Urteil des OLG Hamm vom 14.08.2002

OLG Hamm: anklageschrift, form, revisionsgrund, aussetzung, schuldfähigkeit, rüge, gerichtsorganisation, fürsorgepflicht, alkohol, ausschluss

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 636/02
Datum:
14.08.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 636/02
Vorinstanz:
Amtsgericht Bottrop, 26 Ls 65 Js 1480/01 (142/01)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts
Bottrop zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in sieben Fällen,
davon in zwei Fällen wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und in drei Fällen wegen
gemeinschaftlich begangenen Diebstahls, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem
Jahr verurteilt. Nach den Feststellungen des Jugendschöffengerichts entwendete der
Angeklagte am 27. September 2000, 4. Oktober 2000, 16. Oktober 2000, 16. Mai 2001
und 21. Mai 2001 in verschiedenen Kaufhäusern eine Anzahl von Gegenständen
(Anklage der StA Essen vom 19. Oktober 2001 - 65 Js 1480/01). Darüber hinaus
entwendete der Angeklagte am 10.09.2001 (Anklage der StA Essen vom 11. November
2001 - 65 Js 1902/01) und am 15. September 2001 (Anklage der StA Essen vom 15.
Januar 2002 - 65 24/02) jeweils Spirituosen. Eine Reifever-
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zögerung des Angeklagten, der zur Tatzeit Heranwachsender war, hat das Jugend-
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schöffengericht verneint und Erwachsenenstrafrecht angewendet.
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Gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Bottrop richtet sich die form- und
fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Angeklagten, mit der er die
Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
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Die Revision des Angeklagten hat mit der ordnungsgemäß ausgeführten
Verfahrensrüge Erfolg, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 5.
Januar 2002 nicht in der Hauptverhandlung verlesen worden ist.
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Das Protokoll über die Hauptverhandlung weist aus, dass die Anklage der
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Staatsanwaltschaft Essen vom 5. Januar 2002 (65 Js 24/02) nicht verlesen worden ist.
Das Protokoll vermerkt lediglich:
"Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz aus der Anklageschrift
vom 19.10.01, 10.11.01."
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Die Verlesung des Anklagesatzes gehört zur wesentlichen Förmlichkeit i.S.v. § 273 Abs.
1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden
kann (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 274 Rdnr. 14). Das Unterlassen
der Verlesung des Anklagesatzes ist ein Revisionsgrund, der zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils führt, es sei denn, dass ausnahmsweise ausgeschlossen werden
kann, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht. Dies ist nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NStZ 82, 431; 86, 39; 95, 200) dann der
Fall, wenn wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage weder der Gang der
Hauptverhandlung noch das Urteil irgendwie von dem Verfahrensfehler berührt worden
ist oder wenn die Prozessbeteiligten über den Gegenstand des Verfahrens auf andere
Weise unterrichtet sind. Zwar handelt es sich bei dem in der Anklageschrift vom 25.
Januar 2002 angeklagten Tatgeschehen um einen rechtlich und tatsächlich einfach
gelagerten Fall, dessen Begehung der Angeklagte den Urteilsfeststellungen zufolge
eingestanden hat, doch kann gleichwohl nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil
von dem Verfahrensmangel beeinflusst worden ist. Es kann nämlich nicht angenommen
werden, dass der Angeklagte bereits vor der Hauptverhandlung hinreichende Kenntnis
vom Anklagevorwurf hatte. Der Angeklagte ist russischer Staatsbürger und der
deutschen Sprache (zumindest) nicht hinreichend mächtig. In der Hauptverhandlung
war zwar ein Dolmetscher für die russische Sprache anwesend. Der Anklagesatz ist
dem Angeklagten jedoch nicht erst in der Hauptverhandlung in einer ihm verständlichen
Sprache bekanntzugeben. Beherrscht er die deutsche Sprache nicht hinreichend, so
muss ihm neben der Anklageschrift eine schriftliche Übersetzung in seiner
Muttersprache oder einer anderen Sprache, die er versteht, übersandt werden (vgl.
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Art. 6 MRK Rdnr. 18 m.w.N.). Dem
Angeklagten ist jedoch keine der drei Anklageschriften vor der Hauptverhandlung als
Übersetzung in russischer Sprache zugesandt worden, so dass nicht ausgeschlossen
werden kann, dass er mit den Anklagevorwürfen erstmals in der Hauptverhandlung in
ihm ver-
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ständlicher Form konfrontiert worden ist. Mithin war der Angeklagte, dem in der
Hauptverhandlung kein Verteidiger zur Seite stand, in seinen
Verteidigungsmöglichkeiten, insbesondere was die Vorbereitung auf die
Hauptverhandlung betrifft, erheblich eingeschränkt mit der Folge, dass das Beruhen des
Urteils auf dem Verfahrensfehler nicht ausgeschlossen werden kann.
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Auch die Rüge gemäß § 338 Nr. 8 StPO hat Erfolg, denn die Verteidigung ist in einem
für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt worden. Wie bereits
dargelegt ist der Angeklagte in seiner Verteidigung dadurch beschränkt worden, dass
ihm die Anklageschrift nicht vor der Hauptverhandlung in übersetzter Form übersandt
worden ist. Ein Angeklagter, dem die Anklageschrift nicht oder nicht in zureichender
Form mitgeteilt worden ist, kann die Aussetzung der Hauptverhandlung verlangen, um
seine Verteidigung genügend vorzubereiten (vgl. OLG Celle
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StV 98, 533, 532 m.w.N.). Am Tag vor der Hauptverhandlung hat der Verteidiger des
Angeklagten die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragt, worüber das
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Jugendschöffengericht nicht entschieden hat. Zwar setzt die Rüge gemäß § 338 Nr. 8
StPO grundsätzlich einen in der Hauptverhandlung ergangenen Gerichtsbeschluss
voraus, doch steht die Nichtbescheidung eines Antrags einem solchen
Gerichtsbeschluss gleich (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 339 Rdnr. 60
m.w.N.). Es kann dahinstehen, ob das Jugendschöffengericht vor der Hauptverhandlung
von dem um 17.05 Uhr am Vortag eingegangenen Telefax des Verteidigers noch vor der
Hauptverhandlung Kenntnis erlangt hat, denn wenn der Antrag vor der
Hauptverhandlung am nächsten Tag nicht vorgelegt worden ist, so beruht dies auf
einem Mangel in der Gerichtsorganisation, welcher nicht zu Lasten des Angeklagten
gehen kann. Eine Bescheidung des Aussetzungsantrages konnte auch nicht deshalb
unterbleiben, weil der Verteidiger keine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat, denn das
Jugendschöffengericht hätte den Angeklagten in der Hauptverhandlung befragen
können, ob er Rechtsanwalt I als Verteidiger bevollmächtigt hatte. Es war auch nicht
erforderlich, dass von der Verteidigung im Aussetzungsantrag auf die fehlende
Übersetzung der Anklageschriften hingewiesen wurde, denn das Gericht war von Amts
wegen im Rahmen seiner Fürsorgepflicht gehalten, für die Übersetzung der
Anklageschrift und Übersendung der übersetzten Anklageschriften vor der
Hauptverhandlung Sorge zu tragen.
Da bereits die Verfahrensrügen zur Aufhebung führen, ist auf die Sachrüge nicht mehr
einzugehen. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat jedoch vorsorglich
darauf hin, dass der Ausschluss einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit näherer
Begründung bedarf, da der Angeklagte sich dahingehend eingelassen hat, er habe vor
den Taten zum Teil Alkohol konsumiert. Es reicht nicht aus, wenn das Tatgericht eine
Einschränkung der Schuldfähigkeit "nicht feststellen" kann. Zudem können
Strafzumessungsgründe zu Lasten des Angeklagten nicht berücksichtigt werden, wenn
sie auf bloßen Vermutungen des Gerichts beruhen, wie etwa die Möglichkeit, dass der
Angeklagte weitere, bisher unbekannt gebliebene Straftaten begangen hat.
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Da der Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO vorliegt, ist unwiderlegbar zu vermuten,
dass das Urteil auf einem Rechtsfehler beruht. Es war daher insgesamt mit den ihm
zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts Bottrop zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO), die
auch über die Kosten der Revision zu befinden hat, da deren Erfolg i.S.d. § 473 StPO
noch nicht feststeht.
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