Urteil des OLG Hamm vom 24.06.1998
OLG Hamm (stpo, hauptverhandlung, pflichtverteidiger, schlüssiges verhalten, schwerer fall, rüge, wahlverteidiger, begründung, revisionsgrund, verletzung)
Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss 660/98
Datum:
24.06.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss 660/98
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, Ns 9 Ls 76 Js 354/97 14 (XVII) H
Tenor:
Die Revision wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet
verworfen.
Gründe:
1
I.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung gemaß §177 Abs. 1
StGB in der Fassung des am 5. Juli 1997 in Kraft getretenen 33.
Strafrechtsänderungsgesetzes vom 1. Juli 1997 (BGBl. I, 1607) unter Einbeziehung von
zwei Einzelstrafen aus einem Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 24. Oktober 1997 zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Hiergegen richtet
sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen
Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gemäß §349
Abs. 2 StPO zu verwerfen.
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II.
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Die Revision des Angeklagten ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
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1.
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Die Oberprüfung des angefochtenen Urteils auf Rechtsfehler hat den Angeklagten
belastende Rechtsfehler nicht erkennen lassen.
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Die vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung
wegen der am 30. Juli 1997 begangenen sexuellen Nötigung. Es ist insbesondere aus
Rechtsgründen auch nichts gegen die - außergewöhnlich umfangreiche und alle
festgestellten Tatsachen und Besonderheiten ausführlich wertende - Beweiswürdigung
des Landgerichts zu erinnern.
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2.
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Näherer Erörterung bedürfen nur folgende Punkte:
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a)
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Mit seiner formellen Rüge hat der Angeklagte einen Verstoß gegen §338 Nr. 5 StPO
geltend gemacht. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Für den Angeklagten hatte sich unter dem 22. August 1997 Rechtsanwalt ... gemeldet
und eine auf ihn ausgestellte, vom Angeklagten am 31. Juli 1997 unterzeichnete
Verteidigervollmacht vorgelegt. Rechtsanwalt ... ist dann am 8. September 1997 vom
Vorsitzenden des Schöffengerichts dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet
worden. Nach Abschluß des erstinstanzlichen Verfahrens fand die
Berufungshauptverhandlung am 26., 29. Januar, 5., 10. und 12. Februar 1998 statt. In
der Hauptverhandlung am 5. Februar 1998 war Rechtsanwalt ... nicht erschienen, da er
an der Teilnahme wegen eines Lehrgangs verhindert war. Teilgenommen hat an dieser
Hauptverhandlung Rechtsanwalt ... der eine auf ihn ausgestellte Untervollmacht von
Rechtsanwalt ... vorlegte. Im Beisein von Rechtsanwalt ... ist dann u.a. eine
Sachverständige gehört worden.
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Die auf diesen Verfahrensgang gestützte Rüge der Verletzung des §338 Nr. 5 StPO
führt nicht zum Erfolg.
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Dahinstehen kann die von der Generalstaatsanwaltschaft aufgeworfene Frage, ob der
Angeklagte mit seiner formellen Rüge einen absoluten oder nur einen relativen
Revisionsgrund geltend macht. Denn unabhängig, wie diese Frage zu beantworten ist,
hat die Revision keinen Erfolg.
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Geht man - zusammen mit der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 4.
Juni 1998 - davon aus, daß vorliegend nicht allein schon das Fehlen des
Pflichtverteidigers in der Hauptverhandlung am 5. Februar 1998 den absoluten
Revisionsgrund des §338 Nr. 5 StPO begründet, sondern der hier vorliegende Fall der
"unzulässigen Unterbevollmächtigten" möglicherweise ebenso wie der auf die
Verletzung der §§146, 146 a StPO gestützten Revision zu behandeln ist (vgl. insoweit
zu §146 StPO Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., §146 Rn. 18; Laufhütte in
Karlsruher Kommentar, StPO, 3. Aufl., §146 Rn. 18, jeweils m.w.N.) und es sich nur um
einen relativen Revisionsgrund im Sinn von §337 StPO handelt, ist die formelle Rüge
unzulässig. Sie läßt dann nämlich zur im Sinn von §344 Abs. 2 Satz 2 StPO
ausreichenden Begründung erforderlichen Vortrag dazu vermissen, daß und warum der
Angeklagte am 5. Februar 1998 durch den in Untervollmacht seines Pflichtverteidigers
erschienenen Sozius nicht ordnungsgemäß verteidigt worden ist.
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Geht man hingegen davon aus, daß der oben dargestellte Verfahrensgang auf jeden
Fall die Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes nach §338 Nr. 5 StPO erfüllt
(so Hanack in Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., §338 Nr. 93), ist der Vortrag des
Angeklagten zur Begründung dieser Rüge im Sinn des §344 Abs. 2 Satz 2 StPO
ausreichend.
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In diesem Fall ist die formelle Rüge jedoch unbegründet. Der Angeklagte war nämlich in
der Hauptverhandlung am 5. Februar 1998 ordnungsgemäß verteidigt. §338 Nr. 5 StPO
ist - bei im Sinn von §140 StPO notwendiger Verteidigung - dann zwingender
Aufhebungsgrund, wenn weder ein Wahlverteidiger noch der bereits bestellte
Pflichtverteidiger an der Hauptverhandlung teilgenommen haben. Vorliegend hat jedoch
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Rechtsanwalt ... als Pflichtverteidiger des Angeklagten an der Hauptverhandlung am 5.
Februar 1998 teilgenommen. Zutreffend ist insoweit allerdings das Vorbringen der
Revision, daß Rechtsanwalt ... nicht schon deshalb Pflichtverteidiger des Angeklagten
war, weil er in Untervollmacht des beigeordneten Rechtsanwalts ... aufgetreten ist.
Die Unterbevollmächtigung eines anderen Rechtsanwalts ist dem beigeordneten
Rechtsanwalt nämlich nicht erlaubt (BGH StV 1981, 393; 1982, 213), auch der Sozius
des beigeordneten Pflichtverteidigers darf die Verteidigung nicht führen (vgl. BGH NJW
1992, 1841; wegen weiterer Rechtsprechungs- und Literaturhinweise siehe Burhoff,
Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 1997, Rn. 638; zur Vertretung
des Pflichtverteidigers in der Hauptverhandlung siehe Burhoff, Handbuch für das
strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 2. Aufl., Rn. 1099 ff.).
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Diese - soweit ersichtlich - in Rechtsprechung und Literatur einhellige Auffassung führt
vorliegend jedoch nicht zum Erfolg der Revision. Der Angeklagte übersieht nämlich, daß
ihm vom Vorsitzenden der Strafkammer Rechtsanwalt ... - zumindest für den 5. Februar
1998 - (ebenfalls) als Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist. Mit der wohl weit
überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur geht der Senat davon aus,
daß, da §141 StPO eine bestimmte Form für die Bestellung des Pflichtverteidigers nicht
vorsieht, diese auch durch schlüssiges Verhalten des Vorsitzenden erfolgen kann (vgl.
die Nachweise aus der Rechtsprechung bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., §141
StPO Rn. 6; aus neuerer Zeit siehe OLG Koblenz StraFo 1997, 256 = NStZ-RR 1997,
384). Erforderlich ist dazu, daß das Verhalten des Vorsitzenden unter Beachtung der
sonst maßgeblichen Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluß rechtfertigt (OLG
Koblenz, a.a.O.). Demgemäß hat die Rechtsprechung in der gesetzlich gebotenen
Inanspruchnahme eines Verteidigers, der nicht Wahlverteidiger war, die
stillschweigende Bestellung als Pflichtverteidiger gesehen (vgl. OLG Düsseldorf NStZ
1994, 43; OLG Hamburg MDR 1974, 1039; OLG Hamm Rpfleger 1960, 224; a.A.
insoweit Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O.). Ob das in allen Fällen zutreffend ist, kann
hier angesichts der Besonderheiten des Falles dahinstehen. Denn vorliegend war
Rechtsanwalt ... ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung "in Untervollmacht"
des beigeordneten Rechtsanwalts erschienen. Er war, da durch die
Pflichtverteidigerbestellung die Rechtsanwalt ... am 31. Juli 1997 erteilte Vollmacht
erloschen war (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, a.a.O., §142 Rn. 7 mit
weiteren Nachweisen), nicht (unterbevollmächtigter) Wahlverteidiger. Für die
Inanspruchnahme von Rechtsanwalt ... als Pflichtverteidiger bestand auch wegen der
Verhinderung des beigeordneten Pflichtverteidigers Veranlassung. Demgemäß kann
die im - vom Vorsitzenden der Strafkammer unterschriebenen - Protokoll der
Hauptverhandlung enthaltene Formulierung: "Als Pflichtverteidiger erschien Herr
Rechtsanwalt ... als Unterbevollmächtigter für den Pflichtverteidiger Herrn Rechtsanwalt
...." nach Auffassung des Senats nur als (weiterer) Beleg dafür gewertet werden, daß der
Vorsitzende dem Angeklagten Rechtsanwalt ... - zumindest konkludent für den 5.
Februar 1998 - als (weiteren) Pflichtverteidiger beigeordnet hat.
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Die formelle Rüge ist im übrigen selbst dann unbegründet, wenn man sich dieser
Auffassung des Senats nicht anschließen würde. Denn dann ist von einer durch den
Angeklagten selbst vorgenommenen Beauftragung des Rechtsanwalts ... als
Wahlverteidiger auszugehen. Eine besondere Form ist für die Beauftragung des
Wahlverteidigers nicht vorgesehen. Deshalb hat es die Rechtsprechung in der
Vergangenheit für den Nachweis und die Begründung des Verteidigerverhältnisses
ausreichend sein lassen, wenn der Rechtsanwalt mit seinem Mandanten in der
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Hauptverhandlung erscheint und als Verteidiger fungiert (vgl. Kleinknecht/Meyer-
Goßner, a.a.O., vor §137 StPO Rn. 4, 9 mit weiteren Nachweisen). Etwas anderes folgt
nicht aus der Entscheidung des BGH vom 24. Oktober 1995 (1 StR 474/95 - BGHSt 41,
303), da diese ausdrücklich nur die - vom BGH verneinte - Frage behandelt, ob allein
durch das Auftreten des Verteidigers in der Hauptverhandlung diesem die besondere
Zustellungsvollmacht des §145 a StPO erteilt ist. Für die hier entscheidende Frage der
Erteilung der allgemeinen Vollmacht folgt daraus nichts. Demgemäß kann nach
Auffassung des Senats in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Rechtsanwalt in
der Hauptverhandlung, in der Beweise erhoben werden, für den Angeklagten tätig wird,
ohne daß dieser dagegen Widerspruch erhebt, von der Begründung eines
Verteidigerverhältnisses ausgegangen werden (so auch RGSt 25, 152 f.).
Nach allem liegen somit die Voraussetzungen des §338 Nr. 5 StPO in keinem Fall vor.
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b)
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Entgegen der Annahme der Revision sind auch die Ausführungen des Landgerichts zur
Ablehnung eines minder schweren Falls im Sinn von §177 Abs. 2 StGB nicht zu
beanstanden. Das Landgericht hat alle von ihm festgestellten Umstände zutreffend
gewürdigt. Es ist insbesondere nichts dagegen zu erinnern, daß es bei der Prüfung der
Frage, ob ein minder schwerer Fall gegeben ist, auch die vom Angeklagten gegenüber
der Nebenklägerin ausgesprochenen Drohungen (mit-)herangezogen hat. Darin liegt
keine unzulässige Doppelverwertung, sondern nur die zulässige Verwertung des Maßes
und der Intensität der ausgesprochenen Drohungen. Diese haben sich im übrigen,
worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, nicht im unteren Bereich
befunden. Denn immerhin hat der Angeklagte dem Opfer nicht "nur" mit Leibesgefahren,
sondern auch mit Lebensgefahr gedroht.
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III.
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Nach allem war somit - wie von der Generalstaatsanwaltschaft beantragt - die Revision
als unbegründet zu verwerfen. Die Kostenentscheidung folgt aus §473 Abs. 1 StPO.
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