Urteil des OLG Frankfurt vom 11.05.2000

OLG Frankfurt: fluchtgefahr, abschiebung, vollstreckung, ausnahme, strafvollzug, form, begriff, urlaub, anstaltsleitung, isolierung

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 393/00
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 11 Abs 2 StVollzG
(Strafvollzug: Begründungsanforderungen an die
Versagung von Vollzugslockerungen bei Anhängigkeit
eines Ausweisungsverfahrens)
Tenor
1. Der angefochtene Beschluß, mit Ausnahme der Festsetzung des
Gegenstandswertes, und der Bescheid der Vollzugsbehörde vom 10. Dezember
1999 werden aufgehoben.
2. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der etwaigen notwendigen Auslagen
des Antragstellers fallen der Staatskasse zur Last.
4. Der Geschäftswert wird auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf 1.000 DM
festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren wegen Mordes.
Die Hälfte der Strafe wird am 18.8.2000, 2/3 werden am 18.6.2001 verbüßt sein.
Das Strafende ist auf den 18.2.2003 notiert. Seinen Antrag auf Gewährung und
Urlaub und Ausgang hat die Anstaltsleitung mit Bescheid vom 10. Dezember 1999
abgelehnt. Den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die
Strafvollstreckungskammer zurückgewiesen. Sie hat die Begründung der
Entscheidung des Anstaltsleiters wörtlich wiedergegeben und im Anschluß daran
ausgeführt, der zugrundegelegte Sachverhalt sei vollständig und zutreffend
ermittelt worden, die Behörden hätten den richtigen Begriff des
Versagungsgrundes der Flucht und Mißbrauchsgefahr angewendet und dabei die
Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten, weil die
tragende Begründung des angefochtenen Bescheids, der im Inland über soziale
Bindungen verfügende Antragsteller werde bei Gewährung von
Vollzugslockerungen versuchen unterzutauchen, um der drohenden Abschiebung,
mit der er nicht einverstanden sei, zu entgehen, nachvollziehbar sei. Die hiergegen
form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde des Antragstellers, die auch
i.S.d. § 116 StVollzG zulässig ist, um die Nachprüfung der angefochtenen
Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen,
erweist sich mit der Sachrüge als begründet. Der angefochtene Bescheid
entspricht nicht den Anforderungen, die an die Begründung einer Ablehnung von
Vollzugslockerungen zu stehen sind.
Die Begründungserfordernisse richten sich nach den Umständen des jeweiligen
Einzelfalls (Senat, NStZ 1983, 93; Beschl. v. 17.9.1999 - 3 Ws 714-716/99
{StVollz}). Hierbei vermag das bloße Abstellen auf die Anhängigkeit eines
Ausweisungsverfahrens und die anschließend drohende Abschiebung sowie die
Höhe des noch zu voll- streckenden Strafrestes weder für sich allein noch
zusammengenommen die Flucht- oder Mißbrauchsgefahr zu begründen (Senat,
NStZ 1983, 93; ZfStrVO 1983, 249, 251; Beschluß v. 27.10.1999 - 3 Ws 871-
872/99 (StVollz); st. Rspr.) . Einen allgemeinen Erfahrungssatz, daß in solchen
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872/99 (StVollz); st. Rspr.) . Einen allgemeinen Erfahrungssatz, daß in solchen
Fällen bei Ausländern generell Fluchtgefahr besteht, gibt es nämlich nicht (Senat
a.a.0.). Vielmehr muß von der Anstalt eine konkrete Fluchtprognose getroffen
werden. Diese muß sich ausreichend mit den konkreten Umständen des
Einzelfalls, insbesondere den Lebensumständen des Antragstellers und seiner
Angehörigen auseinandersetzen (Senat a.a.O.; OLG Celle, ZfStrVO 1984, 251,
252). Hieran fehlt es im angefochtenen Bescheid und in den ergänzenden
Ausführungen der Antragsgegnerin vor der Strafvollstreckungskammer. Im Inland
bestehende Bindungen eines Gefangenen zu seinen Familienangehörigen, die ihn
regelmäßig in der Anstalt besuchen, stellen an sich ein Gegenindiz für das
Bestehen von Fluchtgefahr dar. Daß sie im Fall des Verurteilten dem gegen das
Bestehen der Fluchtgefahr gerade stützen sollen, ist ohne nähere Darlegung des
Vorlebens des Verurteilten, seiner Entwicklung bis zur Tat, der Art und Weise und
der Motive der Tatbegehung, seiner Lebensumstände und derjenigen, in denen die
Angehörigen des Verurteilten leben, sowie der Bedingungen, unter denen der
Antragsteller seine Urlaube und Ausgänge verbringen will, nicht nachvollziehbar.
Von daher entbehrt auch die Annahme der Anstalt, das als "vorbildlich"
bezeichnete Vollzugsverhalten des Verurteilten könne bestehende Fluchtanreize
nicht kompensieren, einer ausreichenden tatsächlichen Grundlage, zumal die
Entwicklung, die der Verurteilte im Vollzug konkret genommen hat, nicht
dargestellt wird. Ohne die erforderliche Konkretisierung läßt die Entscheidung der
Vollzugsbehörde aber nicht erkennen, daß ihr eine pflichtgemäße Abwägung der
im Einzelfall für und gegen die Anordnung sprechenden Umstände zugrunde liegt
(vgl. Senat, Beschl. v. 25.6.1996 - 3 Ws 348/96 {StVollz); Calliess/Müller-Dietz,
StVollzG, 6. Aufl., § 11 Rn. 1). Auch die weitere Begründung der Anstalt,
Lockerungsmaßnahmen seien behandlerisch nicht angezeigt, da sie nur der
Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland dienen könnten,
was beim Verurteilten, der abgeschoben werden solle, nicht angezeigt sei, erweist
sich als ermessensfehlerhaft. Urlaube und Ausgänge dienen u.a. auch und gerade
dazu, den Kontakt mit den Angehörigen des Verurteilten aufrechtzuerhalten und
so die Gefahr einer Isolierung und Lebensuntüchtigkeit des Gefangenen zu
mindern, um auf diese Weise den Behandlungs- und Resozialisierungszweck zu
fördern. Diesen ihren Zweck erfüllen Lockerungsmaßnahmen aber auch bei
Verurteilten, die nach der Vollstreckung oder nach Absehen von der weiteren
Vollstreckung (§ 465 a StPO) in ihr Heimatland abgeschoben werden sollen. Diesen
maßgeblichen Gesichtspunkt hat die Vollzugsbehörde ersichtlich in ihren
Ermessensentscheidungen nicht eingestellt. Nach alledem waren der
angefochtene Beschluß mit Ausnahme der Festsetzung des Gegenstandswerts
und die angefochtene Verfügung der Vollzugsbehörde aufzuheben. Ferner war die
Vollzugsbehörde zu verpflichten, den Antragsteller unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden (§§ 115 Abs. 4 S. 2, 119 Abs. 4
S. 2 StVollzG).
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des
Antragstellers fallen der Staatskasse zur Last (§ 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. der
entsprechenden Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 2 StPO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.