Urteil des OLG Hamm vom 17.06.2004

OLG Hamm: geschwindigkeitsüberschreitung, aufklärungspflicht, höchstgeschwindigkeit, messung, ordnungswidrigkeit, beweismittel, beweiswürdigung, beweisantrag, antenne, strahlung

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 315/04
Datum:
17.06.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 315/04
Vorinstanz:
Amtsgericht Gütersloh, 12 OWi 63 Js 195/04 - AK 66/04
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Gütersloh
zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Das Amtsgericht Gütersloh hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Begehung einer
Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 41 Abs. 2 (Zeichen 274), 49 StVO, § 24 StVG zu einer
Geldbuße in Höhe von 350,- € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer von
zwei Monaten verhängt. Nach den zugrunde liegenden Feststellungen befuhr der
Betroffene am 19.09.2003 gegen 16.13 Uhr als Führer des PKW mit dem amtlichen
Kennzeichen ######## in W die Bielefelder Straße (L 791) in Fahrtrichtung G. In Höhe
der Autobahnbrücke hielt er außerorts eine Geschwindigkeit von 134 km/h ein, obwohl
an dieser Stelle die Geschwindigkeit durch Zeichen 274 des § 41 Abs. 2 StVO auf 70
km/h begrenzt war.
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Der Betroffene hatte sich zur Sache nicht eingelassen. Im Rahmen der
Beweiswürdigung hat das Amtsgericht u.a. Folgendes ausgeführt:
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"Die Höhe der vom Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit steht fest aufgrund
des Messergebnisses der mobilen Überwachungsanlage des Typs Traffipax
"speedophot" im Radareinsatzcontainer Typ "Speedoguard", wie es im Datenfeld
des Lichtbildes Blatt 12 unten der Akte, auf dessen Einzelheiten gem. §§ 46 OWiG,
273 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen wird, dokumentiert ist. Angesichts der im
Messprotokoll niedergelegten Bemerkungen und der eichamtlichen Bescheinigung
des Eichamtes Düsseldorf vom 04.09.2003 über die zum Vorfallszeitpunkt gültige
Eichung des Geschwindigkeitsmessgerätes hat das Gericht keine Zweifel an der
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Ordnungsmäßigkeit der Messung. Deshalb brauchte auch den Beweisanträgen der
Verteidigung nicht mehr nachgegangen zu werden. Dass keine Anullierungen
vorhanden waren, ergibt sich bereits aus dem Messprotokoll, wo unter der Rubrik
"Bemerkungen/Störungen im Einsatzverlauf" "keine" eingetragen ist. Weiterhin
handelt es sich hier um ein standardisiertes Messverfahren.
Sachverständigengutachten sind bei derartigen Messungen nur erforderlich, wenn
sich konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlmessung ergeben. Solche sind jedoch
hier nicht ersichtlich. Zudem sind die Beweisanträge verspätet gestellt. Es ist nicht
ersichtlich, warum sie nicht bereits im Vorverfahren angekündigt worden sind, so
dass im Falle ihrer Berücksichtigung eine Aussetzung der Hauptverhandlung nicht
erforderlich gewesen wäre (vgl. § 77 Abs. 2 Ziff. 2 OWiG).
Von dem im Datenfeld des Lichtbildes vom Vorfall ausgewiesenen Messwert von
139 km/h wurde ein Toleranzabzug in Höhe von 5 km/h zugunsten des Betroffenen
vorgenommen."
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Das Amtsgericht hat es nach dem festgestellten Sachverhalt als erwiesen angesehen,
dass der Betroffene vorsätzlich eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 2 (Zeichen
274), 49 StVO, § 24 StVG begangen hat. In den Urteilsgründen heißt es hierzu:
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"Er hat nämlich nicht nur die Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h nicht
beachtet, sondern darüber hinaus die gem. § 3 Abs. 3 Ziff. 2 c StVO auf
Bundesstrassen allenfalls zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 34
km/h überschritten. Eine derart hohe Differenz kann einem auch nur einigermaßen
geübten Autofahrer nicht verborgen geblieben sein. Es ist davon auszugehen, dass
der Betroffene allein schon visuell bemerkt hat, dass er erheblich schneller als 100
km/h fuhr."
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er rügt mit
näheren Ausführungen die Verletzung formellen Rechts, nämlich die rechtsfehlerhafte
Ablehnung in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge und die Verletzung der
dem Amtsgericht obliegenden Amtsaufklärungspflicht. Ferner hat der Betroffene die
Sachrüge erhoben, durch die er u.a. die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen
Verkehrsordnungswidrigkeit beanstandet.
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II.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist form- und
fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat in der Sache einen zumindest
vorläufig Erfolg und führt auf die erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils in vollem Umfang und zur Zurückverweisung der Sache an das
Amtsgericht Gütersloh.
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Mit Erfolg rügt die Revision die Ablehnung der im Hauptverhandlungstermin gestellten
Beweisanträge der Verteidigung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG. Die Anträge zum
Beweis des Vorliegens einer fehlerhaften Messung durch Ladung und Vernehmung des
Messbeamten Hellemeyer und durch Einholung eines Sachverständigengutachtens
sind durch das Amtsgericht zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt worden, dass sie
zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich seien. Diese Rügen sind auch
ordnungsgemäß ausgeführt worden i.S.d. § 340 Abs. 2 StPO. Für den vorliegenden Fall
kann es dahingestellt bleiben, ob die Ablehnung eines Beweisantrages im
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Rechtsbeschwerdeverfahren praktisch nur mit der Aufklärungsrüge geltend gemacht
werden kann bzw. die Verfahrensrüge der Ablehnung eines Beweisantrages inhaltlich
mit der Aufklärungsrüge übereinstimmt (so Göhler, OWiG, 13. Aufl., Rdnr. 10 zu § 77;
OLG Köln, VRS 78, 467, 77, 472; Bay.VRS 87, 367) oder ob die Ablehnung des
Beweisantrages selbstständig gerügt werden kann (so Senge in KK, OWiG, 2. Aufl.,
Rdnr. 52 zu § 77 m.w.N.). Neben der insoweit erhobenen Verfahrensrüge der
unzulässigen Ablehnung der Beweisanträge hat der Betroffene die Aufklärungsrüge
gemäß §§ 244 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG ordnungsgemäß erhoben.
Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der festgestellten
Geschwindigkeitsüberschreitung ausschließlich auf die durch Bezugnahme in den
Urteilsgründen einbezogenen Fotos Bl. 8 - 12 d.A. von der Radarmessung gestützt
sowie auf den Inhalt des Messprotokolls und die eichamtliche Bescheinigung des
Eichamtes Düsseldorf vom 04.09.2003. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen
Überprüfung nicht Stand.
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Das Amtsgericht konnte nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme nicht
ohne Rechtsfehler zu der Überzeugung gelangen, dass der Betroffene sich der
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 64 km/h schuldig gemacht
hat, denn das erzielte Beweisergebnis war zur Bildung dieser richterlichen
Überzeugung nicht ausreichend.
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Zwar handelt es sich bei dem durchgeführten Geschwindigkeitsmessverfahren mit der
mobilen Überwachungsanlage des Typs Traffipax "speedophot" um ein standardisiertes
Messverfahren, so dass lediglich bei konkreten Anhaltspunkten für eine Fehlmessung
eine nähere Überprüfung des dokumentierten Messergebnisses erforderlich ist (BGHSt
39, 291, 300 f.). Solche Anhaltspunkte für einen eventuellen Messfehler, der die
Messung zu Lasten des Betroffenen beeinflusst haben kann, lagen hier deshalb vor,
weil auf dem Beweisfoto Bl. 12 d.A. ersichtlich ist, dass sich in unmittelbarer Nähe des
gemessenen Fahrzeugs großflächige Betonwände befanden. Bei dem
Verkehrsradargerät Traffipax "speedophot" besteht wie bei allen Radar-
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messverfahren das Risiko von Reflektions-Fehlmessungen, wenn die Radarstrahlen
von Flächen, insbesondere Metall und z.T. auch von Betonflächen, reflektiert werden
(vgl. Klaus-Peter Becker, Geschwindigkeitsüberschreitung im Straßenverkehr, 2. Aufl.,
2.1.1.2. (Seite 60)). Auch besteht das Risiko von Reflektionsmöglichkeiten, wenn
gegenüber dem Aufstellungsort des Radargerätes sich ein Gegenstand, z.B. eine
Gebäudemauer oder eine Mauerpartie befindet, welche senkrecht zu der vom Fahrzeug
reflektierten Strahlung verläuft (Becker, a.a.O.). Das Radargerät Traffipax "speedophot"
gilt wegen seiner hohen Sendefrequenz gegen Reflektionen des Radarstrahls an
Reflektoren als anfällig. Bei der Wahl des Aufstellortes wird deshalb empfohlen darauf
zu achten, dass sich im wirksamen Strahlungsbereich der Antenne kein großflächiger
Reflektor befindet (Becker, a.a.O., 2.1.2.6. (Seite 90); Beck-Löhle, Fehlerquellen bei
polizeilichen Messverfahren, 6. Aufl., 2.4.4., Seite 30 zu Traffipax-speedophot; Ludovisy
(Hrsg.), Praxis des Straßenverkehrsrechts, 2. überarb. Aufl., Teil 8 Randnummern 29 ff.,
116).
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Aufgrund dieser für den Tatrichter auf dem Foto ohne weiteres ersichtlichen
Besonderheit der nahegelegenen Betonflächen war die Ablehnung der gestellten
Beweisanträge wie geschehen unzulässig und stellt einen Verstoß gegen die
richterliche Aufklärungspflicht dar. Die für die Ablehnung der Beweisanträge gegebene
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Begründung beinhaltet eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung. Eine solche ist ohne
Verstoß gegen die Aufklärungspflicht nur dann zulässig, wenn das Gericht bereits eine
Überzeugung gewonnen hat und die Grundlagen dafür so verlässlich und
unproblematisch sind, dass die Möglichkeit, das Gericht könne in seiner Überzeugung
durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise
auszuschließen ist (vgl. Entscheidung des erkennenden Senats vom 02.04.1984 - 3 Ss
OWi 1795/83 veröffentl. in NStZ 1984, 462 m.w.N.). Entscheidend ist, welche
Erwartungen bei vernünftiger Betrachtung an die beantragte Beweiser-
hebung geknüpft werden können. Erscheint der angebotene Beweis im Hinblick auf die
damit erstrebte Entkräftung des erreichten Beweisergebnisses von vornherein als
aussichtslos, so wird die Aufklärungspflicht kaum dazu drängen, diesen Beweis zu
erheben. So liegt es indes vorliegend nicht, da aufgrund der auf dem Radarfoto
ersichtlichen Örtlichkeiten die Gefahr einer Fehlmessung aufgrund von Reflektionen
vernünftigerweise nicht ausgeschlossen werden konnte. Das Gericht hätte mithin den
gestellten Beweisanträgen weiter nachgehen müssen, wobei - wegen des nicht
absehbaren Beweisergebnisses für das Rechtsbeschwerdegericht - offen bleibt, ob der
Tatrichter den Beweis durch beide genannten Beweismittel zu erheben hat oder ggf. ein
Beweismittel die nötige Aufklärung erbringt.
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Die Ablehnung der genannten Beweisanträge als verspätet gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2
OWiG ist ebenfalls zu Unrecht erfolgt. Nach dieser Vorschrift kann ein Beweisantrag
unter dem Gesichtspunkt der Prozessverschleppung abgelehnt werden, um dem
Missbrauch prozessualer Rechte in Gestalt des bewussten Zurückhaltens von
Beweismitteln zu begegnen. Die Beweisaufnahme darf sich jedoch nicht aufdrängen
oder nahe liegen, da die Aufklärungspflicht auch in diesen Fällen gilt (vgl. Göhler, a.a.O.
Rdnr. 20 zu § 77). Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut des § 77 Abs. 2
OWiG, wonach das Gericht dann, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen
Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, unter den weiter genannten
Voraussetzungen einen Beweisantrag ablehnen kann. Nach dem Ergebnis der
bisherigen Beweisaufnahme durfte das Amtsgericht, wie dargelegt, den Sachverhalt
jedoch gerade nicht als geklärt ansehen. Bei dieser Sachlage durfte der Betroffene aus
Sicht eines verständigen Dritten damit rechnen, dass seine beabsichtigten
Einwendungen in der Hauptverhandlung ohnehin zur Sprache kommen würden, so
dass es
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deren vorheriger Benennung nicht zwingend bedurfte. Zu Unrecht ist das Amtsgericht
mithin von einem verspäteten Vorbringen des Betroffenen bei Stellung der
Beweisanträge ausgegangen.
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Auf den aufgezeigten Rechtsfehlern kann das Urteil auch beruhen. Der Senat kann nicht
ausschließen, dass das Urteil bei Durchführung der gebotenen Beweiserhebung für den
Betroffenen günstiger ausgefallen wäre.
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Das Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht
Gütersloh zurückzuverweisen.
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Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass gegen die Verurteilung
wegen vorsätzlicher Ordnungswidrigkeit aufgrund der Höhe der
Geschwindigkeitsüberschreitung Bedenken bestehen. Die von dem Amtsgericht
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festgestellte Überschreitung der außerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100
km/h um 34 km/h rechtfertigt für sich alleine noch nicht den Vorwurf eines vorsätzlichen
Handelns des Betroffenen. Eine Geschwindigkeit, mit der der Fahrer eines
Kraftfahrzeuges derart erheblich von der ihm bekannten zulässigen
Höchstgeschwindigkeit abweicht, dass deren Überschreitung einem durchschnittlichen
Kraftfahrer nicht hätte verborgen bleiben können, kann zwar ein gewichtiges Indiz für ein
vorsätzliches Handeln darstellen (vgl. Senatsentscheidung vom 24.09.1998 - 3 Ss OWi
978/98 -). Eine Geschwindigkeitsüberschreitung im hier festgestellten Umfang von 34
km/h lässt für sich allein einen solchen Rückschluss allerdings noch nicht zu. Zur
Annahme eines vorsätzlichen Handelns des Betroffenen genügt auch nicht die
Begründung des Amtsgerichts, es sei davon auszugehen, dass der Betroffene allein
schon visuell bemerkt habe, dass er erheblich schneller als 100 km/h fuhr. Diese
Schluss-
folgerung würde zumindest voraussetzen, dass dargelegt wird, aufgrund welcher
konkreter Umstände, etwa an den Örtlichkeiten oder der Straßenführung für den
Betroffenen nahe lag, seine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung zur Kenntnis zu
nehmen. Feststellungen hierzu enthält das angefochtene Urteil jedoch nicht. Der
Schuldspruch könnte daher, soweit dem Betroffenen vorsätzliches Handeln zur Last
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gelegt wird, aufgrund der bisherigen Feststellungen des Urteils keinen Bestand haben.
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