Urteil des OLG Hamm vom 18.12.1989

OLG Hamm (amtliches kennzeichen, bezug, zpo, höhe, rechtshängigkeit, umfang, arbeitsunfall, unfall, gespräch, schaden)

Oberlandesgericht Hamm, 32 U 83/89
Datum:
18.12.1989
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
32. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
32 U 83/89
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 3 O 290/88
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des
Landgerichts Essen vom 27. Januar 1989 wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 4.000,-- DM abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Klägerin kann die Sicherheit
durch selbstschuldnerische Bürgschaft einer Großbank oder öffentlichen
Sparkasse erbringen.
Die Beschwer der Beklagten beträgt 50.000,-- DM.
Tatbestand:
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Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.
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Sie kam am Vormittag des 20. Oktober 1984 in die Trinkhalle, die die Beklagte zu 2) in
xxx betreibt, um sich mit ihr privat zu unterhalten. Die Beklagte zu 2) erklärte, sie müsse
zum Milchhof fahren, um Getränke zu holen. Die Klägerin begleitete die Beklagte zu 2),
die für die Fahrt den bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw xxx, amtliches
Kennzeichen xxx, benutzte. Im Milchhof kaufte die Beklagte zu 2) zwei Kartons mit je
acht Liter-Flaschen Milch, von denen die Klägerin einen in den Pkw trug.
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Auf der Rückfahrt geriet der Pkw durch Verschulden der Beklagten zu 20 in einer Kurve
auf der xxx nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Die
Klägerin wurde erheblich verletzt. Insoweit wird auf S. 4 der Klageschrift vom 26. Mai
1988 (4 GA) Bezug genommen. Von der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel
wurde der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt. Die Klägerin erhält eine Dauerrente,
basierend auf einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 %. Auf die Kopien der
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Bescheide vom 19. Februar und 19. August 1986 (24, 25 GA) wird Bezug genommen.
Die Klägerin hat behauptet, sie habe die Beklagte zu 2) begleitet, um mit ihr weiter über
private Themen sprechen zu können.
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Sie hat beantragt,
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1.
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes, der
Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 4 %
Zinsen aus 10.000,-- DM vom 31.12.1984 bis zum 15.08.1984, aus 20.000,-- DM
vom 16.08.1984 bis Rechtshängigkeit (03.06.1988/ 19.08.1988), im übrigen ab
Rechtshängigkeit zu zahlen;
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2.
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festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr
sämtlichen materiellen und zukünftig immateriellen Schaden aufgrund des
Verkehrsunfalles vom 20.10.1984 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf
öffentliche Sozialversicherungs- oder Sozialleistungsträger übergegangen sind.
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Die Beklagten haben beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie haben behauptet, die Klägerin habe die Beklagte zu 2) begleitet, um beim
Wareneinkauf behilflich zu sein. Deshalb haben sie gemeint, Schadensersatzansprüche
der Klägerin seien gemäß § 636 Abs. 1 RVO ausgeschlossen.
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Das Landgericht hat die Beklagte zu 2) gemäß § 141 ZPO angehört, sowie Beweis
erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und Verwertung der
Bußgeldakten 393-0.471 513.6 der Stadt xxx. Auf das Gutachten des Sachverständigen
xxx vom 5. Dezember 1988 (101 ff. GA) sowie die genannten Beiakten wird Bezug
genommen.
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Durch das angefochtene Grundurteil, auf dessen Begründung Bezug genommen wird,
hat es die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
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Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten mit dem Antrag,
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das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Die Beklagten beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen,
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hilfsweise
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die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 405,-- DM nebst 4 % Zinsen
seit Rechtshängigkeit zu verurteilen und im übrigen festzustellen, daß die
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Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtlichen
weiteren materiellen Schaden aufgrund des Verkehrsunfalles vom 20.10.1984 zu
ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentliche Sozialversicherungs- oder
Sozialleistungsträger übergegangen sind.
Die Parteien wiederholen und ergänzen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Hierzu wird
auf den Inhalt der in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Der Senat hat die Klägerin und die Beklagte zu 2) gemäß § 141 ZPO angehört. Auf das
Ergebnis, niedergelegt im Berichterstattervermerk vom 18. Dezember 1989, wird
verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist nicht begründet.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 2) dem Grunde nach einen
Schmerzensgeldanspruch nach §§ 823, 847 BGB. Die Beklagte zu 1) haftet als
Pflichtversicherer nach § 3 Nr. 1 PflVersG. Die Voraussetzungen des
Schmerzensgeldanspruches sind dem Grunde nach unstreitig. Die Haftung der
Beklagten ist nicht nach § 636 Abs. 1 S. 1 2. Alternative RVO ausgeschlossen. Denn die
Klägerin hat ihre Verletzungen bei einem Arbeitsunfall erlitten, der bei der Teilnahme
am allgemeinen Verkehr eingetreten ist.
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Die Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel hat den Verkehrsunfall vom 20. Oktober
1984 endgültig als Arbeitsunfall der Klägerin (§§ 548, 539 Abs. 2 RVO) anerkannt. An
diese Entscheidung ist das angerufene Gericht nach § 638 Abs. 1 RVO gebunden (BGH
NJW 1983, 2021 ff). Die Bescheide der Berufsgenossenschaft vom 19. Februar und 19.
August 1986 beinhalten notwendigerweise die Entscheidung, daß die Klägerin während
des Unfalles "Versicherte" im Sinne der Unfallversicherungsbestimmungen war. Die
Frage, ob der Klägerin gleichwohl Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 2)
als Unternehmerin zustehen, weil der Unfall bei der "Teilnahme am allgemeinen
Verkehr" geschah (§ 636 Abs. 1 S. 1 2. Alternative RVO) ist vom ordentlichen Gericht
unabhängig davon, nach selbständiger Prüfung und Würdigung des Sachverhaltes, zu
beantworten (vgl. OLG Düsseldorf VersR 1972, 389; OLG Bamberg, DAR 1977, 326,
327). Dabei ist maßgebend, ob die Klägerin den Unfall als normaler Verkehrsteilnehmer
oder als Betriebsangehöriger erlitten hat; ob das eine oder andere vorliegt oder
überwiegt, ist nach der besonderen Lage des Einzelfalles zu beurteilen (BGH VersR
1956, 388, 389; 1976, 539, NJW 1983, 2021, 2022; OLG Düsseldorf VersR 1972, 389,
390).
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Aus Sicht der Beklagten zu 2) war die Fahrt betrieblich veranlaßt, denn der Einkauf der
Milch diente der Versorgung ihres Trinkhallenbetriebes. Nach der Anhörung der
Klägerin und der Beklagten zu 2) vor dem Senat sowie aufgrund der weiteren Umstände
steht jedoch fest, daß die Klägerin an der Fahrt teilgenommen hat, um ein privates
Gespräch mit der Beklagten zu 2) fortsetzen zu können, insbesondere um über ihre
familiären Probleme zu reden. Ein anderer Zweck oder eine Notwendigkeit, mitzufahren,
bestand nicht. Denn die Klägerin war weder bei der Beklagten zu 2) angestellt noch
erforderte der Umfang der Besorgungen ihre Hilfe. Die Klägerin hätte die Beklagte zu 2)
jederzeit um Unterbrechung der Fahrt bitten und den Pkw verlassen können. Daß die
Beklagte zu 2) möglicherweise auch an eine Mithilfe der Klägerin gedacht hat, ist von
untergeordneter Bedeutung. Grund für die Mitfahrt der Klägerin war, daß beide von
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Dritten ungestört, während der Fahrt das Gespräch über private Dinge fortsetzen
wollten. Anlaß und Zweck der Mitfahrt der Klägerin hatten somit eindeutig privaten
Charakter. Eine Zweckbindung zu dem Geschäftsbetrieb der Beklagten zu 2) war nicht
gegeben. Zu diesem bestand allenfalls ein loser Zusammenhang, der sich daraus
ergab, daß die Beklagte zu.2) zum Milchhof mußte. Auf die Fahrt als solche kam es nicht
an. Die Klägerin war von der Beklagten zu 2) ohne geschäftliche Zwecke mitgenommen
worden, so daß ihre Situation die eines normalen Verkehrsteilnehmers war und ihre
Rechtsstellung als Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr nicht aufgehoben war
(vgl. OLG Bamberg a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O. S. 390).
Daß die Klägerin sich bereitgefunden hat, beim Einladen der beiden Kartons mit
Milchflaschen zu helfen, ändert die rechtliche Beurteilung nicht. Dieser kurzfristige
betriebliche Vorgang brachte sie nicht in so engen Zusammenhang mit dem
Trinkhallenbetrieb der Beklagten zu 2), daß die während der gesamten Fahrt
bestehende Eigenschaft der Klägerin als Verkehrsteilnehmerin in den Hintergrund träte.
Die Klägerin hat die Verletzungen erlitten, als die Parteien sich auf der Rückfahrt
befanden und der Vorgang des Einladens längst abgeschlossen war. Es wäre unbillig
und entspräche nicht der Zielsetzung des § 636 Abs. 1 S. 1 2. Alt. RVO, wenn ihr
Entschluß zu einer nur ganz kurze Zeit währenden Hilfeleistung, zu der sie nicht
verpflichtet war, eine vermögensrechtliche Schlechterstellung zur Folge hätte (vgl. auch
BGH VersR 1956, 389).
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Über den Feststellungsantrag war nicht zu entscheiden. Dieser ist dem
Berufungsgericht nicht zur Entscheidung angefallen, § 537 ZPO, denn es kann nicht
festgestellt werden, daß das Landgericht über diesen Antrag in seinem Urteil
entscheiden wollte. Der Urteilstenor enthält lediglich die Formulierung, daß die Klage
dem Grunde nach gerechtfertigt ist. Eine Auslegung des Urteilstenors dahingehend, daß
das Landgericht auch zum Feststellungsantrag betreffend den materiellen und
immateriellen Zukunftsschaden entscheiden wollte, ist zwar grundsätzlich möglich
(BGHZ 7, 331, 333 f.; VersR 1959, 904, 905; VersR 1975, 253, 254; OLG Frankfurt
VersR 1985, 168). Eine solche Auslegung kommt vorliegend nicht in Betracht. Denn ein
entsprechender Wille des Landgerichts ergibt sich weder aus den
Entscheidungsgründen, noch ist der vom Landgericht festgestellte und gewürdigte
Sachverhalt insoweit zur Entscheidung reif. Insbesondere der Umfang des
Schmerzensgeldanspruches ist streitig und nicht aufgeklärt. Es bedarf der
Beweiserhebung. Soweit Feststellung hinsichtlich zukünftiger immaterieller Schäden
begehrt wird, ist der sich aus Tenor und Entscheidungsgründen ergebende Umfang der
Rechtskraft (vgl. Zöller, 15. Aufl., vor § 322 Rn. 31 m. w. N.) deshalb zur Zeit auch nicht
eindeutig bestimmbar.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 97, 708 Ziff. 10, 711 ZPO.
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