kippvorgang gegen das Sägeblatt gedrückt und -
bei der sehr schnell laufenden Säge - in Sekundenbruchteilen abgetrennt werden
können. Ein solcher Unfallhergang scheidet hier aber aus. Nach den Untersuchungen
am Originalwerkstück lag dieses nahezu fest auf, es konnte nur in einem sehr geringen
Winkel gekippt werden. Ein solch geringfügiger Kippvorgang ist aber ungeeignet, die
Hand zunächst vor das Sägeblatt und dann auch noch durch dieses hindurchzuführen.
Damit in Übereinstimmung steht, daß an dem Werkstück neben dem eigentlichen
Sägeschnitt, der bis in den Knochen hineingeführt worden war, nur eine im Winkel
geringfügig verschobene Riefe festgestellt worden ist. Bei Kippvorgängen erheblichen
Ausmaßes, die als Unfallursache insofern allein in Betracht kommen könnten, hätten
sich diese auch durch entsprechende Riefen und Spuren am Werkstück bemerkbar
machen müssen. Solche liegen aber unstreitig nicht vor. Der Hinweis des
Sachverständigen Dr. ..., dem sich das Landgericht angeschlossen hat, daß aus dem
Originalwerkstück keine Schlüsse gezogen werden könnten, weil nicht feststehe, daß
dieser Schnitt im Zusammenhang mit dem Absägen der Finger erfolgte, ist für den Senat
nicht nachvollziehbar, Wenn - dies wäre die Konsequenz - entgegen den eindeutigen
Angaben des Klägers das Werkstück mit dem Unfall gar nichts zu tun haben sollte,
bleibt nur die Erklärung, daß der Kläger den Finger unmittelbar durch die Säge
geschoben hat, er mithin unzweifelhaft vorsätzlich gehandelt hat. Die der Begründung
des Landgerichts offenbar zugrundeliegende Auffassung, der Unfall könne beim Sägen
eines ganz anderen Rinderbeines oder auch beim Sägen ohne ein Werkstück erfolgt
sein, entfernt sich im übrigen vom Sachvortrag der Parteien soweit, daß dies einer
Entscheidung nicht zugrundegelegt werden kann.
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Denkbar wäre grundsätzich auch, daß der Kläger, wie er gegenüber dem Zeugen Prof.
Dr. ... rekonstruiiert hat, beim Sägen des Rinderbeinstückes abgerutscht und dabei in
das laufende Sägeblatt geraten ist. Auch eine solche Unfallversion scheidet im
konkreten Fall aber aus. Sie ist schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil die rechte
Hand dann entgegen der Richtung, in der mit Druck das Werkstück durch das Sägeblatt
getrieben wird, nach links vor das Sägeblatt hätte abrutschen müssen, was
arbeitsphysiologisch zwar nicht ausgeschlossen sein mag, aber nur schwer vorstellbar
ist. Ausgeschlossen ist ein solcher Unfallhergang aber deshalb, weil die einzige
Handhaltung, die den tatsächlich eingetretenen Verletzungserfolg, insbesondere die
beugeseitige Hautbrücke am Mittelfinger zu erklären geeignet ist, die ist, daß die Hand
vor dem Sägegut gelegen hat. Sonst hätte entweder nur der Mittelfinger oder zumindest
auch der Mittelfinger vollständig durchtrennt werden müssen, was unstreitig jedoch nicht
der Fall war. Ein Abrutschen in eine solche extrem abgewinkelte Lage nach schräg links
voll vor das Rinderbein ist aber mit dem vom Kläger behaupteten normalen
Sägevorgang kaum zu vereinbaren und praktisch auszuschließen. Denkbar ist eine
solche Haltung nur, wenn sie vor Beginn des Sägevorganges eingenommen worden ist.
Dabei handelt es sich dann aber um eine typische "Exekutionshaltung", die der
Unfreiwilligkeit des Vorgangs widerspricht.
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Sonstige Umstände, die einem freiwilligen Geschehen entgegenstehen könnten, sind
nicht dargetan. Darauf, daß, was bei Selbstschädigung häufig ist, auch der Kläger
wenige Wochen vor dem Unfall eine Unfallversicherung abgeschlossen und diese noch
einmal erhöht hatte, kommt es danach ebensowenig an, wie auf die Behauptung der
Beklagten, der Kläger habe geäußert, er wolle sich nach Bewilligung einer Rente durch
die Berufsgenossenschaft und Zahlung der Invaliditätsentschädigung in die Türkei
absetzen.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§91, 708 Nr. 10 ZPO.
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Die Beschwer des Klägers beträgt 27.984,- DM.
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