Urteil des OLG Hamm vom 11.12.2006

OLG Hamm: aufklärungspflicht, höchstgeschwindigkeit, messung, beweisantrag, ermessen, geschwindigkeitsüberschreitung, messgerät, erforschung, marke, befreiung

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss OWi 598/06
Datum:
11.12.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss OWi 598/06
Vorinstanz:
Amtsgericht Hagen, 70 OWi 877 Js 1204/05 (250/05)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das
Amtsgericht Hagen zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässig
begangener Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße
von 100,00 € verurteilt. Zudem hat es wegen ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
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Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 12. Juli 2005
gegen 10.28 Uhr in I mit seinem Pkw Porsche 911-996 Coupé mit dem amtlichen
Kennzeichen ########, die F-Straße mit einer Höchstgeschwindigkeit von 83 km/h.
Damit überschritt er die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nach Abzug
der Messtoleranz von 3 km/h um 30 km/h. Die Messung wurde aus einer Entfernung von
166 m mit einem Laser-Geschwindigkeitsmessgerät der Marke S (Seriennummer
########) vorgenommen.
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Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die
Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat
beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben.
5
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat Erfolg. Auf die zulässig erhobene
Verfahrensrüge war das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Betroffene hat mit seiner
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Verfahrensrüge u.a. geltend gemacht, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag zu
Unrecht nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt, mit dem der Verteidiger des
Betroffenen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der
Tatsache verlangt hatte, dass das verwendete S-Messgerät bei der vorliegenden
Messdistanz von 166 m mit einer Fehlerquelle behaftet ist, durch welche die tatsächlich
gefahrene Geschwindigkeit des Porsche 911-996 Coupé erheblich geringer als die mit
dem Gerät gemessene Geschwindigkeit gewesen sein kann.
1.
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Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
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Der Verteidiger stellte für den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 12. Mai 2006
folgenden Beweisantrag:
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"Ich beantrage zum Beweis der Tatsache, dass die gemessene
Geschwindigkeit nicht der tatsächlichen Geschwindigkeit entspricht und nicht
ausgeschlossen werden kann, dass eine erheblich niedrigere
Geschwindigkeit gefahren werden konnte, im Hinblick auf die Bauart des
Porsche und die fehlende nicht protokollierte Nullmessung, die Einholung
eines Sachverständigengutachtens."
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei dem gefahrenen Porsche bei einer
Messentfernung von 100 bis 200 m trotz Anvisierung des Kennzeichens die Gefahr
bestehe, dass der Laserstrahl an parallel zur Fahrtrichtung ausgerichteten Bauteilen
wandere und damit eine zu hohe Geschwindigkeit angezeigt werde, ohne dass das
Messgerät eine Fehlmessung ausgebe. Zur Begründung wurde auf die Ausführungen
des Sachverständigen M in dem Fachbuch "Fehlerquellen bei polizeilichen
Messverfahren" von Beck/Löhle, 8. Aufl. [2006], S. 50 ff. verwiesen, welches dem
Amtsgericht auszugsweise zur Verfügung gestellt worden war.
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Die gestellten Anträge lehnte das Gericht durch Beschluss in der Hauptverhandlung
nach vorheriger Beweiserhebung durch Verlesung des Messprotokolls und durch
Vernehmung der Messbeamten mit folgender Begründung ab, die offenbar auf die
Anwendung des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abzielt:
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"Bei der Messung bei einem Laserhandgerät der Marke S handelt es sich um
ein allgemein geprüftes standardisiertes Messverfahren. Erhebliche
Anhaltspunkte für eine Fehlmessung im vorliegenden Fall ergeben sich nach
dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme nicht, so dass das Gericht die
Einholung eines Sachverständigengutachtens zur weiteren
Überzeugungsbildung nicht für geboten hält."
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Im angefochtenen Urteil wird zudem noch ausgeführt, dass auch der Umstand, dass die
Messentfernung lediglich 166 m betragen und damit erheblich geringer als in weiteren
mitgeteilten Messfällen gewesen sei, nicht auf einen Messfehler schließen lasse. Dieser
Umstand sei dadurch hinreichend erklärt, dass der Messbeamte nach seinen Angaben
das Fahrzeug möglicherweise erst spät erkannt habe. Gegen einen bauartbedingten
Messfehler spreche ausschlaggebend die Angabe des als Zeugen gehörten
Messbeamten, er visiere allgemein das Nummernschild eines gemessenen Fahrzeuges
an. Dies sei auch im vorliegenden Falle so erfolgt, ohne dass das Gerät Messfehler
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angezeigt habe. Vor diesem Hintergrund habe sich das Gericht bei seiner
Überzeugungsbildung auf fehlerfreie Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens
stützen können, da sich bei einer Fehlmessung zwingend Fehlermeldungen hätten
ergeben müssen.
2.
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Diese Begründung trägt die Ablehnung des gestellten Beweisantrages nicht. Für die
Handhabung des § 77 Abs. 1 Nr. 1 OWiG gelten folgende Maßstäbe:
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Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG
verpflichtet, die Wahrheit vom Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der
Beweisaufnahme hat der Amtsrichter – unter Berücksichtigung der Bedeutung der
Sache, § 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG – nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In §
77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das
Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende
Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach
dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag
auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die
Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 77 Abs. 2 Nr. 1
OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss bereits eine
Beweisaufnahme über eine entscheidungserhebliche Tatsache stattgefunden haben,
aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der
Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung
muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der
Wahrheit nicht erforderlich sein (OLG Schleswig SchlHA 2004, 264 f.; KK-Senge, OWiG,
3. Aufl., § 77 Rn. 15 m.w.N.; Göhler/Seitz, OWiG, 14. Aufl., § 77 Rn. 11). Damit ist das
Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach
§ 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG
prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (vgl. m.w.N. treffend KK-
Senge, a.a.O., § 77 Rn. 16; Göhler/Seitz, a.a.O., § 77 Rn. 12, 14 und 16). Verletzt ist die
Aufklärungspflicht dann, wenn sich dem Gericht eine Beweiserhebung aufdrängen
musste oder diese nahe lag (vgl. zu diesem Maßstab etwa OLG Köln VRS 88, 376; OLG
E NStZ 1991, 542 f.; Göhler/Seitz, a.a.O., § 77 Rn. 12). Bei der Verwendung eines
standardisierten Messverfahrens zum Beleg einer Geschwindigkeitsüberschreitung ist
einzubeziehen, dass in diesem Fall nur eingeschränkte tatsächliche Feststellungen
erforderlich sind (vgl. BGHSt 39, 291 ff. und für Laser-Messverfahren BGHSt 43, 277,
283 f.). Indes wird anerkannt, dass sich die weitere Beweisaufnahme zur Aufklärung bei
einer auf ein standardisiertes Messverfahren gestützten Beweisführung aufdrängt oder
diese doch nahe liegt, wenn konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des
Messgerätes behauptet werden (vgl. so OLG Köln VRS 88, 376 ff.; Göhler/Seitz, a.a.O.,
§ 77 Rn. 14; siehe Senat in VA 2006, 193 = zfs 2006, 654). Zu beachten ist ebenso,
dass die Anforderungen an den Schuldbeweis im Ordnungswidrigkeitenverfahren selbst
keine geringeren sind als im Strafverfahren (vgl. BGH NJW 1974, 2295 f. und
Mosbacher, in: Lemke/Mosbacher, OWiG, 2. Aufl., § 77 Rn. 3).
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Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages
hinsichtlich der behaupteten Fehlerquelle des S-Messgerätes die Vorschrift des § 77
Abs. 2 Nr. 1 OWiG bzw. das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Zwar hatte das
Amtsgericht bereits die Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens zur
Beweisaufnahme herangezogen und zu dessen Einsatz zwei Messbeamte als Zeugen
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vernommen (vgl. zur Einordnung der Messung mit dem S-Gerät Senat, a.a.O., m.w.N.).
Die Berufung auf ein standardisiertes Messverfahren objektiviert eine
Geschwindigkeitsüberschreitung jedoch nur dann ohne weiteres, wenn keine konkreten
Anhaltspunkte für eine Fehlmessung im Einzelfall dargetan werden. Dies ist indes
seitens des Betroffenen entgegen der Auffassung des Amtsgerichts erfolgt. Es war für
die spezifische Situation eines aus 166 m gemessenen Porsche unter substantiierender
Bezugnahme auf Fachliteratur dargelegt, dass eine Fehlerquelle des verwendeten
Messverfahrens gerade in der auch vom Gericht angenommenen konkreten
Messkonstellation existiert. Die aufgeworfenen Zweifel ergaben sich somit – anders als
in dem Beschluss des Senats in VA 2006, 193 = zfs 2006, 654 – nicht nur aus allgemein
behaupteten Fehlerquellen des S-Gerätes, sondern auch aus seinen tatsächlichen
Einsatzumständen.
Das Amtsgericht hat hingegen mit seiner Auffassung, es lägen keine erheblichen
Anhaltspunkte für eine Fehlmessung vor, seine auch nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG
fortbestehende Aufklärungspflicht verletzt, indem es sich auf den Standpunkt gestellt
hat, dass es die Zweifel an der Tauglichkeit des standardisierten Messverfahrens auf
Grund eigener Sachkunde als haltlos verwerfen konnte, obschon diese unter
Bezugnahme auf einen anerkannten Sachverständigen substantiiert vorgetragen
worden sind. Das Amtsgericht unterstellt hier seine eigene Sachkunde (vgl. auch OLG
Jena VRS 108, 371 f.), während es sich nach der dem Tatgericht obliegenden
Aufklärungspflicht tatsächlich aufgedrängt hätte, dem konkret und substantiiert
dargebrachten Zweifel an der Belastbarkeit der Messung anhand des Beweisantrages
nachzugehen, da die Sachverhaltsaufklärung letztlich allein von der Überzeugungskraft
des standardisierten Messverfahrens abhing.
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Eine Verletzung der Aufklärungspflicht lässt sich auch nicht damit ausschließen, indem
von einer besonderen Sachkunde des Amtsgerichts ausgegangen wird: Wenn es sich –
wie hier – nicht um einen alltäglichen Lebensvorgang handelt, der in seinen
Folgewirkungen auch von einem Laien erkannt und richtig bewertet werden kann,
sondern vielmehr technisches Fachwissen erforderlich ist, das nicht jedem bekannt ist,
muss der Richter seine eigene Sachkunde in den Urteilsgründen besonders darlegen
(vgl. so OLG Jena, a.a.O..; KK-Senge, a.a.O., § 77 Rn. 37). Dies ist hier aber nicht
geschehen. So setzt sich das Amtsgericht etwa mit der möglichen Fehlmessung trotz
Anvisierung des Kennzeichens in keiner Weise auseinander (vgl. insoweit aus der
Rechtsprechung auch schon OLG Naumburg NZV 1996, 419 f. zum
erörterungswürdigen Ausschluss des seitlichen Abgleitens des Lasers bei einem
Porsche). Vielmehr unterstellt das Amtsgericht lediglich die eigene Sachkunde, indem
es ohne Begründung davon ausgeht, dass der behauptete Messfehler zu einer
angezeigten Fehlmessung führen müsse, was nach dem in Bezug genommenen
Sachverständigen gerade nicht der Fall sein soll.
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Damit war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
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III.
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Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
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Bei einer erneuten Rechtsfolgenbemessung wird darauf zu achten sein, dass die
Urteilsformulierungen nicht den Eindruck erwecken, dass Gericht habe möglicherweise
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den Rechtsgedanken des Doppelverwertungsverbots im Hinblick auf die "nicht
geringfügige Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit" unbeachtet gelassen (vgl. zum
Doppelverwertungsverbot im Ordnungswidrigkeitrecht Göhler/König, a.a.O., § 17 Rn. 16
und 17 m.w.N).
Ebenso wird das Amtsgericht im Fall einer Verurteilung – worauf die
Generalstaatsanwaltschaft mit Recht hingewiesen hat – Sorge zu tragen haben, dass es
ausreichende Feststellungen zu den beruflichen und persönlichen Verhältnissen des
Betroffenen trifft, damit das Rechtsbeschwerdegericht zu beurteilen vermag, ob die
Verhängung des Fahrverbots wegen besonderer Umstände in den persönlichen
Verhältnissen des Betroffenen eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat darstellt.
Dies gilt in diesem Fall auch vor dem Hintergrund der Entbindung vom persönlichen
Erscheinen (vgl. dazu BayObLG NJW 1999, 2292 m.w.N.). Die erforderliche Aufklärung
ist zumindest über eine schriftliche Erklärung des Betroffenen herbeizuführen.
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