Urteil des OLG Frankfurt vom 19.02.2009

OLG Frankfurt: elterliche sorge, eltern, wohl des kindes, sorgerecht, trennung, verbringen, getrennt leben, widerrechtlichkeit, aufenthalt, verheirateter

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Gericht:
OLG Frankfurt 1.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 UF 162/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 3 S 1 KiEntfÜbk Haag, Art
155 CC ITA, Art 317 CC ITA
(Kindesrückführung nach Haager Übereinkommen: Begriff
der Widerrechtlichkeit bei Anwendung italienischen
Sorgerechts)
Orientierungssatz
Zum Begriff der Widerrechtlichkeit im Sinne von Art. 3 HKÜ bei der Anwendung von
italienischem Sorgerecht
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen
der Beschwerdegegnerin hat der Antragsteller zu tragen.
Der Beschwerdewert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
Das am ...1999 in O1 geborene Kind A entstammt einer Verbindung der Mutter
des Kindes – der Antragsgegnerin - mit dem Antragsteller, der italienischer
Staatsangehöriger ist. Dieser hat am ...1999, einen Tag nach seinem 16.
Geburtstag und darum nach italienischem Recht wirksam, vor dem Jugendamt in
O1 seine Vaterschaft anerkannt. Die Eltern des damals noch minderjährigen
Kindesvaters stimmten als gesetzliche Vertreter der Anerkennung zu. Desgleichen
erklärte die ebenfalls damals noch minderjährige Kindesmutter mit Zustimmung
ihrer allein sorgeberechtigten Mutter ihr Einverständnis mit der
Vaterschaftsanerkennung. Eine Sorgeerklärung nach § 1626 a BGB haben die
Eltern nicht abgegeben.
Einige Wochen nach der Geburt übersiedelten die Eltern mit dem Kind nach Italien.
Im Sommer 2000 kehrte die Mutter mit dem Kind nach Deutschland zurück, reiste
aber 2002 wieder nach Italien. Sie lebte dort zusammen mit dem Kindesvater im
Haushalt seiner Eltern.
Bald darauf kam es zu einer Entfremdung der Kindeseltern. Schon im Jahr 2003
endete die Beziehung der Kindeseltern, wobei die Antragsgegnerin jedoch mit dem
Kind in dem Haus der Eltern des Antragstellers wohnen blieb. Der Antragsteller
heiratete eine andere Frau. Aus dieser Ehe ging ein 2005 geborenes Kind hervor.
Spätestens seit der Heirat des Kindesvaters lebt er nicht mehr mit dem Kind A und
der Kindesmutter in einem Haushalt, da er mit seiner neuen Familie eine eigene
Wohnung bezog.
Am 17.12.2007 fuhr die Kindesmutter mit dem Kind „für die Dauer der
Weihnachtsferien" zu ihrer Mutter nach Deutschland. Am 06.01.2008 teilte sie der
Familie des Kindesvaters mit, dass sie nicht die Absicht habe, nach Italien
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Familie des Kindesvaters mit, dass sie nicht die Absicht habe, nach Italien
zurückzukehren.
Im März 2008 wandte sich der Vater an die italienischen Behörden, um die
Rückführung des Kindes nach Italien zu erreichen. Mit Anwaltsschreiben an das
Amtsgericht Frankfurt am Main vom 23.05.2008 stellte der Kindesvater unter
Berufung auf das Haager Kindesentführungsübereinkommen den Antrag auf
Rückführung des Kindes nach Italien. Parallel dazu beantragte der Kindesvater bei
dem Gericht für Minderjährige in O2, ihm das Sorgerecht für das Kind zu
übertragen.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Familiengericht Frankfurt am Main den
Rückführungsantrag mit der Begründung zurückgewiesen, der Antragsteller sei
nicht Inhaber der elterlichen Sorge oder der Mitsorge für das Kind. Mit der
Trennung der Parteien im Jahr 2005 sei das Mitsorgerecht des Antragstellers nach
italienischem Recht (Art. 317bis CC) weggefallen und die elterliche Sorge stehe
allein dem Elternteil zu, in dessen Haushalt das Kind lebe. Da das Kind nach der
Trennung bei der Kindesmutter verblieb, sei diese alleinige Inhaberin der
elterlichen Sorge gewesen, als sie mit dem Kind nach Deutschland reiste.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, mit der er sein
Rückführungsverlagen weiterverfolgt.
Unterdessen hat das Gericht für Minderjährige in O2 den Sorgerechtsantrag des
Kindesvaters mit Entscheidung vom 23.7.2008 abgewiesen und dies damit
begründet, dass es für die Regelung der elterlichen Sorge für A nicht zuständig sei.
Zuständig seien die deutschen Gerichte. In der Begründung dieser Entscheidung
führt das Gericht für Minderjährige in O2 aus, es liege kein widerrechtliches
Verbringen oder Zurückhalten des Kindes durch die Kindesmutter vor, da nach Art.
317bis CC die Kindesmutter alleine Inhaberin der elterlichen Sorge gewesen sei,
als das Kind nach Deutschland verbracht wurde.
Gegen diese Entscheidung hat der Kindesvater Berufung zum Berufungsgericht
von Catania eingelegt. Das Berufungsgericht von Catania hat mit Urteil vom
15.10.2008, das dem Senat erst im Dezember 2008 zur Kenntnis gelangte,
festgestellt, dass die Zuständigkeit für die Regelung der elterlichen Sorge für A bei
den italienischen Gerichten liege und die elterliche Sorge für A auf beide Elternteile
übertragen, wobei vom Gericht die Unterbringung des Kindes bei der Kindesmutter
angeordnet wurde. Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass die Regelung
nach Art. 317bis CC weitergelte, durch die Neufassung des Art. 155 des
italienischen CC jedoch den Gerichten die Möglichkeit eröffnet sei, auch bei Kindern
von nicht verheirateten Eltern das gemeinsame Sorgerecht anzuordnen. Das
gemeinsame Sorgerecht entstehe jedoch nicht bereits kraft Gesetzes, sondern
müsse beantragt und gerichtlich ausgesprochen werden. Bis dahin gelte der
Sorgerechtsstatus aus Art. 317bis CC fort.
Der Antragsteller hat gegen das Urteil des Berufungsgerichts Catania Revision
zum Corte di Cassazione eingelegt.
Unterdessen hatte der Senat mit Beschluss vom 3. 11. 2008 zur Ermittlung des
italienischen Rechts ein Gutachten des SV1 eingeholt. Dieses Gutachten sollte die
Frage beantworten, ob der Antragsteller nach italienischem Recht im Dezember
2007 ein (Mit-)Sorgerecht für A hatte, und auch dazu Stellung nehmen, welche
Auswirkungen die erfolgte Trennung der Kindeseltern mit dem Verbleib des Kindes
bei der Kindesmutter und die nach der Trennung in Kraft getretenen Änderungen
im italienischen Recht – insbesondere durch das Gesetz Nr. 54 vom 8. 2. 2006 –
auf die sorgerechtliche Stellung des Kindesvaters nach italienischem Recht hatten.
Es wurde ein Anhörungstermin vor dem Berichterstatter durchgeführt. In diesem
Termin wurden die Antragsgegnerin und das Kind angehört. Der Antragsteller war
zu dem Anhörungstermin nicht persönlich erschienen.
II. Die gemäß § 40 Abs. 2 IntFamRVG zulässige, insbesondere fristgerecht
eingelegte, sofortige Beschwerde des Antragstellers hat in der Sache keinen
Erfolg. Das Familiengericht hat den Rückführungsantrag zu Recht zurückgewiesen.
Im Hinblick darauf, dass das Berufungsgericht in Catania inzwischen eine Regelung
der elterlichen Sorge herbeigeführt und den Aufenthalt des Kindes bei der
Antragsgegnerin in Deutschland angeordnet hat, bestehen bereits Bedenken
dagegen, ob überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für eine
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dagegen, ob überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für eine
Rückführungsanordnung besteht. Ziel des Haager Übereinkommens über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen vom 25.10.1980 (HKÜ)
ist es, eine Rückführung widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter Kinder in
den Herkunftsstaat zu gewährleisten, um den dortigen Gerichten die Entscheidung
über die elterliche Sorge für das Kind vorzubehalten. Wenn eine
Sorgerechtsregelung eines Gerichtes des Landes, aus dem das Kind verbracht
wurde, dahingehend getroffen wurde, dass das Kind seinen Aufenthalt bei dem
Elternteil hat, der sich mit dem Kind in Deutschland aufhält, ist für eine
Rückführung kein Raum mehr.
Ob sich hinsichtlich des Rechtsschutzinteresses etwas anderes daraus ergibt, dass
die vom Berufungsgericht Catania getroffene Sorgerechtsregelung mit der
Revision angegriffen wurde und damit offenbar gegenwärtig noch nicht
rechtskräftig ist, kann jedoch offen bleiben. Denn eine Rückführung kann hier
jedenfalls deshalb nicht angeordnet werden, weil das Verbringen des Kindes durch
die Kindesmutter nicht widerrechtlich im Sinne von Art. 3 HKÜ erfolgte.
Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen
Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das
Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen
Aufenthalt hatte und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder
Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt
worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte
(Art. 3 Abs. 1 HKÜ). Das Übereinkommen wird auf jedes Kind angewandt, das
unmittelbar vor der Verletzung des Sorgerechts seinen gewöhnlichen Aufenthalt in
einem Vertragsstaat hatte (Art. 4 HKÜ).
Ob das (Mit-)Sorgerecht eines Elternteils verletzt worden ist, ist nach dem Recht
des Staates zu beurteilen, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder
Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Anwendbar ist folglich das
italienische Recht. Ob die Eltern nach deutschem Recht eine Sorgeerklärung nach
§ 1626a BGB abgegeben haben oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine
Rolle
Der Senat geht als Ergebnis seiner Aufklärung des italienischen Rechts unter
Beachtung der sich aus Art. 14 und Art. 15 HKÜ ergebenden Grundsätze davon
aus, dass die Antragsgegnerin im Dezember 2007, als sie das Kind nach
Deutschland verbrachte, nach Art. 317bis Abs. 2 S. 3 CC alleinige Inhaberin des
Sorgerechts für A war.
Das Gutachten des SV1 vom 10.12.2008 gelangt zu der Feststellung, dass
jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 54 vom 08.02.2006 die
Kindesmutter, nachdem die Kindeseltern sich getrennt hatten – mithin spätestens
mit dem Auszug des Kindesvaters und dessen Umzug in die neue Wohnung im
Jahr 2005 - das Recht hatte, mit dem Kind nach Deutschland zurückzukehren,
ohne zuvor die Zustimmung des Kindesvaters einholen zu müssen. Dies
begründet das Gutachten wie folgt:
„Das italienische Recht unterscheidet seit jeher zwischen der elterlichen Sorge und
deren Ausübung. Bei nichtehelichen Kindern steht die elterliche Sorge jedem
Elternteil zu, der das Kind anerkannt hat (Art. 317 bis Abs. 1 Cciv.). Haben beide
Eltern das Kind anerkannt, sind beide berechtigt, die elterliche Sorge auszuüben,
wenn sie zusammen leben (Art. 317 bis Abs. 2 S. 1 Cciv.). Der Elternteil, der die
elterliche Sorge nicht ausübt, hat die Befugnis, die Ausbildung, Erziehung und die
Lebensbedingungen des minderjährigen Kindes zu überwachen (Art. 317 bis Abs. 3
Cciv.). Was im Fall einer Trennung der Eltern geschieht, wird in der Vorschrift nicht
gesagt. Von einem Teil der Literatur wurde vorgeschlagen, in einem solchen Fall
Art. 155 Cciv. (a.F.) analog anzuwenden. Art. 155 Cciv. (a.F.) handelte von dem Fall
einer gerichtlichen Trennung von Ehegatten. Hier hatte der Richter zu bestimmen,
welchem der Ehegatten die Kinder anzuvertrauen seien. Diesem stand dann
vorbehaltlich einer anderen Bestimmung des Richters die ausschließliche
Ausübung der elterlichen Sorge zu. Vorbehaltlich anderweitiger Festsetzung waren
jedoch Entscheidungen von größerer Bedeutung für das Kind von beiden Eltern
gemeinsam zu treffen (Art. 155 Abs. 3 Cciv. a.F.). Man sprach in diesem
Zusammenhang von einer potestà affievolita nell'esercizio (von einer
abgeschwächten elterlichen Sorge).
Vgl. Sesta, diritto di famiglia, 2. Aufl. 2005, S. 471; Ruscello, La potestà dei
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Vgl. Sesta, diritto di famiglia, 2. Aufl. 2005, S. 471; Ruscello, La potestà dei
genitori, rapporti personali (Art. 315-319) in: Schlesinger: II codice civile,
commentario, 1996, S. 267.
Diese Analogie zu Art. 155 Abs. 3 Cciv. wurde jedoch von der herrschenden
Meinung abgelehnt mit der Begründung, Vorschriften, die für Ehegatten gelten,
könnten nicht auf nichteheliche Gemeinschaften analog angewandt werden.
A. u. M. Finocchiaro, diritto di famiglia, 1984, S. 2037; Giorgianni, Della potestà dei
genitori, in: Cicu/Oppo/Trabucchi, Comm. dir. it. fam., 1992, S. 341.
Nach h.M. sollte darum auch in Angelegenheiten von größerer Bedeutung für das
Kind der Elternteil, bei dem das Kind lebte, das alleinige Entscheidungsrecht
haben, die Entscheidung also nicht von beiden Eltern gemeinsam getroffen werden
müssen.
Cian/Trabucchi, Commentario breve al codice civile, B. Aufl. 2007, S. 408.“
Der Senat kommt zu dem Ergebnis, dass sich an der nach der Trennung der
Kindeseltern im Jahr 2005 eingetretenen Sorgerechtslage – nämlich dem alleinigen
Sorgerecht der Kindesmutter – durch das Inkrafttreten des Gesetzes vom
08.02.2006 bis zum Zeitpunkt des Verbringens des Kindes nach Deutschland
nichts geändert hatte. Das Gesetz Nr. 54 vom 08.02.2006 ermöglicht es zwar,
auch in Fällen nicht verheirateter Eltern eine abweichende Sorgerechtsregelung zu
treffen und das gemeinsame Sorgerecht anzuordnen. Solange dies jedoch nicht
erfolgt, gilt der mit der Trennung der Kindeseltern im Jahr 2005 eingetretene
Sorgerechtsstatus fort.
Hierzu führt das Gutachten vom 10. 12. 2008 aus:
„Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 54 v. 08.02.2006 bildete Art. 317 bis Cciv.
die einzige gesetzliche Grundlage für die Frage, wem die elterliche Sorge für ein
nichteheliches Kind zustand. Nach Art. 4 Abs. 2 des zitierten Gesetzes ist dieses
jedoch anwendbar „auch im Fall der Auflösung, der Beendigung der zivilrechtlichen
Wirkungen oder der Nichtigkeit der Ehe sowie auf die Verfahren bezüglich der
Kinder nicht verheirateter Eltern." Geändert wurde durch dieses Gesetz aber nur
Art. 155 Cciv., nicht auch Art. 317 bis Cciv. Daraus ergibt sich ein
Spannungsverhältnis.
Während es in Art. 317 bis Abs. 2 S. 3 Cciv. weiterhin heißt, dass dann, wenn die
Eltern nicht zusammenleben, die Ausübung der elterlichen Sorge dem Elternteil
zusteht, bei dem das Kind lebt, bestimmt Art. 155 Abs. 3 Cciv. nunmehr: „Die
elterliche Sorge wird von beiden Eltern ausgeübt. Die Entscheidungen von größerer
Bedeutung für die Kinder bezüglich ihrer Erziehung, Ausbildung und Gesundheit
werden in beiderseitigem Einverständnis getroffen, wobei die Fähigkeiten,
natürlichen Neigungen und Bestrebungen der Kinder zu berücksichtigen sind. Im
Fall von Meinungsverschiedenheiten obliegt die Entscheidung dem Gericht." Wie
dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, ist umstritten. Es geht darum, ob und
inwieweit durch das neuere Gesetz eine damit scheinbar in Widerspruch stehende
frühere Gesetzesregelung stillschweigend aufgehoben worden ist. Der italienische
Kassationshof hat in seiner Entscheidung vom 03.04.2007 (BI. 251 ff., 255 d.A.)
erklärt, Art. 317 bis Cciv. sei durch das Gesetz Nr. 54 nicht aufgehoben worden,
soweit er dem Richter das Recht einräume „zum ausschließlichen Wohl des Kindes
eine (vom Regelfall) abweichende Anordnung zu treffen" (Art. 317 bis Abs. 2 S. 4
Cciv.). Andererseits seien aber „die neuen Prinzipien und Kriterien der elterlichen
Sorge" bei der Auslegung des Art. 317 bis ergänzend zu berücksichtigen. Die
Vorschrift des Codice über die Ausübung des Sorgerechts bei nichtehelicher
Abstammung bekomme aufgrund des Gesetzes Nr. 54 „ein neues Gesicht", weil
sie durch dessen Regelung bereichert werde („si arricchisce").
Was das konkret bedeutet, ist allerdings streitig. Die Frage geht dahin, ob und
welche Regelungen des Art. 317 bis Cciv. infolge der Neuregelung durch das
Gesetz Nr. 54 als - stillschweigend - aufgehoben angesehen werden müssen.
Eine verbreitete Auffassung will von Art. 317 bis Abs. 2 Cciv. nur noch die beiden
ersten Sätze weiterhin gelten lassen („Ist die Anerkennung von beiden Elternteilen
erfolgt, so steht ihnen die Ausübung der elterlichen Sorge gemeinsam zu, wenn
sie zusammen leben. Art. 316 gilt entsprechend"). Die Sätze 3 und 4 seien durch
die Neufassung des Art. 155 Cciv. verdrängt worden.
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Ausführlich mit weiteren Nachweisen De Cristofaro, in: Cian/Trabucchi,
Commentario breve al codice civile, B. Aufl. 2007, S. 410 (zu Art. 317 bis); Fede,
L'affidamento della prole nella crisi coniugale prima e dopo la I. n. 54 del 2006,
Rivista di diritto civile 2007, 649, 664.
Diese Auffassung steht allerdings im Widerspruch zu der zitierten Entscheidung
des Kassationshofs, der jedenfalls Art. 317 bis Abs. 2 S. 4, Halbs. 1 Cciv. („zum
ausschließlichen Wohl des Kindes kann das Gericht eine abweichende Anordnung
treffen") für weiterhin anwendbar erklärt hat.
Lebhaft umstritten ist die im vorliegenden Fall entscheidende Frage nach der
Fortgeltung von Art. 317 bis Abs. 2 S. 3 Cciv. („Leben die Eltern nicht zusammen,
steht die Ausübung der elterlichen Sorge dem Elternteil zu, bei dem das Kind lebt
...“).
In der Literatur wird vielfach die Auffassung vertreten, dass diese Vorschrift durch
die Neufassung des Art. 155 Cciv. verdrängt worden sei. Der Gesetzgeber habe
mit dem Gesetz Nr. 54 die nichtehelichen Kinder den ehelichen Kindern völlig
gleichstellen wollen. Das bedeute auch, dass nichteheliche Kinder ebenso wie
eheliche Kinder unter der elterlichen Sorge beider Eltern stünden, gleichgültig, ob
die Eltern zusammen oder getrennt leben. Hatten die Eltern zunächst zusammen
gelebt, sich dann aber getrennt, so sei die Situation dieselbe, wie wenn
verheiratete Eltern gerichtlich getrennt oder geschieden werden. So wie in diesem
Fall beide Eltern weiterhin sorgeberechtigt bleiben, falls nicht der Richter eine
andere Anordnung trifft, müsse auch bei der Trennung unverheirateter Eltern das
gemeinsame Sorgerecht bestehen bleiben, unbeschadet der Möglichkeit, dass auf
Antrag eines Elternteils der Richter eine andere Entscheidung treffen könne.
Dafür - und für eine Streichung des Art. 317 bis Abs. 2 S. 3 Cciv. - insbesondere De
Cristofaro, in: Cian/Trabucchi, aaO; ders., in: Zaccaria, Commentario breve al
diritto della famiglia, 2008, S. 745 (zu Art. 317 bis); ebenso Auletta, diritto di
famiglia, B. Aufl., S. 278.
Demgegenüber verweist eine Gegenmeinung nicht nur darauf, dass der
Gesetzgeber den Art. 317 bis Cciv. nicht geändert habe (wenngleich bei der
Auslegung dieser Vorschrift die Neufassung des Art. 155 Cciv. zu berücksichtigen
sei), sondern stellt entscheidend darauf ab, dass Art. 155 Abs. 3 Cciv. nur (und
erst) eingreife, wenn es zwischen den Eltern zu Streitigkeiten gekommen sei (Art.
155 Abs. 3 S. 3 Cciv.: „Im Fall von Meinungsverschiedenheiten obliegt die
Entscheidung dem Gericht"), insbesondere zu einem Streit darüber, bei welchem
Elternteil das Kind leben solle. Vor einem solchen Streit sei weiterhin Art. 317 bis
Cciv. anwendbar.
Villani, La nuova disciplina sull' affidamento condiviso dei figli dei genitori separati,
Studium iuris 2006, S. 669; Dogliatti, Filiazione naturale e affidamento condiviso,
Famiglia e diritto 2006, 405; ders., in: Cicu e Messineo/Schlesinger, Trattato di
diritto civile e commerciale, S. 251.
Bestehe zwischen den Eltern kein Streit, sollten sie die Ausübung der elterlichen
Sorge einverständlich (und auch abweichend von Art. 155 Cciv.) regeln können.
Graziosi, diritto di famiglia e delle persone, 2006, 1892.
Die Vertreter dieser Meinung können sich auf die Übergangsvorschrift in Art. 4
Abs. 2 des Gesetzes Nr. 54 berufen, wonach die neuen Vorschriften Anwendung
finden auf „procedimenti relativi agli figli di genitori non coniugati", also auf
Verfahren bezüglich Kinder nicht verheirateter Eltern.“
Nach umfassender Würdigung der Ausführungen des Gutachters beurteilt der
Senat die Rechtsfrage in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht Catania
dahingehend, dass mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 54 vom 8. 2. 2006 der
Sorgerechtsstatus von Eltern, die nicht miteinander verheiratet waren, nicht
automatisch verändert wurde. Dass der italienische Gesetzgeber Art. 317bis CC
nicht geändert und in der Übergangsvorschrift des Gesetzes Nr. 54 ausgeführt
hat, dass die Neuregelung des Art. 155 CC auf Verfahren bezüglich Kinder nicht
verheirateter Eltern Anwendung finde, lässt nur den Schluss zu, dass der
Sorgerechtsstatus aus Art. 317bis CC fortgilt, solange nicht in einem Verfahren
eine – mit Blick auf Art. 155 CC – abweichende Sorgerechtsregelung erfolgt. Die
Aufrechterhaltung der Regelung in Art. 317bis CC schließt eine automatische – d.h.
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Aufrechterhaltung der Regelung in Art. 317bis CC schließt eine automatische – d.h.
kraft Gesetzes – eintretende Veränderung der Sorgerechtslage bei nicht
miteinander verheirateten Eltern aus.
Damit ist die Sorgerechtslage für das Rückführungsverfahren hinreichend geklärt.
Die Beurteilung der Widerrechtlichkeit des Verbringens kann nicht im
Rückführungsverfahren zurückgestellt werden, bis das vom Beschwerdeführer in
Italien geführte Revisionsverfahren abgeschlossen ist. Zum einen ergibt sich aus
Art. 14 und Art. 15 HKÜ, dass der beschleunigte Abschluss des
Rückführungsverfahrens Vorrang hat vor letztgültiger Klärung streitiger
Rechtsfragen des ausländischen Rechts. Zum anderen würde im Hinblick darauf,
dass hier zwei Gerichte des Staates, aus dem das Kind verbracht wurde, das
Verbringen des Kindes als von der Sorgerechtsstellung der Kindesmutter gedeckt
und damit als nicht rechtswidrig im Sinne von Art. 3 HKÜ beurteilt haben, ein die
Rückführung rechtfertigendes widerrechtliches Verbringen im Sinne von Art. 3 HKÜ
selbst dann nicht mehr angenommen werden können, wenn das italienische
Revisionsgericht dereinst zu der Entscheidung gelangen sollte, dass hier entgegen
des ausdrücklichen gesetzlichen Wortlauts im Wege einer Analogie die
Sorgerechtslage anders zu beurteilen sei. Dem HKÜ liegt die Vorstellung
zugrunde, dass sich der das Kind verbringende Elternteil über das Sorgerecht bzw.
Mitsorgerecht des anderen Elternteils, eines Dritten oder einer Behörde
hinwegsetzt. Dies beinhaltet, dass sich eine Widerrechtlichkeit auf der Grundlage
der Erkenntnismöglichkeiten zum Zeitpunkt des Verbringens ergeben muss. Wenn
sich die Widerrechtlichkeit zum Zeitpunkt des Verbringens nicht aus den
gesetzlichen Regelungen – erforderlichenfalls unter Zuhilfenahme der hierzu bis
dahin ergangenen klärenden obergerichtlichen Rechtsprechung - ergibt, kann eine
erst Jahre später erfolgende abweichende Beurteilung der Rechtsfrage keine
Rückwirkung dahingehend entfalten, dass im Nachhinein die Voraussetzungen des
Art. 3 HKÜ eintreten und das Verbringen des Kindes als widerrechtlich zu
beurteilen wäre.
Damit ist der Beschwerde mit der Kostenfolge des Art. 26 Abs. 3 i.V.m. Art. 42
HKÜ, § 43 IntFamRVG, 13a Abs. 1 Satz 2 FGG der Erfolg zu versagen.
Die Festsetzung des Beschwerdewertes folgt aus §§ 131 Abs. 2, 30 KostO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.