Urteil des OLG Frankfurt vom 26.05.2003

OLG Frankfurt: vollstreckungsverfahren, pflichtverteidiger, unterbringung, sicherungsverwahrung, aussetzung, menschenrechte, immaterialgüterrecht, zivilprozessrecht, quelle, auflage

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 618/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 140 Abs 2 StPO, § 67e StGB
(Umfang der Pflichtverteidigerbestellung im
Vollstreckungsverfahren)
Tenor
Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
Dem Verurteilten wird Rechtsanwalt RA1 als Pflichtverteidiger in dem laufenden
Verfahren über die Aussetzung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung gemäß § 67 e Abs. 2 StGB beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Verurteilte ist am 14.2.1996 durch das Landgericht Limburg/Lahn u. a. wegen
… zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden.
Gleichzeitig wurde gegen den als minderbegabt angesehenen Verurteilten
Sicherungsverwahrung angeordnet. Nach vollständiger Verbüßung der Strafe wird
seit dem 29.7.1999 die Sicherungsverwahrung vollstreckt. Der Verteidiger des
Verurteilten in der Hauptverhandlung blieb auch im Vollstreckungsverfahren weiter
für ihn tätig. Durch Beschlüsse vom 21.8.1998 und 24.5.2000 wurde er jeweils als
Pflichtverteidiger beigeordnet. Sein Pflichtverteidigerhonorar rechnete er
abschnittsweise ab. Unter dem 9.1.2003 vermerkte der Vorsitzende der
Strafvollstreckungskammer, daß er den sicheren Eindruck gehabt habe, daß der
Verurteilte nicht über die nötigen intellektuellen Fähigkeiten verfüge,
Einwendungen, Vorbehalte, Fragen und Überlegungen richtig aufzunehmen und
auf sie zu reagieren. Zur Zeit ist bei der Strafvollstreckungskammer ein Verfahren
zur Überprüfung der Aussetzung der Unterbringung gemäß § 67 e Abs. 2 StGB
anhängig. Die JVA Stadt1 hat den Verurteilten in ihrer Stellungnahme als „etwas
verwirrt“ bezeichnet. Mit Schriftsatz vorm 24.4.2003 hat der Verteidiger erneut
seine Beiordnung beantragt. Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat
die Beiordnung durch Beschluß vom 28.4.2003 abgelehnt, weil die Sach- und
Rechtslage derzeit nicht schwierig sei. Dagegen richtet sich die Beschwerde des
Untergebrachten.
II.
Die einfache Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß. § 304 Abs. 1 StPO
statthaft sowie formgerecht eingelegt worden, und hat auch in der Sache Erfolg.
Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat die Beiordnung des
Verteidigers zu Unrecht abgelehnt.
Eine erneute Beiordnung war nicht bereits deshalb entbehrlich, weil die frühere
Beiordnung als Pflichtverteidiger fortgalt. Der Senat folgt insoweit der wohl
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Beiordnung als Pflichtverteidiger fortgalt. Der Senat folgt insoweit der wohl
überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, daß die Bestellung
eines Pflicht-verteidigers im Vollstreckungsverfahren nur für den jeweiligen
Verfahrensabschnitt und nicht für das gesamte Vollstreckungsverfahren gilt (vgl.
Senatsbeschluß vom 13.10.1999 — 3 Ws 919/99 OLG Schleswig, SchlHA 1989,
105; KG NStZ-RR 2002, 63; Müller NStZ-RR 2003 129; a A. OLG Stuttgart NJW
2000, 3367; OLG Hamm, Beschluß vorn 10.5.2002 — 2 Ws 99/02; Meyer-Goßner,
StPO, 46. Auflage 2003, 140, Rdz. 33 a).
Denn die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann im Laufe des Verfahrens
erheblich variieren. In einem Abschnitt kann die Einholung eines Gutachtens oder
die Entscheidung schwieriger Sach- oder Rechtsfragen erforderlich sein, während
im nachfolgenden Abschnitt auf der Grundlage der vorherigen Prüfung keine
Schwierigkeiten mehr bestehen. Auf Grund dessen ist in jedem Abschnitt eine
erneute Überprüfung, ob die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist,
erforderlich.
Des weiteren werden durch die Beiordnung für den jeweiligen Verfahrensabschnitt
kostenrechtliche Schwierigkeiten und Widersprüche bei der Abrechnung der
Pflichtverteidigergebühren vermieden. Bei Annahme einer Wirksamkeit der
Beiordnung für das gesamte Vollstreckungsverfahren wäre unklar, warum der
Verteidiger für jeden Abschnitt Gebühren abrechnen können soll, obwohl der
Eintritt einer Fälligkeitsvoraussetzung für die Vergütung des Rechtsanwalts gemäß
16 S. 1 oder S. 2 BRAGO regelmäßig nicht ersichtlich ist. Widersprüchlich
erschiene auch die Vorstellung, es handele sich um ein einheitliches
Vollstreckungsverfahren, obwohl die jeweiligen Entscheidungen gemäß den 67 d
Abs. 2, 67 e StGB mit der Sofortigen Beschwerde anfechtbar sind und jedes Mal
einen zweiten Rechtszug auslösen können (vgl. KG a. a. O.).
Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart (a. a. O.) erfordert das
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12.5.1992 (StV
1993, 88) keine anderweitige Beurteilung. Denn die danach gebotene Bestellung
eines Rechtsbeistands in Verfahren, in denen es um die Aussetzung der
Unterbringung geisteskranker Personen geht, kann - soweit nach der Entscheidung
des Europäischen. Gerichtshofs für Menschenrechte geboten - auch
abschnittsweise erfolgen: Im übrigen betrifft die Entscheidung des
Oberlandesgerichts Stuttgart einen Sonderfall, weil dort die Beiordnung — anders
als hier „für das Vollstreckungsverfahren“ erfolgte und deshalb ein besonderer
Anhaltspunkt dafür bestand, dass sie nicht nur einen Verfahrensabschnitt
betreffen sollte.
Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für das Vollstreckungsverfahren ist hier in
entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO geboten, weil ersichtlich ist,
daß der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen. Aufgrund
der bereits von der Strafkammer in der Hauptverhandlung festgestellten
Minderbegabung, der aus dem Vermerk des Vorsitzenden der
Strafvollstreckungskammer vom 9.1.2001 ersichtlichen ausgeprägten Unfähigkeit,
dem Verlauf der Anhörung zu folgen und der von der JVA berichteten Verwirrtheit
ist davon auszugehen, daß sich der Verurteilte nicht selbst vertreten kann. In
derartigen Fällen ist eine Beiordnung in analoger Anwendung von § 140 Abs. 2
StPO nach allgemeiner Auffassung zulässig und geboten (vgl. Meyer-Goßner, a. a.
O., § 140, Rdz. 33). Aufgrund des bestehenden langjährigen
Vertrauensverhältnisses war der frühere Pflichtverteidiger auch diesmal
beizuordnen. Dabei konnte der Senat, da bei der gegebenen Sachlage eine
andere Ermessensentscheidung nicht in Betracht kommt, in der Sache selbst
entscheiden.
Die Kostenentscheidung folgt aus den § 467 Abs. 1,473 Abs. 3 StPO in analoger
Anwendung.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.