Urteil des OLG Hamm vom 20.01.2006

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Oberlandesgericht Hamm, 9 U 169/04
Datum:
20.01.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 U 169/04
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 11 O 10/02
Tenor:
Die Berufungen des Klägers und der Beklagten gegen das am 5. Mai
2005 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Essen
werden zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz haben der Kläger zu 76% und die
Beklagte zu 24% zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
1
(abgekürzt gem. § 540 ZPO)
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I.
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Der Kläger befuhr als Taxifahrer am 5. Dezember 1998 gegen 1.20 Uhr die L-Straße in
F von der Stadtmitte her kommend in nördlicher Richtung. Beim Überqueren der A-
Brücke kam er auf der nach F führenden Gefällstrecke ins Schleudern und prallte mit
dem Taxi gegen eine Straßenlaterne. Dabei zog er sich einen komplizierten
Trümmerbruch des rechten Unterschenkels bzw. des oberen Sprunggelenkes zu.
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Der Kläger hat behauptet, er sei mit dem Taxi ins Schleudern geraten, weil die L-Straße
im gesamten Bereich der A-Brücke vereist gewesen sei. Die Beklagte habe im
Unfallbereich keine ausreichenden Streumaßnahmen vorgenommen, obwohl schon am
Vortag winterliches Wetter eingesetzt habe. Unstreitig herrschten im Bereich Essen seit
dem Morgen des 4. Dezember 1998 bei Temperaturen um 0 Grad flächendeckend
Schneeglätte bzw. Glätte durch überfrierende Nässe. Der Kläger behauptet weiter,
selbst dann, wenn die Beklagte am Morgen des 4. Dezember 1998 gestreut haben
sollte, dies nicht ausreichend gewesen sei, ein erneutes Vereisen der Zweigertbrücke
zu verhindern. Wäre die Beklagte am 4. Dezember 1998 ihrer wiederholten Streupflicht
in dem gebotenen Maß nachgekommen, hätte sich an der Unfallstelle zur Unfallzeit kein
Glatteis befunden.
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Mit seiner Klage nimmt der Kläger die Beklagte auf Zahlung eines angemessenen
Schmerzensgeldes in der Größenordnung von 100.000,00 DM, Ersatz seines mit
80.312,50 DM bezifferten materiellen Schadens (Haushaltsführungsschaden: 64.762,70
DM; Erwerbsschaden: 15.500,00 DM) und die Feststellung einer Ersatzpflicht der
Beklagten für sämtliche künftige materiellen und immateriellen Schäden aus dem
Unfallereignis in Anspruch.
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Die Beklagte bestreitet die vom Kläger behauptete Glätte als Unfallursache und
behauptet, der Unfall sei ausschließlich auf Fahrfehler des Klägers – wie etwa
überhöhte Geschwindigkeit, Übermüdung oder Unaufmerksamkeit –zurückzuführen. Sie
hat einen Verstoß gegen die ihr obliegende Streupflicht in Abrede gestellt. Insoweit ist
im erstinstanzlichen Verfahren unstreitig geworden, dass die Unfallstelle am 4.
Dezember 1998 zwischen 6.40 Uhr und 8.35 Uhr von der Beklagten gestreut worden ist.
Die am Morgen des 4. Dezember 1998 vorgenommene Streumaßnahme habe bewirkt,
dass die L-Straße den ganzen Tag über glättefrei geblieben sei. Ein erneutes Bestreuen
des Unfallbereichs im weiteren Verlauf dieses Tages sei nicht erforderlich gewesen. Im
Übrigen hat die Beklagte Einwendungen gegen die Höhe der geltend gemachten
Ansprüche erhoben.
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Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen und Einholung eines Winterdienst-
Gutachtens dem Kläger ein Schmerzensgeld von 10.000,00 € sowie materiellen
Schadensersatz in Höhe von 3.926,51 € zugesprochen und dem Feststellungsantrag zu
50% stattgegeben. Es hat eine Streupflichtverletzung der Beklagten sowie ein hälftiges
Mitverschulden des Klägers als erwiesen angesehen, ein Schmerzensgeld von
10.000,00 € für angemessen erachtet und einen Haushaltsführungsschaden des
Klägers verneint.
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Gegen dieses Urteil wenden sich beide Parteien mit der Berufung. Die Beklagte begehrt
weiterhin Klageabweisung und rügt fehlerhafte Feststellungen des Landgerichts zur
Frage der Eisglätte an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt sowie fehlende
Feststellungen zum Anspruchsgrund (Glätte in streupflichtiger Zeit und Kausalität einer
etwaigen Streupflichtverletzung für den Unfall). Ferner greift sie den
Schmerzensgeldanspruch als überhöht an. Der Kläger verfolgt sein erstinstanzliches
Begehren weiter, jedoch hinsichtlich des Schmerzensgeldes nur noch in Höhe eines für
angemessen erachteten Betrages von 20.000,00 €. Er beanstandet die Feststellungen
des Landgerichts zu seinem Mitverschulden und zum Haushaltsführungsschaden.
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II.
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Die zulässigen Berufungen der Parteien bleiben ohne Erfolg.
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Die Beklagte haftet der Klägerin aus §§ 839 Abs.1, 847 BGB (a.F.) i.V.m. § 1 StrReinG
NW, Art. 34 GG für die Folgen des Unfalls vom 5. Dezember 1998. Das Landgericht ist
zutreffend davon ausgegangen, dass es infolge Glätte an der Unfallstelle zu dem Unfall
des Klägers gekommen ist und Verletzung der Streupflicht durch die Beklagte hierfür
neben einem Eigenverschulden des Klägers durch eine den Straßen- und
Witterungsverhältnissen nicht angepasste Geschwindigkeit mitursächlich gewesen ist.
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Soweit die Beklagte Glätte an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt bestreitet, kann dem
nicht gefolgt werden. Das Landgericht hat die Aussagen der Zeugen T, L und U
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zutreffend gewürdigt. Selbst wenn bei der Aussage der Zeugin T, die sich bei dem
Unfall als Fahrgast im Taxi befand, die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass die
von ihr bekundete Glätte auf der Brücke nicht auf eigener Wahrnehmung, sondern
einem Rückschluss aufgrund des Schleuderns des Taxis beruht, so sind die Angaben
der beiden anderen Zeugen so eindeutig, dass kein Zweifel verbleibt, zumal die Glätte
an der Unfallstelle auch in dem Zusatzbericht zur polizeilichen Unfallaufnahme vom 5.
Januar 1998 (Bl.2 der Akten 46 Js 68/99 StA Essen, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind) sowie die schriftliche Aussage der Zeugin H, die als
Polizeibeamtin den Unfall aufgenommen hat, ausdrücklich bestätigt wird. Dabei ist es
unerheblich, dass die Zeugen nicht mit Bestimmtheit sagen konnten, ob sich die Glätte
über die gesamte Fahrbahn erstreckte oder diese, wie die Zeugin H erklärt hat, nur
partiell vorhanden war. Da somit von Glätte an der Unfallstelle auszugehen ist, spricht
der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass diese ursächlich für den Unfall gewesen
ist. Im Übrigen haben die Zeugen T, L und U übereinstimmend bekundet, dass der
Kläger mit seinem Pkw auf glatter Fahrbahn ins Schleudern geraten seien. Die von der
Beklagten behauptete den Verhältnissen nicht angepasste Fahrweise des Klägers
beseitigt nicht die Ursächlichkeit der Glättebildung für den Unfall und ist lediglich im
Rahmen eines Mitverschuldens des Klägers von Bedeutung.
Nach gefestigter Rechtsprechung müssen Kommunen nicht "rund um die Uhr" ihrer
Streupflicht nachkommen. Vielmehr sind sie nur gehalten, die verkehrswichtigen
Straßen für den normalen Tagesverkehr zu sichern. Dabei endet die Streupflicht in den
Abendstunden mit dem Aufhören des allgemeinen Tagesverkehrs, was regional
unterschiedlich zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr der Fall ist (BGH NJW 1985, 270;
VersR 1958, 289). Der Senat zieht diese Grenze bei 22.00 Uhr (Urt. v. 23. 9. 1993 9 U
214/92). Bei einem Glätteunfall, der sich nach diesem Zeitpunkt ereignet, haftet die
sicherungspflichtige Kommune nur dann, wenn die Streupflicht bereits in streupflichtiger
Zeit nicht erfüllt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Fahrbahn bereits in diesem Zeitraum
glatt war und die Beklagte deshalb Streumaßnahmen hätte durchführen müssen, die
auch den nach dieser Zeit eingetretenen Unfall verhindert hätten (BGH VersR 1984, 41;
1984, 891 m.w.N.). Darüber hinaus kann eine Haftung in Betracht kommen, wenn
während bestehender Streupflicht zwar noch keine Glättebildung eingetreten, diese
jedoch für die folgende Nacht vorhersehbar ist (Senatsurteil v. 4. 11. 2003 – 9 U 118/03
= NJW-RR 2004, 386; BGH VersR 1985, 189; OLG Frankfurt NJW-RR 2004, 312). Der
vom Landgericht beauftragte Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten
festgestellt, dass nach dem in dem Wetterbuch der Beklagten sowie im Wetterbericht
des Deutschen Wetterdienstes dokumentierten Schneefall am 4. Dezember 1998 in
Essen tagsüber bis gegen 18.00 Uhr in einer Höhe von 2 cm bis 4 cm ohne eine erneute
Streuung nach der am Morgen erfolgten Streuung es bei der vorherrschenden Witterung
(Temperaturen um den Gefrierpunkt und auch darunter) spätestens am Abend zu
Glättebildung kommen musste. Ob diese von der Beklagten mit ihrer Berufung
angegriffene Feststellung, auf die sich das angefochtene Urteil maßgeblich stützt,
zutrifft, braucht nicht entschieden zu werden. Es steht nämlich zur Überzeugung des
Senats fest, dass selbst dann, wenn sich in der streupflichtigen Zeit auf der Fahrbahn
auf der A-Brücke keine neue Glätte gebildet hatte, diese jedenfalls seit dem Ende des
Schneefalls nicht abgetrocknet war, sondern die morgens aufgebrachte Streuung mit
einem Gemisch aus Trockensalz und einer Salzlösung allenfalls dazu ausreichte, den
Neuschnee zum Schmelzen zu bringen und hierdurch die Feuchtigkeitsmenge
insgesamt zu erhöhen, was eine weitgehende Neutralisierung der Schmelz- bzw.
Tauwirkung der Salzlake zur Folge hatte. Bei den bestehenden
Witterungsverhältnissen, die neben überwiegend unterhalb des Gefrierpunktes
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liegenden Temperaturen am 3. Dezember 1998 durch Temperaturen um den
Gefrierpunkt im Laufe des Tages am 4. Dezember 1998 mit zahlreichen
Glättemeldungen aus verschiedenen Stadtteilen in F gekennzeichnet waren, musste die
Beklagte damit rechnen, dass es in der nachfolgenden Nacht zu erneuter Glättebildung
durch überfrierende Nässe kommen würde. Dies hat der Sachverständige bei seiner
ergänzenden Anhörung im Senatstermin ebenso überzeugend dargelegt wie den
Umstand, dass bei einer erneuten Streuung nach dem Ende des Schneefalls um 18.00
Uhr bis zum Ende des streupflichtigen Zeitraums eine Glättebildung bis zum
Unfallzeitpunkt nicht eingetreten wäre.
Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Streupflicht auch eine vorbeugende
Streuung von gefährlichen Straßenstellen umfassen kann, wenn konkrete
Anhaltspunkte für eine Glatteisbildung z.B. aufgrund des Wiedergefrierens vorhandener
Nässe außerhalb der streupflichtigen Zeit bestehen (Senatsurteil v. 4. 11. 2003 – 9 U
118/03 = NJW-RR 2004, 386; BGH VersR 1985, 189; OLG Frankfurt NJW-RR 2004,
312). Die Beschränkung solcher Maßnahmen auf besondere Gefahrenstellen folgt aus
dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit für den Streupflichtigen. Zweifellos handelt es sich
bei der Unfallstelle um eine solche besondere Gefahrenstelle, da sie auf einer Brücke
liegt, die bei niedrigen Temperaturen aufgrund ihrer Bauweise eher zur Glättebildung
neigt als die umliegenden Straßen, und sich an dieser Stelle außerdem ein Gefälle
befindet und zum Unfallzeitpunkt eine Baustelle mit einer Verschwenkung der Fahrbahn
befand. Im Hinblick auf die bereits dargelegte der Beklagten im Einzelnen bekannte
Witterungslage sowie die Feuchtigkeit der Fahrbahn - soweit nicht bereits in der
streupflichtigen Zeit eine Glättebildung eingetreten war - musste die Beklagte mit der
Glättebildung an dieser besonderen Gefahrenstelle in der nachfolgenden Nacht
rechnen. Dass es sich hierbei nicht um eine lediglich abstrakte Gefahrenlage, sondern
um eine konkret sich abzeichnende und naheliegende Situation handelte, folgt neben
den bereits erwähnten Eintragungen im Wetterbuch des Winterdienstes, die für den 4.
Dezember 1998 um 18 Uhr und 21 Uhr die Bemerkung "Glätte" enthalten, daraus, dass
der Beklagten nach ihren eigenen Unterlagen Meldungen aus verschiedenen Teilen der
Stadt über Glättebildung am 4. Dezember 1998 den ganzen Tag über, und zwar auch
noch nach 18 Uhr vorlagen. Eine erneute Streuung noch am Abend des 4. Dezember
1998 wäre auch nicht von vornherein zwecklos gewesen, da der Schneefall aufgehört
hatte und nicht zu erwarten war, dass das Streugut durch Schmelzwasser weggespült
werden würde.
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Dem Landgericht ist darin beizupflichten, dass dem Kläger ein erhebliches
Mitverschulden gem. § 254 BGB zuzurechnen ist. Die Zeugin T hat vor dem Landgericht
die Fahrweise des Klägers unmittelbar vor dem Unfall als "zu schnell" und "zügig"
bezeichnet, wobei sie naturgemäß keine exakten Angaben zu der "gefühlsmäßig"
wahrgenommenen Geschwindigkeit machen konnte. Die Zeugin U, die Beifahrerin in
einem dem Kläger entgegenkommenden PKW war, hat ausgesagt, ihre Fahrerin sei
wegen der bemerkbaren Glätte "sehr langsam" über die Brücke gefahren, während der
ihnen entgegenkommende Kläger "mit Sicherheit nicht so langsam" gefahren sei. Zu
Recht hat das Landgericht diese Eindrücke der beiden Zeuginnen nicht für unbeachtlich
gehalten. Auch wenn exakte Feststellungen zu der vom Kläger gefahrenen
Geschwindigkeit, die er übrigens selbst nicht angegeben und lediglich allgemein als
"äußerst moderat" bezeichnet hat, nicht möglich sind, so sprechen die
übereinstimmenden Angaben der beiden Zeuginnen, die ihre Wahrnehmungen aus
unterschiedlichen Positionen zum Unfallgeschehen gemacht haben, dafür, dass der
Kläger die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs nicht den ungünstigen Witterungs- und
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Straßenbedingungen angepasst hatte. Hierzu bestand aufgrund der bereits dargelegten
besonderen Gefahrensituation auf der Brücke besondere Veranlassung. Die Bewertung
seines Verursachungs- und Verschuldensanteils durch das Landgericht mit 50% ist
nicht zu beanstanden. Eine höhere Haftungsquote des Klägers scheidet aufgrund
genauerer Feststellungen zu der vom Kläger gefahrenen Geschwindigkeit, zu der von
der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten nichts Näheres vorgetragen
worden ist, aus.
Hinsichtlich der Bemessung des Schmerzensgeldes sowie der Verneinung eines
ausgleichspflichtigen Haushaltsführungsschadens des Klägers gem. § 843 BGB folgt
der Senat dem Landgericht. Der Kläger hat nicht bewiesen, dass er vor dem Unfall eine
ins Gewicht fallende Haushaltstätigkeit erbracht hat. Den Aussagen der Zeugen B und
B2 zufolge hat es sich um geringfügige Tätigkeiten (Fahrten, Hausarbeiten der Kinder)
gehandelt, die im Rahmen der §§ 249, 843 BGB nicht ersatzfähig sind. Soweit der
Kläger seit dem 31. August 2000 in einem Einpersonenhaushalt lebt, hat das
Landgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Bestellung eines Sachverständigen
ohne konkreten Sachvortrag auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausläuft.
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Im Ergebnis sind daher beide Berufungen zurückzuweisen.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 92, 708 Nr.10 ZPO.
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Gründe, gemäß § 543 Abs.2 ZPO die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
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