Urteil des OLG Hamm vom 11.11.2003

OLG Hamm: haftung aus unerlaubter handlung, gestaltung, aufmerksamkeit, verwahrung, therapie, vollstreckbarkeit, heim, selbstschädigung, gefahr, schlechterfüllung

Oberlandesgericht Hamm, 27 U 99/03
Datum:
11.11.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 99/03
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 1 O 257/02
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 19.03.2003 verkündete Urteil
der 1. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe (abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO):
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte
keinen Anspruch aus schuldhafter Schlechterfüllung des Heimvertrages gemäß §§
611, 276, 278 BGB bzw. §§ 823 Abs. 1, 831 BGB, weil ein objektiver Verstoß gegen
Pflichten aus dem geschlossenen Heimvertrag sowie eine Haftung aus unerlaubter
Handlung nach dem unstreitigen Sachverhalt auszuschließen sind.
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Nach § 2 Abs. 5 des Rahmenvertrages gemäß § 75 Abs. 1 SGB XI zur
Kurzzeitpflege und vollstationären Pflege, der Art und Umfang der Leistungen des
Heimvertrages vom 3. April 2001 nach dessen Ziff. 2.1 bestimmte, war Gegenstand
der Pflegeleistungen auch der Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung. Danach
waren die Beklagte sowie das von dieser beschäftigte Pflegepersonal zu
entsprechende Maßnahmen verpflichtet, wenn sich konkreter Anlass zu der
Besorgnis ergab, dass sich ein Bewohner der Pflegeeinrichtung selbst Schaden
zufügen werde.
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Ein derartiger konkreter Anlass für die Befürchtung, dass Herr L sich am Morgen des
6. Juli 1998 in der geschehenen Art und Weise selbst schädige, bestand jedoch
nicht. Dabei ist nach Auffassung des Senats entscheidend auf den unstreitigen
Umstand abzustellen, dass Herr L auf Grund eines bewussten und gewollten
Verhaltens durch einen Sprung aus dem Fenster verletzt worden ist. Mit einer
solchen Handlung, deren Verwirklichung eine beträchtliche Willensbetätigung und
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körperliche Anstrengung erforderte, war nach den bisherigen Erfahrungen des sich
über mehrere Monate erstreckenden Heimaufenthaltes nicht zu rechnen, obwohl
Herr L das Gebäude seit dem 28.06.2001 mehrfach unbemerkt verlassen hatte. Die
bis dahin geschehenen Vorfälle ließen sich aus dem Blickwinkel des
Pflegepersonals mit der bei Herrn L diagnostizierten Demenz einschließlich
unscharfer Orientierung zu allen Qualitäten erklären. Dagegen deutete nichts darauf
hin, dass Herr L sich im Sinne eines zielgerichteten Handelns selbst schädigen
wollte, erst recht lagen nach den täglichen Erfahrungen keinerlei Anhaltspunkte vor,
dass vom Zimmerfenster eine Gefahr für ihn drohen würde. Im Gegenteil hatte Herr L
bis dahin stets die regulären Wege zum Verlassen des Gebäudes benutzt. Die
beobachteten Auffälligkeiten hatten sich nicht bei der Benutzung der Einrichtungen
des Gebäudes selbst ereignet, was aus objektiver Sicht den berechtigten Schluss
zuließ, dass er dazu imstande war, sich jedenfalls in dessen Innenräumen
angemessen zu verhalten und ausreichend orientiert zu bewegen.
Bei dieser Sachlage rechtfertigt auch der Umstand, dass Herr L, nachdem er am
Morgen des 6. Juli 2001 gegen 5.25 Uhr ins Heim zurück gebracht worden war, über
Schwindelgefühle und Luftnot klagte und nach schneller Hilfe verlangte, ein
abweichendes Ergebnis nicht. Zwar war auf Grund dieses Vorfalles erhöhte
Aufmerksamkeit geboten, um ein erneutes unbeobachtetes Verlassen des
Gebäudes zu verhindern. Die Gefahrabwendungspflicht beschränkte sich aber
darauf, solche Handlungen, die bisher beobachtet worden waren, abzustellen.
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Es bestand auch keine allgemeine Pflicht der Beklagten, durch die Einrichtung und
bauliche Gestaltung des Hauses alle erdenklichen Gefahrenquellen abzustellen.
Eine derartige Pflicht ist beschränkt auf das Erforderliche und das für das Personal
und die Bewohner Zumutbare. Insoweit gelten dieselben Grundsätze, wie sie in der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verkehrssicherungspflicht des Trägers
eines psychiatrischen Krankenhauses aufgestellt worden sind. Das
Sicherheitsgebot ist abzuwägen gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung
durch allzu strikte Verwahrung (BGH NJW 2000, 3425). Hieraus folgt, dass nicht
jede Gelegenheit zu einer Selbstschädigung ausgeschlossen werden muss. Die
Schutzmaßnahmen müssen therapeutisch vertretbar sein und dürfen die Therapie
nur dann beeinträchtigen, wenn es zum Wohl des Betroffenen erforderlich erscheint.
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Eine erweiterte Sicherungspflicht wäre unter diesen Umständen nur dann in
Betracht gekommen, wenn konkrete Hinweise auf eine Selbstmordgefahr
vorgelegen hätten. Hieran fehlte es jedoch. Die bisherigen, anlässlich des
unbemerkten Verlassens des Hauses aufgetretenen Gefährdungen hatte Herr L
nicht bewusst herbeigeführt; nach dem vorgetragenen Sachverhalt beruhten sie
vielmehr auf der Schwierigkeit, sich außerhalb des Hauses zuverlässig zu
orientieren.
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Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass es nicht darauf ankommt, ob die
Zimmertüre offen oder geschlossen gewesen ist. Nachdem die Untersuchung das
von Herrn L geschilderte Beschwerdebild nicht bestätigt hatte, reichte es aus
objektiver Sicht aus, sicherzustellen, dass ein nochmaliges Verlassen der Station
über den Flur nicht erfolgen konnte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Gründe für die
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Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.