Urteil des OLG Hamm vom 24.04.2008

OLG Hamm: pflichtverteidiger, verfügung, rüge, körperverletzung, ermittlungsverfahren, meinung, waffengleichheit, handbuch, mitangeklagter, geständnis

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss 164/08
Datum:
24.04.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss 164/08
Vorinstanz:
Amtsgericht Recklinghausen, 31 Ls. 25 Js 1469/07 (207/07)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
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Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat gegen den Angeklagten wegen
(gemeinschaftlicher) gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB)
einen Dauerarrest von zwei Wochen verhängt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte
zunächst Rechtsmittel eingelegt und dann – nach Urteilszustellung am 18. Februar 2008
– mit am 27. Februar 2008 eingegangenem Schriftsatz vom 26. Februar 2008 erklärt,
dass das Rechtsmittel als Revision geführt werden soll. Zur Begründung hat der
Angeklagte "ausschließlich die Verfahrensrüge erhoben". Mit dieser macht er einen
Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO dadurch geltend, dass der Angeklagte im
Hauptverhandlungstermin nicht von einem (notwendigen) Verteidiger verteidigt worden
sei. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unzulässig zu
verwerfen.
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II.
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Das Rechtsmittel ist - entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft - zulässig
und hat auch in der Sache vorläufig Erfolg.
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1.
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Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist die Verfahrensrüge noch
ausreichend im Sinn des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO begründet worden. Nach dieser
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Vorschrift müssen bei Erhebung der Verfahrensrüge die den geltend gemachten
Verstoß enthaltenden Tatsachen so genau dargelegt werden, dass das
Revisionsgericht aufgrund dieser Darlegung das Vorhandensein – oder Fehlen – eines
Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind
oder bewiesen werden (vgl. u.a. für einen vergleichbaren Fall Senat in NStZ-RR 2001,
373 m.w.N.; vgl. auch noch Urteil des hiesigen 3. Strafsenats vom 12. Februar 2008 - 3
Ss 541/07 und auch Urteil des hiesigen 4. Strafsenats vom 15. April 2008 - 4 Ss 128/08).
Für die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO bedeutet das, dass das
Revisionsgericht allein aufgrund der Begründung der Verfahrensrüge - ggf. unter
Zuhilfenahme der Gründe des angefochtenen Urteils (vgl. dazu Senat, a.a.O.; Meyer-
Goßner, StPO, 50. Aufl., 2007, § 344 Rn. 20 m.w.N.) - prüfen können muss, ob ein Fall
der "notwendigen Verteidigung" vorgelegen hat und deshalb die Anwesenheit eines
Verteidigers in der Hauptverhandlung erforderlich war.
Dem wird die Revisionsbegründung des Angeklagten noch gerecht. Zutreffend ist
insoweit allerdings die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, dass dem Senat zur
Prüfung der ordnungsgemäßen Begründung der erhobenen Verfahrensrüge die Gründe
des angefochtenen tatrichterlichen Urteils nicht zur Verfügung stehen. Der Blick in diese
ist dem Senat verwehrt, da der Angeklagte "ausschließlich die Verfahrensrüge erhoben"
hat. Demgemäß kann das Revisionsgericht nicht zur Schließung etwaiger Lücken in der
Begründung der Verfahrensrüge auf die Urteilsgründe zurückgreifen (vgl. Senat, a.a.O.,
ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. u.a. BGH NStZ 1996, 145; 1997, 378; zuletzt
Beschluss vom 26. März 2008, 2 StR 61/08). Dies wäre nur bei einer zugleich
erhobenen zulässigen Sachrüge möglich.
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Der Vortrag zur Begründung der Verfahrensrüge ist jedoch noch ausreichend für den
geltend gemachten Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO. Aus dem insoweit unfangreichen
Revisionsvorbringen des Angeklagten ergibt sich, dass dieser 16 Jahre alt ist/war und
ihm der Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223,
224 Abs. 1 Nr. 4 StGB gemacht wird. Aus dem Revisionsvorbringen folgt weiter, dass
die beiden mitangeklagten Mittäter in der Hauptverhandlung anwaltlich vertreten waren.
Auch der "Nebenkläger", offenbar der Geschädigte, war anwaltlich vertreten. Der
Angeklagte trägt weiter vor, dass er bereits einschlägig strafrechtlich in Erscheinung
getreten war. Zur Hauptverhandlung waren sechs Tatzeugen geladen, von denen vier in
der Hauptverhandlung vernommen worden sind, und zwei Vernehmungsbeamte
geladen. Auf die Vernehmung der übrigen Zeugen ist verzichtet worden. Der Angeklagte
hat sich in der Hauptverhandlung zunächst nicht zur Sache eingelassen, nach Verzicht
auf die Vernehmung der Zeugen dann aber ein Geständnis abgelegt. Aus der
Revisionsbegründung ergibt sich außerdem, dass der Angeklagte die Bestellung eines
Pflichtverteidigers beantragt hatte. Dies hat das Jugendschöffengericht u.a. mit der
Begründung abgelehnt: "Der Angeklagte ist zwar laut Anklageschrift einschlägig
strafrechtlich in Erscheinung getreten, gleichwohl ist nicht mit der Verhängung einer
Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen."
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Dieses Vorbringen reicht nach Auffassung des Senats - obwohl ihm die Urteilsgründe
zur ergänzenden Einsicht nicht zur Verfügung stehen - für eine ordnungsgemäße
Begründung des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO aus. Der Angeklagte trägt noch ausreichend
die Tatsachen vor, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob ihm ein
Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen (vgl. Senat, a.a.O.).
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2.
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Die Rüge ist auch begründet. Die Revision hat mit der formellen Rüge eines Verstoßes
gegen § 338 Nr. 5 StPO vorläufig Erfolg, da dem Angeklagten als Heranwachsenden
vom Amtsgericht gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger hätte
beigeordnet werden müssen.
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Nach Auffassung des Senats kann erneut die Frage dahinstehen, ob im
Jugendgerichtsverfahren immer oder zumindest dann, wenn Jugendstrafe droht, ein
Pflichtverteidiger beizuordnen ist (vgl. OLG Hamm, StraFo 2004, 280; Burhoff,
Handbuch für strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 4. Aufl., 2006 An. 1234 m. w. N.; auch
offen gelassen von Senat im Beschluss vom 17. September 2007, 2 Ss 380/07, StV
2008, 120 und im Beschluss vom 19. November 2007, 2 Ss 322/07). Insoweit ist
allerdings nicht zu verkennen, dass das Jugendschöffengericht in seinem die Bestellung
des Pflichtverteidigers ablehnenden Beschluss selbst davon ausgegangen ist, dass
"nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen" ist.
Dies versteht der Senat allerdings nicht als einen unmittelbaren Hinweis auf die
konkrete Straferwartung, sondern nur als einen Hinweis auf die für das
Erwachsenenstrafrecht herrschende Meinung, wonach die Bestellung eines
Pflichtverteidigers immer dann erforderlich sein soll, wenn eine Straferwartung von mehr
als einem Jahr droht (vgl. u.a. Senat in NStZ-RR 2001, 373; offenbar a.A. Urteil des
hiesigen 3. Strafsenats vom 12. 2. 2008, 3 Ss OWi 541/07). Andererseits lässt sich
diesem Hinweis aber auch entnehmen, dass das Amtsgericht offenbar eine andere,
wesentliche einschneidendere Maßnahme als den dann letztlich verhängten
Dauerarrest von zwei Wochen für möglich hielt. Anderenfalls wäre der Hinweis des
Tatrichters nicht verständlich.
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Es kann jedoch dahinstehen, ob allein dieser Hinweis, der bei einem Jugendlichen
zumindest den Eindruck einer drohenden erheblichen Strafe erwecken und ihn deshalb
in seiner Verteidigungsfähigkeit einschränken wird, ausreicht, um die Notwendigkeit der
Bestellung eines Pflichtverteidigers zu begründen. Jedenfalls hätte dieser vorliegend
deshalb bestellt werden müssen, weil der erst 16-jährige Angeklagte nach Auffassung
des Senats aufgrund der Gesamtumstände nicht ausreichend fähig war, sich selbst zu
verteidigen. Insoweit ist der dem Angeklagten gemachte Vorwurf der gemeinschaftlichen
gefährlichen Körperverletzung von Bedeutung. Dies ist ein nicht unerheblicher Vorwurf,
der häufig - eben wegen der Beteiligung mehrerer Täter - nicht einfach aufzuklären und
festzustellen ist. Zu diesem Vorwurf waren insgesamt acht Zeugen, darunter allein
sechs Tatzeugen, geladen. Schon dies spricht für einen umfangreichen Verfahrensstoff
(vgl. dazu z.B. auch LG Osnabrück StV 1999, 249 für neun ausländische Zeugen), der
für einen 16-jährigen Jugendlichen nicht einfach zu handhaben ist. Besondere
Bedeutung hat in dem Zusammenhang, dass den beiden Mitangeklagten des
Angeklagten anwaltliche Hilfe ihrer Verteidiger in der Hauptverhandlung zur Verfügung
stand und auch der "Nebenkläger" anwaltlich vertreten war, wobei der Senat nicht
verkennt, dass die Nebenklage im Jugendrecht nach § 80 Abs. 3 JGG (noch) unzulässig
ist. Es kann dahinstehen, ob dann, wenn ein Mitangeklagter durch einen Verteidiger
vertreten wird, allen anderen Mitangeklagten immer ein Rechtsanwalt als
Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wofür allerdings der Rechtsgedanke des § 140 Abs. 2
Satz 1 Halbsatz 1 sprechen könnte (vgl. dazu OLG Hamm StV 1999, 11: OLG
Zweibrücken StV 2005, 491 m.w.N.; LG Dortmund StraFo 2002, 21; Meyer-Goßner,
a.a.O., § 140 Rn. 31). Jedenfalls gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens, im
Jugendrecht einem 16-jährigen Jugendlichen dann wegen Unfähigkeit der
Selbstverteidigung einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn alle anderen
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Verfahrensbeteiligten anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. zur Beiordnung eines
Pflichtverteidigers im Erwachsenenrecht dann, wenn der Verletzte sich eines
anwaltlichen Beistandes bedient, OLG Bremen StV 2004, 585 (Ls.), OLG Hamm StraFo
2004, 242; OLG München NJW 2006, 789; Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 31).
Insoweit ist die Beiordnung Ausfluss des "Prinzips der Waffengleichheit" (OLG Hamm,
a.a.O.). Dabei kann vorliegend dann in der Gesamtbetrachtung auch der "Hinweis" des
Jugendschöffengericht, dass "nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mehr als
einem Jahr zu rechnen ist", nicht übersehen werden, auch wenn letztlich nur ein
Dauerarrest von zwei Wochen verhängt worden ist.