Urteil des OLG Hamm vom 21.10.2008

OLG Hamm: vorzeitige entlassung, bedingte entlassung, öffentliche sicherheit, gefahr, bewährung, abrede, vollstreckung, strafvollzug, aussetzung, form

Oberlandesgericht Hamm, 4 Ws 277/08
Datum:
21.10.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 Ws 277/08
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 18 StVK 584/08
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des
Beschwerdeverfahrens – an das Landgericht –
Strafvollstreckungskammer – Münster zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Münster hat mit Beschluss vom
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02. September 2008 die Vollstreckung des Strafrestes aus dem Urteil des Landgerichts
Paderborn vom 23. Oktober 2006 – 2 KLs 310 Js 33/06 (28/06) – nach Verbüßung von
mehr als Zweidrittel der gegen den Verurteilten verhängten Freiheitsstrafe von
ursprünglich 2 Jahren und 10 Monaten zur Bewährung ausgesetzt.
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Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Paderborn vom
9. September 2008, der die Generalstaatsanwaltschaft mit der dem Verteidiger bekannt
gemachten Zuschrift an den Senat vom 18. September 2008 beigetreten ist.
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II.
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Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat wie folgt Stellung genommen:
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"Der angefochtene Beschluss kann in mehrfacher Hinsicht keinen Bestand haben.
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Die Strafkammer hätte vor ihrer Entscheidung gem. § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO das
Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten einholen müssen. Mit
dem zugrunde liegenden Urteil ist der Beschwerdeführer wegen
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Freiheitsberaubung in Form der Qualifizierung des § 239 Abs. 3 Nr. 2, mithin
wegen eines Verbrechens, zu einer (Einzel-) Freiheitsstrafe von mehr als zwei
Jahren verurteilt worden. Es handelt sich daher um eine Katalogtat im Sinne des §
66 Abs. 3 StGB. Demgemäß hatte die Strafvollstreckungskammer gemäß der
zitierten Vorschrift des § 454 StPO ein Sachverständigengutachten einzuholen, es
sei denn, es wäre auszuschließen gewesen, dass Gründe der öffentlichen
Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen. Dies ist
nur dann zu verneinen, wenn bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass
dessen durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, wenn also alle
für die Prognoseentscheidung heranzuziehenden Umstände zweifelsfrei die
Beurteilung zulassen, dass vom Verurteilten praktisch keine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit mehr ausgeht (Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 454 Rdnr. 37
mit zahlreichen Nachweisen). Nach anderer Ansicht (u. a. OLG Hamm, NJW 99,
2453 m.w.N.) soll hingegen bei beabsichtigter Aussetzung grundsätzlich ein
Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen, weil die
Strafvollstreckungskammer diese Frage nicht ohne einen Sachverständigen
beantworten könne (weitere Nachweise bei Meyer-Goßner, a.a.O.). Wäre schon
nach der letztgenannten Ansicht die Einholung eines entsprechenden Gutachtens
unabdingbar gewesen, so würde bereits aus dem Gesetzeswortlaut des § 454
StPO nichts anderes folgen. Denn bei Berücksichtigung der bei der Tatausführung
zutage getretenen kriminellen Energie, dem planmäßigen Vorgehen des
Verurteilten und der grundsätzlich gegebenen Gesundheitsgefährdung des
Tatopfers, wie sie sich aus dem zugrunde liegenden Urteil ergibt, kann eine
Gefährdung des öffentlichen Sicherheitsinteresses von vornherein nicht
ausgeschlossen werden. Diese die Gefährlichkeit des Verurteilten bereits
indizierenden Umstände werden auch durch seine weitere dokumentierte
Entwicklung im Strafvollzug nicht widerlegt. Vielmehr hat die
Strafvollstreckungskammer noch in ihrem die vorzeitige Entlassung ablehnenden
Beschluss vom 06.03.2008 (Bl. 813 a Bd. IV d. A.), der Einschätzung der
Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft Münster folgend, festgestellt, dass
bei dem Verurteilten weder hinsichtlich der Tataufarbeitung noch bei seiner
sonstigen Entwicklung Fortschritte festzustellen seien, welche eine vorzeitige
Entlassung rechtfertigen könnten. Diese vollzugliche Situation, die für eine
möglicherweise fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten spricht, besteht
auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausweislich der Stellungnahme der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt Münster unverändert fort. Bestehen aber konkrete, auf
Tatsachen gegründete Zweifel, dass die Gefährlichkeit eines Verurteilten entfallen
ist, kann auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht verzichtet
werden.
Überdies vermag auch die Begründung des angefochtenen Beschlusses die in der
sofortigen Beschwerde vorgetragenen Erwägungen nicht zu entkräften. Zwar soll
das Rechtsmittelgericht von der aufgrund des persönlichen Eindrucks gewonnenen
Legal- und Sozialprognose der Strafvollstreckungskammer nur abweichen, wenn
diese wichtige Gesichtspunkte übersehen hat. Dies ist jedoch der Fall. Denn auf
die mehrfach und fundiert vorgetragenen Bedenken der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt N ist die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss nicht
näher eingegangen. Ebenso hat sie die Abkehr von ihrer noch wenige Monate
zuvor begründeten ablehnenden Entscheidung – bei gleicher Sachlage – nicht
begründet. Zwat ist es zutreffend, dass bei einem Erstverbüßer eine Vermutung
dafür spricht, dass der Vollzug seine Wirkung nicht verfehlt hat und den Verurteilten
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nachhaltig beeindruckt. Die dieser Vermutung entgegenstehenden Umstände, wie
sie vorstehend näher ausgeführt worden sind, hat die Strafvollstreckungskammer
jedoch nicht weiter gewürdigt. Der Umstand, dass der Verurteilte bereits mehr als
zwei Drittel der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe verbüßt hat und auf den die
Strafvollstreckungskammer ersichtlich abstellt, sagt isoliert betrachtet ebenfalls
nichts über ein künftiges straffreies Verhalten aus. Die Behauptung des
Verurteilten, er habe sich entgegen den Ausführungen der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt um weitere psychologische Gespräche und damit um eine
Aufarbeitung seiner Tat bemüht, hält die Strafvollstreckungskammer selbst nicht für
glaubhaft. Gleichwohl folgert das Landgericht allein aus dem grundsätzlichen
Eingestehen seiner Tat durch den Verurteilten, dass dieser sich künftig straffrei
verhalten werde. Bei dieser Annahme hat sich die Strafvollstreckungskammer
insbesondere nicht mit den entgegenstehenden Feststellungen der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt auseinandergesetzt, die eine solche Aufarbeitung der Tat in
der Person des Verurteilten gerade nicht feststellen konnte. Es erscheint nicht
ausschließbar, dass es sich bei den gegenüber der Strafvollstreckungskammer
gemachten Angaben des Verurteilten lediglich um prozesstaktisches Verhalten
gehandelt hat. Unabhängig davon steht die von der Strafvollstreckungskammer
selbst nicht in Abrede gestellte Weigerung des Verurteilten, weiterhin an
psychologischen Gesprächen teilzunehmen, der vorstehenden Annahme des
Landgerichts unvereinbar entgegen.
Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer kann nach allem keinen Bestand
haben."
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Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung in vollem Umfang an.
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Der Senat hat davon abgesehen, gem. § 309 Abs. 2 StPO selbst abschließend zu
entscheiden.
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Zwar sind aus derzeitiger Sicht Gründe, die eine bedingte Enlassung des Verurteilten
rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Insoweit ist insbesondere auf die Stellungnahme
der Leiterin der Justizvollzugsanstalt N vom 25. August 2008 zu verweisen. Gleichwohl
will der Senat der Strafvollstreckungskammer, die mit dem angefochtenen Beschluss
eine bedingte Entlassung des Verurteilten für verantwortbar gehalten hat, die
Möglichkeit der Vorgehensweise gem. § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht nehmen.
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Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten
Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Münster zurückzuverweisen.
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Der Schriftsatz des Verteidigers vom 15. Oktober 2008 hat vorgelegen.
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