Urteil des OLG Frankfurt vom 29.05.2008

OLG Frankfurt: nichtbeförderung, verordnung, eigenes verschulden, verspätung, ausgleichszahlung, begriff, form, anwendungsbereich, verzicht, gegenleistung

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Gericht:
OLG Frankfurt 16.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
16 U 178/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
Art 4 Abs 3 EGV 261/2004
(Europäisches Fluggastrecht: Begriff der
„Nichtbeförderung“)
Leitsatz
Zum Begriff der "Nichtbeförderung" im Sinne der EuFlugVO
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 8. Juni 2007 verkündete Urteil des
Amtsgerichts Frankfurt am Main - Az.: 30 C 1062/07- 68 - teilweise abgeändert und
wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 250,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14. März 2007 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten der ersten Instanz haben die Parteien je zur Hälfte zu tragen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 %
des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in
Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger verlangt eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 Abs. 1 a i.V.m. Art. 4
Abs. 3 der EU-Verordnung Nr. 261/04 (im Folgenden: EuFlugVO).
Der Kläger buchte bei der Beklagten einen Flug für den …. Oktober 2006 von 01
nach O2 über O3. Die geplante Abflugzeit war 17:15 Uhr, die tatsächliche
Abflugzeit 19:15 Uhr. Den um 20:25 Uhr planmäßig startenden Anschlussflug von
O3 nach O2 konnte der Kläger aufgrund der Verspätung des Zubringerfluges nicht
mehr erreichen. Die Beklagte buchte daraufhin den Kläger auf den Folgetag um,
so dass er sein Ziel erst am 4. Oktober 2006 gegen 11:00 Uhr, also mit 13
Stunden Verspätung, erreichte. Hierfür macht der Kläger eine Ausgleichszahlung
in Höhe von 250,00 € geltend.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 37 - 38 d. A.) Bezug
genommen.
Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben und dem Kläger die gemäß Art. 4
Abs. 3 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a EuFlugVO vorgesehene Ausgleichszahlung von 250,00
€ zugebilligt. Zur Begründung hat das Amtsgericht ausgeführt, dass nicht nur eine
Verspätung, sondern wegen des nicht mehr erreichten Weiterflugs eine
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Verspätung, sondern wegen des nicht mehr erreichten Weiterflugs eine
Nichtbeförderung vorliege. Nach Ansicht des Amtsgerichts kann sich die Beklagte
nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sich der Kläger nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 a
der Verordnung spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur
Abfertigung eingefunden habe, weil er bereits in 01 zugleich für den Weiterflug die
Boarding-Pässe erhalten habe.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten der amtsgerichtlichen Begründung wird gemäß §
540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl.
39 - 41 d. A.) Bezug genommen.
Gegen das ihr am 12. Juni 2007 zugestellte Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am
Main vom 8. Juni 2007 hat die Beklagte mit einer am 26. Juni 2007 eingegangenen
Schrift - wie vom Amtsgericht zugelassen - Berufung eingelegt, die mit einer am
24. Juli 2007 eingegangenen Schrift begründet worden ist.
Die Berufung beschränkt sich auf die zugebilligte Ausgleichszahlung für den Flug
des Klägers am ... Oktober 2006 von 01 über O3 nach O2.
Die vom Amtsgericht ebenfalls zugebilligte Ausgleichszahlung wegen Annullierung
des Rückflugs vom 6. Oktober 2006 von O3 nach 01 ist nicht Gegenstand des
Berufungsverfahrens.
Die Beklagte rügt Rechtsfehler und ist der Ansicht, hinsichtlich des Hinfluges am ...
Oktober 2006 von 01 nach O3 liege lediglich eine Verspätung und keine
„Nichtbeförderung“ vor.
Die Beklagte beantragt,
das am 8. Juni 2007 verkündete Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main - 30
C 1062/07- 68 - aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit die Beklagte zu
mehr als 250 € verurteilt worden ist.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Hinsichtlich weiter Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den
vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst
Anlagen Bezug genommen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig.
Das Oberlandesgericht Frankfurt ist das gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG
zuständige Gericht, da es sich um Streitigkeiten über Ansprüche handelt, die
gegen eine Partei erhoben werden, die ihren allgemeinen Gerichtsstand im
Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs
dieses Gesetzes hatte. In Deutschland gibt es nämlich lediglich eine
Zweigniederlassung der Beklagten.
Die Berufung ist auch begründet.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäß Art. 4 Abs. 3 i. V.
m. Art 7 Abs. 1 a EuFlugVO zu.
Zwar ist diese Verordnung gemäß Art 3 Abs. 2 b EuFlugVO anwendbar. Nach
Auffassung des Senats liegt jedoch keine „Nichtbeförderung“ im Sinne des Art. 4
EuFlugVO vor.
Nach der Definition des Begriffs in Art. 2 j EuFlugVO setzt eine „Nichtbeförderung“
die Weigerung voraus, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Art. 3
Abs. 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine
vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z.B. im
Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen
Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen.
Eine rein faktische „Nicht-Weiter-Beförderung“, z.B. wegen Verspätung des
Zubringerfluges, reicht indessen nicht aus, eine Nichtbeförderung im Sinne des
Art. 2 j EuFlugVO anzunehmen.
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Das ist bereits aufgrund des Wortlauts der Fall, da der Begriff der „Weigerung“ ein
bewusstes Zurückweisen der Passagiere impliziert, die sich mit einer bestätigten
Buchung und rechtzeitig zur Flugabfertigung eingefunden haben. Darüber hinaus
spricht auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift für eine Beschränkung auf
die Fälle einer Zurückweisung der Fluggäste wegen Überbuchung des Fluges.
Die EG-VO 261/04 hat die EG-VO Nr. 295/91 abgelöst. Sie hat zwar den
Anwendungsbereich der alten Verordnung erweitert, jedoch nicht auf die Fälle des
Nichterreichens des Anschlussfluges wegen verspäteten Eintreffens des
Zubringerfluges. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die alte Verordnung
hat ausschließlich die Fälle der Nichtbeförderung wegen Überbuchung erfasst, wie
der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2006 (NJW-RR 2006,
1719 f.) ausdrücklich festgestellt hat. Auch wenn in der neuen Verordnung der
Begriff „Überbuchung“ im Gegensatz zur alten Verordnung nicht genannt wird, ist
aus den Erwägungsgründen auf den Willen des Verordnungsgebers zu schließen,
es bei den Anwendungsfällen der Überbuchung zu belassen, auch wenn jetzt nur
allgemein von „Nichtbeförderung“ die Rede ist.
In dem dritten Erwägungsgrund wird nämlich darauf hingewiesen, dass zwar ein
grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen worden, die Zahl der gegen
ihren Willen nicht beförderten Fluggäste aber immer noch zu hoch sei. Nach
Erwägungsgrund 4 sollte die Gemeinschaft deshalb die mit der genannten
Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu
stärken. Dementsprechend sieht Erwägungsgrund 9 vor, dass die Zahl der gegen
ihren Willen nicht beförderten Fluggäste dadurch verringert werden sollte, dass von
dem Luftfahrtunternehmen verlangt wird, Fluggäste gegen eine entsprechende
Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen, anstatt
Fluggästen die Beförderung zu verweigern, und denjenigen, die letztlich nicht
befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.
Diese Erwägung ist dann mit der Vorschrift des Art. 4 umgesetzt worden, nach
dessen Abs. 1 ein Luftfahrtunternehmen zunächst versuchen muss, Fluggäste
gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre
Buchung zu bewegen, und nach dessen Abs. 2 Fluggästen gegen ihren Willen die
Beförderung verweigern kann, wenn sich nicht genügend Freiwillige finden, wobei
nach Abs. 3 diesen unverzüglich eine Ausgleichsleistung zu erbringen ist. In der
Einführung von Art. 4 Abs. 1 und 2 EuFlugVO liegt daher bereits eine erhebliche
Stärkung der Fluggastrechte. Dem Verbraucherschutzgedanken ist darüber hinaus
dadurch stärker Rechnung getragen worden, dass die Tatbestände der
„Annullierung“ und „Verspätung“ eingeführt worden sind, also weitere
entschädigungspflichtige Tatbestände geschaffen wurden; auch wurden
Charterflüge in den Anwendungsbereich einbezogen.
Anhaltspunkte dafür, dass der Tatbestand der „Nichtbeförderung“ neu definiert
werden sollte und nicht nur im Fall der „Überbuchung“, sondern auch bei
Nichterreichung des Anschlussfluges wegen Verspätung des Zubringerfluges erfüllt
sein sollte, finden sich hingegen nicht in den Erwägungsgründen.
Dabei wäre es - bei einem entsprechenden Willen des Verordnungsgebers - ohne
Weiteres möglich gewesen, die Nichtbeförderung neu und anders, und zwar als
jede Form des misslungenen (Weiter-)Transports der Fluggäste zur ursprünglich
gebuchten Flugzeit zu definieren. Das aber wollte der Verordnungsgeber
offensichtlich nicht.
Dafür spricht auch die Systematik des Art. 4, dessen Absätze in ihrem
Regelungsgehalt aufeinander aufbauen. Da die Absätze 1 und 2
unmissverständlich die Fälle der Überbuchung im Blick haben, muss sich auch der
Regelungsgehalt von Abs. 3, der die Konsequenzen aus dem Verhaltenskodex der
Abs. 1 und 2 beinhaltet, auf die Fälle der Überbuchung beschränken.
Der Senat verkennt nicht, dass die Frage der Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 3
EuFlugVO überwiegend anders bewertet wird (so z. B. OLG Hamburg, RRa 2008,
139 ff.; LG Berlin, RRa 2008, 42 ff.; AG Bremen, Urteil vom 8. Mai 2007, 4 C 7/07
(Juris); Führig RRa 2007, 58 ff., 59; Schmid, NJW 2006, 1841 ff., 1842; wohl auch
Müller-Rostin, NZV 2007, 221 ff., 223).
Aufgrund des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte der Verordnung verbietet
es sich jedoch, allein aus dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und der
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es sich jedoch, allein aus dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und der
Erwägung, dass der Fluggast bei jeder faktischen Nichtbeförderung keine
Wahlfreiheit genießt und ohne eigenes Verschulden nicht - wie geplant - weiter
transportiert wird, eine Nichtbeförderung im Sinne des Art. 4 EuFlugVO
anzunehmen. Denn entscheidend ist, dass nach Auffassung des Senats aus den
genannten Gründen der Regelungsgehalt von Art. 4 Abs. 3 EuFlugVO diese über
den Fall der Überbuchung hinausgehenden Fälle der unterbliebenen Beförderung
nicht erfasst und nicht erfassen wollte, mag dies aus der Sicht des Verbrauchers
auch zu beklagen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen, da die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Denn andere
Gerichte, u. a. auch das Oberlandesgericht Hamburg (RRa 2008, 139 ff.), sind in
ähnlich gelagerten Fällen von einer „Nichtbeförderung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 3
EuFluggastVO ausgegangen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.