Urteil des OLG Hamm vom 19.12.2006

OLG Hamm: unterbringung, psychische störung, persönliche anhörung, klinik, eingriff in grundrechtspositionen, stationäre behandlung, hauptsache, öffentlich, patientenverfügung, rechtswidrigkeit

Oberlandesgericht Hamm, 15 W 126/06
Datum:
19.12.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
15. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 W 126/06
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 9 T 87/06
Tenor:
Die sofortige weitere Beschwerde wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Beteiligte zu 2) hatte am 1.2.2006 unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses vom
31.1.2006 die geschlossene Unterbringung des Betroffenen auf der Grundlage des
PsychKG NW beantragt. Der Betroffene war am 31.1.2006 von der Polizei in ein
psychiatrisches Krankenhaus, die Westfälische Klinik E, eingeliefert worden. Er hatte
morgens gegen 11.00 Uhr in einer Gaststätte mit einer Schreckschusspistole einen
Schuss abgefeuert. Auf die eintreffenden Polizeibeamten machte er einen stark
alkoholisierten und verwirrten Eindruck und gab an, er habe sich die Waffe gekauft, um
sich das Leben zu nehmen. Er empfinde das Leben als nicht mehr lebenswert.
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Das Amtsgericht hörte den Betroffenen am 1.2.2006 in Gegenwart des Arztes Herrn M
persönlich an. Der Betroffene räumte ein, die Schreckschusswaffe gekauft zu haben, um
sich das Leben zu nehmen. Er habe Zukunftsängste. Jetzt sei er aber nicht mehr
lebensmüde. Er habe allerdings bereits früher Suizidversuche mit Tabletten
unternommen, zuletzt vor 2 Jahren. Er sei in ärztlicher Behandlung. Er trinke regelmäßig
4 bis 5 Flaschen Bier, in den letzten Tagen habe er bereits morgens mit dem Trinken
begonnen. Der Arzt Herr M erklärte zu Protokoll, der Betroffene sei in der Klinik bereits
mit den Diagnosen einer Psychose und einer Alkoholabhängigkeit bekannt. Aktuell
zeige er ein depressives klinisches Bild verbunden mit einer akuten Suizidalität und sei
nur sehr eingeschränkt absprache- und steuerungsfähig.
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Bereits am 31.1.2006 war beim Amtsgericht als Fax ein Schreiben eines
Bevollmächtigten des Betroffenen, Herrn Q aus C, eingegangen, dem eine Ablichtung
der Vorsorgevollmacht und eines weiteren Schreibens an die Klinik beigefügt war. In
diesem Schreiben heißt es u.a.:
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"Bitte tragen Sie Sorge dafür, daß die Gesetze eingehalten werden und
demzufolge, das Vormundschaftsgericht gar nicht mehr zuständig ist, da Herr I
sowieso sofort freizulassen ist und das ärztliche Personals sonst für eine
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Freiheitsberaubung zur Rechenschaft gezogen werden müsste."
Im Schreiben an die Klinik forderte der Bevollmächtige die Ärzte auf, den Betroffenen
sofort auf eine offene Station zu verlegen und ihm Medikamente nur mit seinem
Einverständnis zu verabreichen.
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Das Amtsgericht hat durch einstweilige Anordnung vom 1.2.2006 die geschlossene
Unterbringung des Betroffenen vorläufig für die Dauer von längstens 6 Wochen
angeordnet. Hiergegen hat der Betroffene mit Schriftsatz seines
Verfahrensbevollmächtigten vom 2.2.2006 sofortige Beschwerde eingelegt. Der
Betroffene wurde am 7.2.2006 aus der Klinik entlassen. Daraufhin hat das Amtsgericht
mit Beschluss vom 10.1.2006 die vorläufige Unterbringungsanordnung aufgehoben.
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Mit Schriftsatz vom 17.2.2006 hat der Betroffene beantragt, die Rechtswidrigkeit der
Unterbringungsanordnung vom 1.2.2006 festzustellen und seine notwendigen Auslagen
der Staatskasse aufzuerlegen. Das Landgericht hat nach Übertragung der Sache auf
den Einzelrichter die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 23.3.2006
zurückgewiesen. Hiergegen hat der Betroffene sofortige weitere Beschwerde eingelegt.
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Der Betroffene ist im Laufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens verstorben. Sein
Verfahrensbevollmächtigter hat daraufhin beantragt, nur noch über die Kosten zu
entscheiden.
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II.
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Die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen war ursprünglich nach den §§ 70m,
27, 29 FGG statthaft und insbesondere frist- und formgerecht eingelegt. Durch das
Versterben des Betroffenen nach Rechtsmitteleinlegung ist das Verfahren jedoch
beendet. Gegenstand bereits der landgerichtlichen Entscheidung war nurmehr die
Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch den Aufhebungsbeschluss des
Amtsgerichts vom 10.2.2006 beendeten Unterbringungsmaßnahme. Die Fortführung
des Verfahrens mit diesem Ziel war zulässig. Denn die Bejahung eines fortbestehenden
Rechtsschutzinteresses trotz Eintritt der Erledigung der Hauptsache beruht auf dem mit
der Freiheitsentziehung verbundenen tiefgreifenden Eingriff in Grundrechtspositionen
des Betroffenen (vgl. BVerfG NJW 2002, 2456; wistra 2006, 59; std. Rspr. des Senats).
Das so ausgestaltete Beschwerderecht ist jedoch höchstpersönlicher Natur und kann
nur vom Betroffenen ausgeübt werden. Wegen seines höchstpersönliche Charakters ist
dieses Beschwerderecht weder vererblich noch kann es durch dritte Personen
wahrgenommen werden (Senat, Beschl. v. 17.3.2006 – 15 W 461/05; BayObLG FamRZ
2001, 1645; KG FGPrax 2006, 182).
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Das Rechtsmittel konnte aber in zulässiger Weise auf den Kostenpunkt beschränkt
werden (vgl. Keidel/Zimmermann, a.a.O., § 20a Rn. 6). In diesem Punkt ist das
Verfahren nicht durch den Tod des Betroffenen beendet, da es sich nicht um
höchstpersönliche Ansprüche handelt (vgl. KG FGPrax 2006, 182). Nach dem Tod des
Betroffenen war das Verfahren insoweit mit den derzeit noch nicht bekannten Erben,
vertreten durch den Verfahrensbevollmächtigten fortzusetzen. Dessen Vollmacht ist
durch den Tod des Betroffenen nicht aufgehoben worden (§ 86 ZPO).
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Der Senat hat allerdings bisher in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten,
dass in Verfahren, in denen die einstweilige öffentlich-rechtliche Unterbringung in Rede
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steht, für eine Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des
Betroffenen kein Raum ist, dass vielmehr über die Kosten dieses unselbständigen
Verfahrensabschnitts vielmehr im Rahmen des Verfahrens zur Hauptsache zu befinden
ist (Beschluss vom 2.2.1995 – 15 W 295/94, FamRZ 1995, 1595 mit weiteren
Nachweisen). Demgegenüber haben andere Oberlandesgerichte in Fällen, in denen
sich die Hauptsache noch während des Beschwerdeverfahrens gegen die einstweilige
Maßnahme erledigt hat, eine Entscheidung über die Erstattung der Kosten des
Betroffenen im Rahmen der Entscheidung über die Beschwerde gegen die einstweilige
Maßnahme für zulässig erachtet (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29.4.2003 - 3Z BR
68/03, FamRZ 2003, 1777 (Ls.) = BayVBl. 2004, 25, zitiert nach JURIS; OLG München,
Beschluss vom 7. Juli 2006 – 33 Wx 146/05, NJW-RR 2006, 1377 = FamRZ 2006, 1617;
Thür. OLG, Beschluss vom 20.10.2000 – 6 W 434/00, zitiert nach JURIS; vgl. auch
Keidel/Zimmermann, FG, 15. Aufl., § 13a Rn. 3).
Der Senat schließt sich dieser Auffassung unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung an. Maßgebend dafür ist, dass die jüngere Rechtsprechung – im
Gegensatz zur früheren verfahrensrechtlichen Handhabung – die Fortsetzung des in der
Hauptsache erledigten Verfahrens mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Unterbringungsmaßnahme zuläst (siehe dazu die obigen Ausführungen). Auf einen
solchen Antrag ist daher in dem fortzusetzenden Rechtsmittelverfahren abschließend
über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme zu entscheiden. Folglich muss in diesem
Verfahren auch über die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten des
Betroffenen nach § 13a Abs. 2 FGG entschieden werden, weil diese Entscheidung – wie
sich aus den nachstehenden Gründen ergibt – inhaltlich von derjenigen über die
Rechtmäßigkeit der Unterbringung in der Hauptsache abhängt. Dieser
verfahrensrechtliche Zusammenhang bleibt auch dann erhalten, wenn sich das
Verfahren über den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme
seinerseits erledigt und deshalb ein eingelegtes Rechtsmittel in zulässiger Weise auf
den Kostenpunkt beschränkt wird.
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In der Sache hat die sofortige weitere Beschwerde jedoch keinen Erfolg, weil die
angefochtene Entscheidung, soweit sie noch Gegenstand des Verfahren ist, nicht auf
einer Verletzung des Rechts beruht (§ 27 Abs. 1 S. 1 FGG).
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Das mit einer zulässigen Erstbeschwerde des Betroffenen befasste Landgericht hat im
Ergebnis zu Recht davon abgesehen, die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen
der Stadt E als Körperschaft, der das antragstellende Ordnungsamt angehört, oder der
Staatskasse aufzuerlegen. Zwar ist ausdrücklich der Antrag gestellt, die notwendigen
Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Das hiermit verfolgte Rechtsschutzziel würdigt
der Senat jedoch dahingehend, dass mit dem Antrag eine Erstattung der Auslagen
angestrebt wird, unabhängig von der Person des Pflichtigen.
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1. Eine Erstattungspflicht der Stadt E ist weder nach § 13a Abs. 2 S. 3 FGG noch nach §
13a Abs. 1 S. 1 FGG begründet.
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Gemäß § 13a Abs. 2 S. 3 FGG hat das Gericht die Auslagen des Betroffenen der
Körperschaft, der die für die Antragstellung zuständige Verwaltungsbehörde angehört,
aufzuerlegen, wenn ein Antrag auf eine öffentlich-rechtliche Unterbringungsmaßnahme
nach § 70 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 FGG abgelehnt oder zurückgenommen wird und das
Verfahren ergeben hat, dass für die Verwaltungsbehörde ein begründeter Anlass, den
Unterbringungsantrag zu stellen, nicht vorlag. Eine unmittelbare Anwendung dieser
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Vorschrift scheidet vorliegend allerdings aus, da der Antrag des Beteiligten zu 2) vom
1.2.2006 weder abgelehnt noch zurückgenommen worden ist, sondern sich das
Verfahren vielmehr bereits durch die nachträgliche Aufhebung der
Unterbringungsmaßnahme nach § 70i Abs. 1 FGG erledigt hat.
Überwiegend wird eine entsprechende Anwendung des § 13a Abs. 2 S. 3 FGG auf
diese Konstellation abgelehnt und § 13a Abs. 1 FGG als Grundlage für die
Kostenentscheidung herangezogen (vgl. BayObLGZ 1993, 381; FamRZ 2003, 1777;
KG, FGPrax 2006, 182; Keidel/Zimmermann, FG, 15. Aufl., § 13a Rn. 51l;
Bassenge/Herbst/Roth, FGG/RPflG, 10. Aufl., § 13a FGG, Rn. 22; Bumiller/Winkler, FG,
8. Aufl., § 13a Rn. 27; Damrau/Zimmermann, Betreuungsrecht, 3. Aufl., § 13a Rn. 45;
Knittel, Betreuungsgesetz, §13a FGG, Rn. 28). Der Senat hat hingegen eine analoge
Anwendung für möglich erachtet, wenn sich das Verfahren vor einer Entscheidung in
der Hauptsache durch Beendigung bereits der vorläufigen Unterbringung erledigt
(BtPrax 2004, 75).
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Für das Ergebnis ergibt sich hieraus jedoch kein Unterschied, da das Landgericht
zutreffend festgestellt hat, dass die Unterbringungsanordnung des Amtsgerichts zu
Recht ergangen ist. Hieraus folgt, dass für den Beteiligten zu 2) ein begründeter Anlass
zur Stellung des Antrags bestanden hat und zugleich auch unter
Billigkeitsgesichtspunkten die Anordnung einer Kostenerstattung zu Lasten der Stadt E
nicht gerechtfertigt ist.
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Nach § 11 Abs. 1 PsychKG NW ist die Unterbringung von Personen, die an einer
Psychose leiden, zulässig, wenn und solange durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten
gegenwärtig eine erhebliche Selbstgefährdung oder eine erhebliche Gefährdung
bedeutender Rechtsgüter anderer besteht, die nicht anders abgewendet werden kann.
Gegenwärtig ist die Gefahr gemäß Abs. 2 der genannten Vorschrift dann, wenn ein
schadensstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar
unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist. Für die
Gewissheit des Gefahreneintritts genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad
an Gewissheit jederzeitigen Eintritts. Berücksichtigung können auch die Persönlichkeit
des Betroffenen, seine aktuelle Befindlichkeit und seine zu erwartenden
Lebensumstände finden (vgl. BayObLG NJW 2000, 881; OLG Köln, OLGReport 2004,
74).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht eine gegenwärtige
Eigengefährdung des Betroffenen bejaht und ausgeführt, der Betroffene habe zum
Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung ein depressives klinisches Bild geboten
verbunden mit akuter Suizidalität bei bekannter Psychose und Alkoholabhängigkeit.
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Die Tatsachenwürdigung des Landgerichts ist im Rahmen der Rechtsbeschwerde nur
darauf nachprüfbar, ob der Tatrichter den maßgebenden Sachverhalt ausreichend
ermittelt (§ 12 FGG), sich bei der Beurteilung des Beweisstoffes mit allen wesentlichen
Umständen auseinandergesetzt (§ 25 FGG) und hierbei nicht gegen gesetzlichen
Beweisregeln und Verfahrensvorschriften sowie gegen Denkgesetze und zwingende
Erfahrungssätze verstoßen hat (Keidel/Meyer-Holz, FG, 15. Aufl., § 27 Rn. 42). Derartige
Rechtsfehler lässt die landgerichtliche Entscheidung nicht erkennen.
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Das Landgericht konnte seine tatsächlichen Feststellungen auf das bei der persönlichen
Anhörung des Betroffenen mündlich erstattete ärztliche Zeugnis des Arztes der
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Westfälischen Klinik E M stützen, ferner die eigenen Angaben des Betroffenen während
der persönlichen Anhörung und den ausführlichen Polizeibericht. Ausweislich des
Polizeiberichts hatte der Betroffene gegenüber den Polizeibeamten geäußert, er habe
sich die Schreckschusspistole gekauft, um sich das Leben zu nehmen; dieses empfinde
er als nicht mehr lebenswert. Bei der richterlichen Anhörung hat der Betroffene die
Suizidabsicht eingeräumt und über Zukunftsängste berichtet. Er hat zudem berichtet,
dass es in der Vergangenheit bereits zu mehreren Suizidversuchen gekommen sei.
Ergänzend hätte das Landgericht noch das schriftliche ärztliche Zeugnis des Arztes der
Westfälischen Klinik E X berücksichtigen können, das dem Betroffene eine psychische
Störung sowie eine Suchtkrankheit attestiert und weiter ausführt, der Betroffene sei
alkoholintoxikiert, nicht steuerungsfähig und äußere suizidale Ideen. Ausweislich des
Anhörungsvermerks lag bei dem Betroffenen zudem zum Zeitpunkt der Zuführung zur
Klinik eine Blutalkoholkonzentration von über 2 Promille vor.
Dass bei dem Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vormundschaftsgerichts
eine psychische Störung i.S. des § 11 Abs. 1 PsychKG NW vorlag, ist letztlich auch
weder mit der Erst- noch mit der weiteren Beschwerde in Abrede gestellt worden. Mit
Rücksicht auf die früheren Suizidversuche, die noch in der persönlichen Anhörung
geschilderten aktuellen Ängste und die ärztlicherseits attestierte stark eingeschränkte
Absprache- und Steuerungsfähigkeit musste das Amtsgericht der Erklärung des
Betroffenen, er sei aktuell nicht mehr lebensmüde, keine entscheidende Bedeutung
beimessen.
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Das Landgericht hat sich nicht ausdrücklich mit der Frage auseinander gesetzt, ob die
sofortige geschlossene Unterbringung des Betroffenen zur Abwehr der festgestellten
gegenwärtigen Suizidgefahr erforderlich war. Aus den vom Landgericht getroffenen
tatsächlichen Feststellungen ergibt sich jedoch ohne weiteres, dass der Suizidgefahr
nur durch eine solche Unterbringung des Betroffene begegnet werden konnte. Es ist
nicht erkennbar, dass ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden hätte, um der Gefahr
eines erneuten Selbsttötungsversuches des Betroffenen zu begegnen. Die Behandlung
auf einer offenen Station stellt entgegen der in der Erstbeschwerde vertretenen
Auffassung kein taugliches Mittel dar, um einer akuten Suizidalität zu begegnen. Dort
stehen gerade nicht in dem notwendigen Umfang die Sicherungs- und
Überwachungsmaßnahmen zur Verfügung, um einen in der Absprache- und
Steuerungsfähigkeit stark eingeschränkten Patienten an weiteren
Selbsttötungsversuchen unmittelbar auf der Station oder an einem Verlassen der Station
in der Absicht, einen erneuten Selbsttötungsversuch an einem anderen Ort zu begehen,
zu hindern.
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Auch einem psychisch Kranken muss allerdings in gewissen Grenzen die "Freiheit zur
Krankheit" belassen bleiben (BVerfGE 58, 208; NJW 1998, 1774). Soweit aber – wie
hier - die gegenwärtige Gefahr einer Selbsttötung besteht, sind diese Grenzen
offensichtlich überschritten und der Staat befugt, den kranken Menschen vor sich selbst
zu schützen.
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Zutreffend ist das Landgericht weiter davon ausgegangen, dass auch die
Vorsorgevollmacht des Betroffenen vom 9.4.2005 und die Erklärungen des
Bevollmächtigten Herrn Q vom 31.1.2006 der Anordnung der geschlossenen
Unterbringung nicht entgegen standen. Das Vorhandensein einer Vorsorgevollmacht
bewirkt nicht bereits für sich gesehen die Unzulässigkeit einer öffentlich-rechtlichen
Unterbringung. Ist aus der Sicht des vom Ordnungsamt angerufenen Gerichts wegen
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einer akuten Selbstgefährdung eine geschlossene Unterbringung des Betroffenen zur
Gefahrenabwehr erforderlich, scheidet die öffentlich-rechtliche Unterbringung nur dann
aus oder ist aufzuheben, wenn der Betreuer oder - wie hier - der
Vorsorgebevollmächtigte die objektiv gebotene Beseitigung der Gefährdung mit gleicher
Wirksamkeit anstrebt und etwa durch privatrechtliche Unterbringung nach § 1906 BGB
gewährleistet (OLG Köln, OLGReport 2004, 116; Dodegge/Zimmermann, PsychKG
NRW, 2. Aufl., § 11 Rdnr. 17; vgl. auch Senat, BtPrax 2000, 36). Das lässt sich auch aus
§ 11 Abs. 3 PsychKG NRW herleiten, wonach die Unterbringung dann aufzuheben ist –
d.h. aber auch von Anfang an nicht möglich ist (Dodegge/Zimmermann, a.a.O.) – wenn
Maßnahmen nach den in § 1 Abs. 3 genannten Bestimmungen (etwa die privatrechtliche
Unterbringung nach § 1906 BGB) erfolgen. Die öffentlich-rechtliche Unterbringung tritt
hingegen jedenfalls dann nicht als subsidiär hinter die Möglichkeit einer Unterbringung
nach den Vorschriften des BGB zurück, wenn der Betreuer oder
Vorsorgebevollmächtigte die den Umständen nach dringend gebotene Fürsorge für den
Betroffenen vermissen lässt und dem Schutzbefohlenen dadurch schweren Schaden
zuzufügen droht (vgl. BVerfGE 58, 208 = NJW 1982, 691).
So liegt es hier: Durch die Vorsorgevollmacht war den beiden Bevollmächtigten, und
zwar jedem für sich allein, die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen u.a. für den
Bereich der Gesundheitsfürsorge und der Entscheidung über freiheitsentziehende
Maßnahmen, namentlich die Unterbringung in einer Klinik übertragen. Diese ihm in der
Vorsorgevollmacht übertragene Verpflichtung hat der Bevollmächtigte Herr Q verkannt,
indem er von der Klinik die Verlegung des Betroffenen von der geschlossenen in eine
offene Station verlangt hat, die der Betroffene jederzeit hätte verlassen können, obwohl
objektiv – wie oben dargelegt - eine geschlossene Unterbringung zum Wohle des
Betroffenen geboten war.
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Soweit mit der Beschwerde und der Rechtsbeschwerde vorgetragen worden ist, der
Betroffene habe in einer Vereinbarung zur Vorsorgevollmacht bzw. einer
Patientenverfügung für die Bevollmächtigten festgelegt, dass eine notwendige
Behandlung nur von Ärzten durchgeführt werden dürfe, die keine Psychiater seien und
eine stationäre Behandlung ausschließlich auf nichtpsychiatrischen Stationen
durchgeführt werde solle, so ist dieses Dokument weder mit den Schreiben vom
31.1.2006 an das Amtsgericht und die Klinik noch im Rahmen des
Rechtsmittelverfahrens vorgelegt worden. In der Vorsorgevollmacht selbst sind derartige
Bestimmungen nicht enthalten. Im Gegenteil hebt die Vollmacht ausdrücklich hervor,
dass der Bevollmächtigte zu freiheitsentziehenden Maßnahmen berechtigt sein soll, die
zum Wohle des Vollmachtgebers erforderlich erscheinen, weil der begründete Verdacht
einer erheblichen Eigengefährdung vorliege.
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Ob der Betroffene tatsächlich eine derartige Patientenverfügung errichtet hat, musste
durch das Landgericht nicht weiter aufgeklärt werden.
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Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob ein derartiger Wunsch des
Betroffenen – unterstellt der Betroffene hätte zum Zeitpunkt der Abfassung einer
entsprechenden Patientenverfügung seinen Willen frei bestimmen können - einer
geschlossenen Unterbringung zum Zwecke der Abwehr der Gefahr einer Selbsttötung
überhaupt entgegen stehen würde. Die von der Rechtsbeschwerde gezogene Parallele
zur Beachtlichkeit von Patientenverfügung im Zusammenhang mit dem Abbruch
lebenserhaltender Maßnahmen (BGH, NJW 2003, 1588) überzeugt jedenfalls nicht. Die
Zulässigkeit eines Behandlungsabbruchs setzt nach der Rechtsprechung des BGH
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neben einer entsprechenden antizipierten Willensbildung des Betroffenen weiter voraus,
dass die Erkrankung einen unumkehrbaren und tödlichen Verlauf angenommen hat und
dass der Betroffene auf Dauer einwilligungsunfähig ist. Diese Voraussetzungen liegen
jedoch offensichtlich nicht vor, wenn der Betroffene aufgrund einer psychischen Störung
suizidal und zu einer freien Willensbestimmung außerstande ist, es sich dabei aber nur
um einen vorübergehenden Zustand handelt.
Im Übrigen wären selbst im Fall eines freiverantwortlichen Suizidversuchs
Zwangsmaßnahmen zur Rettung des Lebensmüden nicht grundsätzlich unzulässig (vgl.
di Fabio in: Maunz/Dürig, GG, Stand Juni 2006, Art. 2 Abs. 2 Rn.47 f.) So hat der 3.
Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 4.7.1984 (BGHSt 32, 367 = NJW 1984, 2639)
ausdrücklich offengelassen, ob das Verbot ärztlicher Eingriffe gegen den Willen des
Patienten auch dann gelte, wenn es sich um einen zu rettenden Suizidenten handele.
Sei der Patient nicht mehr urteilsfähig – im entschiedenen Fall infolge einer aufgrund
des Suizidversuchs eingetretenen Bewusstlosigkeit – dürfe sich der Arzt nicht allein
nach dessen vor Eintritt der Urteilsunfähigkeit erklärten Willen richten, sondern habe in
eigener Verantwortung eine Entscheidung über Vornahme oder Nichtvornahme
lebensrettender Maßnahmen zu entscheiden (BGH, a.a.O.; vgl. ferner NStZ 2003, 537).
Auch bei einem freiverantwortlichen Selbstmordversuch kann mit Blick auf den sich aus
der Werteordnung des Grundgesetzes ergebenden vorrangigen Schutz menschlichen
Lebens ein vorübergehender Freiheitsentzug gerechtfertigt sein, wenn auf Grund der
objektiven Gegebenheiten Hoffnung besteht, dass der Betroffene aus der Krise
herausfindet und es deshalb zunächst entscheidend auf einen Zeitgewinn ankommt
(vgl. Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 34 Rn. 33).
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Hierauf kommt es im vorliegenden Fall jedoch nicht entscheidend an, da die behauptete
antizipierte Willensäußerung des Betroffenen dem Vormundschaftsgericht jedenfalls
zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht bekannt war und damit auch nicht der
Entscheidung zugrunde gelegt werden konnte, und es insoweit auch seine Pflicht, den
Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 12 FGG), nicht verletzt hat. Weder die
Erklärungen des Betroffenen selbst bei seiner persönlichen Anhörung noch die
Vorsorgevollmacht noch die Schreiben des Bevollmächtigten vom 31.1.2006 an das
Gericht und an die Klinik enthalten Hinweise auf eine derartige Patientenverfügung. Die
erteilte Vorsorgevollmacht lässt vielmehr, wie bereits dargelegt, auf den Wunsch des
Betroffenen schließen, bei einer erheblichen Eigengefährdung zu seinem Schutz
notfalls auch geschlossen untergebracht zu werden.
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Auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht lässt die amtsgerichtliche Entscheidung keine
Rechtsfehler erkennen. Insbesondere hat das Amtsgericht die nach §§ 70h Abs. 1, 69f
Abs. 1 Nr. 4 FGG gebotene persönliche Anhörung des Betroffenen vorgenommen. Einer
weiteren Anhörung des Bevollmächtigten bedurfte es jedenfalls im Rahmen der
Entscheidung über die vorläufige Unterbringungsmaßnahme nicht, da dieser sich
bereits schriftlich geäußert hatte. Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers (§§ 70h
Abs. 1, 69f Abs. 1 Nr. 3, 70b FGG) durfte das Amtsgericht absehen. Es ist nicht zu
beanstanden, wenn das Amtsgericht aufgrund der persönlichen Anhörung zu der
Überzeugung gelangt ist, dass der Betroffene trotz seiner Erkrankung seine
Verfahrensrechte selbst wahrnehmen konnte. Dass der Betroffene dann in der Folge
selbst einen Verfahrensbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen
bevollmächtigt hat, bestätigt diese Einschätzung. Zusätzlich hätte es berücksichtigen
können, dass die Interessen des Betroffenen bereits durch den
Vorsorgebevollmächtigten wahrgenommen wurden und des auch aus diesem Grund der
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Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht bedurft hätte.
2. Auch die Anordnung der Erstattung der außergerichtlichen Kosten durch die
Staatskasse kommt nicht in Betracht.
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Da die Staatskasse nicht Verfahrensbeteiligte ist, findet § 13a Abs. 1 FGG keine
Anwendung (OLG München, NJW-RR 2006, 1377 = FamRZ 2006, 1617;
Keidel/Zimmermann, a.a.O., Rn. 51l; Damrau/Zimmermann, a.a.O., § 13a FGG, Rn. 45;
Knittel, a.a.O., § 13a Rn. 27; Bassenge/Herbst/Roth, a.a.O., § 13a FGG Rn. 5;
Bumiller/Winkler, a.a.O., § 13a Rn. 10).
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Der Senat kann in diesem Zusammenhang dahingestellt sein lassen, ob er sich der
Auffassung anschließen kann, § 13a Abs. 2 S. 1 FGG müsse zumindest dann im Falle
einer öffentlich-rechtliche Unterbringung entsprechend angewendet werden, wenn nach
Erledigung der Hauptsache auf den Antrag des Betroffenen hin die Rechtswidrigkeit der
Unterbringungsanordnung wegen Verletzung der Vorschriften über die persönliche
Anhörung festgestellt werde (so OLG München, NJW-RR 2006, 1377 = FamRZ 2006,
1617; a.A. aber BayObLGZ 1993, 381; KG, FamRZ 1993, 84; OLG Frankfurt, OLGReport
1995, 264). Jedenfalls würde im vorliegenden Fall eine solche Erstattungsanordnung
bereits deshalb nicht der Billigkeit entsprechen, weil die Unterbringungsanordnung aus
den vorstehenden Gründen rechtmäßig war.
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