Urteil des OLG Hamm vom 28.07.2008

OLG Hamm: wohnung, fahrlässige körperverletzung, misshandlung, schuldfähigkeit, widerstand, wand, polizei, bewährung, vollstreckung, entziehen

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 235/08
Datum:
28.07.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 235/08
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 5 Ns 66/07
Schlagworte:
Misshandlung Schutzbefohlener, Anforderungen an die Feststellungen
Normen:
StGB §§ 225, 20, 21
Leitsätze:
1.
Zu den Anforderungen an die Feststellungen bei einer Verurteilung
wegen Misshandlung Schutzbefohlener.
2.
Anforderungen an die Ausführungen zu §§ 20, 21 StGB. Es darf nicht
offen bleiben, welche der beiden Alternativen des § 21 StGB vom
Gericht zu Grunde gelegt wurden. Beide Alternativen können auch nicht
kumulativ bejaht werden.
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht Bielefeld hatte die Angeklagte wegen fahrlässiger Körperverletzung in
Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung
ausgesetzt hat. Die dagegen gerichtete Berufung der Angeklagten (von der die
Nichtanwendung des § 64 StGB ausgenommen wurde) hat die kleine Strafkammer mit
dem angefochtenen Urteil mit folgender Maßgabe verworfen: "Die Angeklagte wird
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wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tatmehrheit mit Misshandlung von
Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in
tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
10 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird."
Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm die Angeklagte am Abend des
17.03.2006 mit einem Bekannten in ihrer Wohnung Alkohol in erheblichem Umfang zu
sich, nachdem sie ihre 14 Monate alte Tochter schlafen gelegt hatte. In der Wohnung
befand sich auch der Freund der Angeklagten B. Wegen Ruhestörung aus der Wohnung
der Angeklagten kam es gegen 3.00 Uhr am 18.03.2006 zu einem Polizeieinsatz. Die
Angeklagte öffnete die Wohnungstüre und es kam zu einer ersten körperlichen
Auseinandersetzung mit den Polizeibeamten, welche aber nicht Gegenstand des
Verfahrens ist. Nachdem das Kind wegen der entstandenen Unruhe wach geworden
war, sollte sich die Angeklagte um die Tochter kümmern und nahm sie unter den
gebeugten rechten Arm, so dass der Kopf nach vorne und die Beine nach hinten hingen.
Im Rahmen des Gesprächs mit den Polizeibeamten gestikulierte und bewegte sich die
Angeklagte mit dem Kind unter dem Arm so wild, dass dieses mit dem Kopf gegen die
Wand schlug, was die Strafkammer rechtlich als fahrlässige Körperverletzung gewertet
hat.
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In der Folgezeit (zweiter Tatkomplex, von der Strafkammer als Misshandlung
Schutzbefohlener in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und
vorsätzlicher Körperverletzung gewertet) war die stark angetrunkene Angeklagte
darüber aufgebracht, dass ihr Freund B von der Polizei aus der Wohnung abgeführt und
nach draußen verbracht wurde. Deswegen lief sie - ihre Tochter unter dem gebeugten
rechten Arm haltend - zu einem Flurfenster, das 2-3 Meter über dem Erdboden war,
öffnete dieses, schrie den Polizeibeamten nach und bewegte sich so, dass der Kopf des
Kindes frei in der Luft war und es für die Polizisten den Anschein hatte, das Kind könne
herunter fallen. Hierdurch habe die Angeklagte versucht zu erreichen, dass B wieder
losgelassen wird. Als ein Polizist deswegen wieder in das Haus zurückkehrte, "floh" die
Angeklagte mit dem Kind unter dem Arm in die Wohnung. Dabei stieß das Kind erneut
mit dem Kopf gegen eine Wand. In der Wohnung warf die Angeklagte ihre Tochter aus
etwa 20 – 30 cm Höhe in Richtung Wohnzimmer auf den Boden. Später, als die
Angeklagte zum Einsatzfahrzeug verbracht werden sollte, kniff sie einen Polizeibeamten
in den Oberschenkel und biss ihm in die Finger, um sich so der Verbringung aus der
Wohnung zu entziehen. Der Beamte erlitt eine Quetschung und eine offene Wunde.
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Das Kind erlitt zwei kleinere Hämatome am Kopf. Das Landgericht geht davon aus, dass
sich die Tochter diese "größtenteils bei dem ersten Tatkomplex" zugezogen hat.
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Gegen das Urteil wendet sich die Angeklagte mit der Revision.
7
II.
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Die zulässige Revision der Angeklagten hat mit der – allein erhobenen – Sachrüge
Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung
der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts (§§ 349 Abs. 4, 354
Abs. 2 StPO).
9
1.
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Soweit die Angeklagte im zweiten Tatkomplex wegen Misshandlung Schutzbefohlener
in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und vorsätzlicher
Körperverletzung verurteilt worden ist, war das Urteil aufzuheben, weil die
Feststellungen weder eine Verurteilung nach § 225 StGB in objektiver und subjektiver
Hinsicht tragen, noch die Ausführungen zur erheblich verminderten Schuldfähigkeit der
Angeklagten frei von Rechtsfehlern sind.
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a) Die Feststellungen belegen bereits nicht die Voraussetzungen des objektiven
Tatbestands des § 225 StGB.
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aa) Aufgrund der bisherigen Feststellungen lässt sich nicht erkennen, dass die
Angeklagte ihre Tochter "gequält" hat. "Quälen" setzt das Verursachen länger
dauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden dar (BGHSt
41, 113, 115 ff.). Der besondere Unrechtsgehalt liegt in der ständigen Wiederholung
oder der langen Dauer der Zufügung erheblicher Schmerzen. Fraglich ist bereits, ob das
Kind dadurch, dass es bei der Flucht der Angeklagten vor der Polizei mit dem Kopf
gegen die Wand schlug und auf den Wohnzimmerboden aus 20-30 cm Höhe geworfen
wurde, erhebliche Schmerzen erlitt. So ist zur Wucht beider Handlungen, zum
Untergrund des Wohnzimmerbodens und wie das Kind auf diesem aufgekommen ist,
nichts festgestellt. Auch die Verletzungen des Kindes geben hierüber keinen
Aufschluss. Angesichts der bloßen Feststellung, dass diese überwiegend beim ersten
Vorfall (der fahrlässigen Körperverletzung) entstanden seien, ist bereits unklar, ob bzw.
inwieweit sie dem zweiten Tatkomplex zugeordnet werden können. Reaktionen des
Kindes auf diese Handlungen, die auf erhebliche Schmerzen hindeuten könnten,
werden im Urteil nicht mitgeteilt.
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Sofern das Landgericht in dem "Aus-dem-Fenster-Halten" des Kindes ein Quälen sieht,
hält auch dies rechtlicher Überprüfung nicht stand. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass –
wie das Landgericht meint – die Tochter hierdurch "in ihrer körperlichen Verfassung
beeinträchtigt" wurde, bzw. was mit dieser Aussage überhaupt gemeint ist. Soweit das
Berufungsgericht auf ein In-Angst-Versetzen der Tochter abstellt, reicht auch dieses für
sich genommen nicht aus. Zwar kann auch das Versetzen in Todesangst (welche hier
nicht konkret festgestellt wurde) ein Quälen darstellen (Fischer StGB 55. Aufl. § 225
Rdn. 8a). Indes muss das Opfer auch in der Lage sein, Todesangst zu empfinden. Das
ist bei einem 14 Monate alten Kind nicht der Fall. Die entsprechende
Wahrnehmungsfähigkeit zur Einschätzung von Situationen als lebensbedrohlich ist hier
noch nicht entwickelt (vgl. BGH NStZ 2006, 338, 339 zur entsprechenden Problematik
beim Mordmerkmal der Heimtücke).
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Schließlich ist auch nicht ersichtlich, wie durch das bloße Tragen des Kindes unter dem
Arm im offenen Fenster diesem Schmerzen zugefügt worden sein könnten.
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bb) Die Feststellungen belegen auch keine rohe Misshandlung der Tochter. Rohes
Misshandeln setzt eine gefühllose, fremdes Leiden missachtende Gesinnung voraus
(BGH NStZ 2004, 94, 95). Ferner müssen auch erhebliche Handlungsfolgen entstanden
sein (BGH NStZ 2007, 405). Beides ist hier nicht festgestellt. Die beiden kleineren
Hämatome würden für sich schon nicht als erhebliche Handlungsfolgen ausreichen.
Hier ist aber auch durch die Formulierung der Berufungskammer, dass die Verletzungen
größtenteils im ersten Tatkomplex entstanden seien, unklar, ob bzw. welche Folgen nun
auf die als Misshandlung Schutzbefohlener gewertete Tat entfallen. In der eventuellen
zweimaligen Schmerzzufügung im Rahmen einer emotional aufgeladenen Situation und
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unter erheblichem Alkoholeinfluss kann auch die gefühllose, fremdes Leiden
missachtende Gesinnung der Angeklagten – bei Fehlen jeglicher sonstigen
Anhaltspunkte – nicht ohne weiteres angenommen werden. Wie sich aus der Aussage
des Zeugen K ergibt, hatte dieser den Eindruck, die Angeklagte wollte durch den "Wurf"
ins Wohnzimmer das Kind seinem Zugriff entziehen. Die Angeklagte habe, als ihr dann
die Verbringung in den Gewahrsam angedroht wurde, gesagt, sie bringe sich um, wenn
man ihr das Kind wegnehme. Dies deutet eher darauf hin, dass die Angeklagte aus
einer – wenn auch falsch verstandenen, falsch und letztlich zum Nachteil des Kindes
gehandhabten - "Sorge" um die Tochter handelte.
cc) Für eine Gesundheitsbeschädigung durch böswillige Vernachlässigung fehlen
ebenfalls jegliche Anhaltspunkte.
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b) Gleichfalls sind die Ausführungen zum Vorsatz der Angeklagten nicht durchweg frei
von Rechtsfehlern. § 225 StGB setzt vorsätzliches Handeln voraus (§ 15 StGB).
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Im angefochtenen Urteil heißt es: "Auch musste die Angeklagte wissen, dass sie, wenn
sie ihre Tochter lediglich locker unter einem gebeugten Arm hielt, den Kopf nach vorn
herunterfallend und die Beine nach hinten, und so in die Wohnung zurücklief, ihre
Tochter erneut wie schon zuvor mit dem Kopf gegen die Wand prallen und sich so
verletzen könnte. Des weiteren musste sie wissen, dass sie ihre Tochter nicht in
Richtung Wohnzimmer aus einer Höhe von 20-30cm "werfen" konnte, ohne ihr weh zu
tun." Vorsätzlich handelt indes nur, wer bei Tatbegehung die Umstände des
gesetzlichen Tatbestandes kennt (§ 16 Abs. 1 StGB) oder deren Verwirklichung
zumindest billigend in Kauf nimmt, nicht aber schon derjenige, der sie lediglich hätte
erkennen müssen.
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c) Schließlich halten auch die Ausführungen zur erheblich verminderten (§ 21 StGB),
aber nicht fehlenden (§ 20 StGB) Schuldfähigkeit der Angeklagten rechtlicher
Überprüfung nicht stand. Die Strafkammer lässt nicht erkennen, von welcher Alternative
des § 21 StGB sie ausgeht. Beide Alternativen können aber nicht gleichzeitig gegeben
sein (BGHSt 40, 341, 349 f.); es darf auch nicht offen gelassen werden, ob die Einsichts-
oder Steuerungsfähigkeit des Täters vermindert war (BGH NStZ 2005, 205, 206; Fischer
StGB 55. Aufl. § 21 Rdn. 5). Die Urteilsgründe, die in sich widersprüchlich sind, lassen
die geforderte eindeutige Zuordnung nicht zu. Vielmehr ist sogar unklar, ob das
Berufungsgericht eine erheblich verminderte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit oder
eine erheblich verminderte Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit bejaht.
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So lässt das Landgericht an einer Stelle offen, ob die Angeklagte in ihrer Einsichts- oder
in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war (Bl. 248 d.A.). An anderer
Stelle heißt es, dass die "Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, das Unrecht der Tat
einzusehen, erheblich eingeschränkt" gewesen sei aufgrund einer bei der Angeklagten
vom Sachverständigen festgestellten emotional instabilen Persönlichkeitsstörung als
schwerer anderer seelischer Abartigkeit in Verbindung mit dem Tatzeit-BAK-Wert von
2,54 Promille (Bl. 255 d.A.).
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Ferner sind die Ausführungen zur Verneinung einer Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB
rechtlich bedenklich. Die Strafkammer begründet dies damit, dass Anhaltspunkte für
eine Aufhebung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht vorlägen, weil die
Angeklagte an den Tathergang teilweise Erinnerung habe und ausweislich des zwei
Stunden nach der Tat aufgenommenen Blutentnahmeprotokolls der Denkablauf
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geordnet, die Sprache sicher und das Bewusstsein klar gewesen sei und sich äußerlich
nur leichte bis mittlere Anzeichen für Alkoholeinwirkung gezeigt hätten. Insbesondere
der so beschriebene Zustand der Angeklagten zwei Stunden nach der Tat lässt aber für
sich genommen noch nicht den Schluss zu, dass dieser bei der Tat ebenso war.
Außerdem widersprechen diese Ausführungen Formulierungen an anderer Stelle im
Urteil, wonach es bei der Angeklagten unter Alkoholeinfluss zu "Kontrollverlusten"
komme und es hier zu einem derartigen unkontrollierten Verhalten gekommen sei (Bl.
237 f.). Diese Formulierungen deuten eher auf eine Schuldunfähigkeit hin.
Im übrigen hätte es einer ausführlicheren Darlegung der Ausführungen des
Sachverständigen bedurft, um das Revisionsgericht zu einer rechtlichen Überprüfung
der Wertung des Landgerichts zur Schuldfähigkeit der Angeklagten in die Lage zu
versetzen. Feststellung und Begründung der Diagnose einer Störung belegen nicht
deren strafrechtliche Relevanz i.S.v. §§ 20, 21 StGB. Entscheidend für die inhaltliche
Brauchbarkeit des Gutachtens ist, ob es wissenschaftlich hinreichend begründete
Aussagen über den Zusammenhang zwischen einer diagnostizierten psychischen
Störung und der Tat enthält, welche Gegenstand des Verfahrens ist. Es ist - unabhängig
von der Einordnung unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB - im Einzelnen konkret
darzulegen, ob und ggf. wie sich die Störung auf das Einsichts- oder
Hemmungsvermögen des Täters tatsächlich ausgewirkt hat (BGH NStZ 2005, 205, 206).
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e) Der Schuldspruch und die Feststellungen waren daher im zweiten Tatkomplex (zumal
Tateinheit angenommen wurde) insgesamt aufzuheben. Da noch weitere Feststellungen
erforderlich und möglich sind, war die Sache an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld zurückzuverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO).
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2.
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Angesichts der Rechtsfehler bei der Bewertung der Schuldfähigkeit waren auch der
Schuldspruch und die im übrigen rechtsfehlerfreien Feststellungen im ersten
Tatkomplex aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts zurückzuverweisen. Die obigen Ausführungen gelten hier in gleicher
Weise.
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