Urteil des OLG Frankfurt vom 23.02.2010

OLG Frankfurt: beweiskraft, strafbefehl, rechtsmittelbelehrung, einspruch, geldstrafe, angeklagter, initiative, beleidigung, belastung, beweiswert

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 141/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 257b StPO, § 257c StPO, §
273 Abs 1 S 2 StPO, § 273 Abs
1a S 1 StPO, § 273 Abs 1a S 3
StPO
Beweiskraft des fehlenden Negativattests
Leitsatz
1. Enthält das Hauptverhandlungsprotokoll weder eine Verständigung nach § 257 c
StPO, noch ein sogenanntes Negativattest nach § 273 I a 3 StPO, sondern lediglich den
Vermerk, "die Sache und Rechtslage wurde erörtert", ist die Frage ob eine
Verständigung oder lediglich eine Erörterung stattgefunden hat, im Freibeweisverfahren
aufzuklären.
2. Ein (noch in der Hauptverhandlung) erklärter Rechtsmittelverzicht ist gemäß § 302
Satz 2 StPO nur unwirksam, wenn die Urteilsabsprache nachgewiesen ist.
Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 I StPO) verworfen.
Gründe
Durch Strafbefehl vom 29.12. 2008 wurden gegen den Angeklagten wegen
Beleidigung eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 25 € verhängt. Durch
weiteren Strafbefehl vom 15.06.2009 wurde gegen den Angeklagten wegen
Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz einer Geldstrafe von 25
Tagessätzen zu je 25 € verhängt. Nach rechtzeitigem Einspruch und Verbindung
der beiden Verfahren fand vor dem Amtsgericht am 10.9. 2009 die
Hauptverhandlung statt. Ausweislich des Protokolls wurde zu Beginn der
Hauptverhandlung gemäß § 243 IV StPO mitgeteilt, dass Erörterungen gemäß §§
202a, 212 StPO nicht stattgefunden haben. Nach Vernehmung zweier Zeuginnen
vermerkt das Protokoll, dass die Sach- und Rechtslage erörtert worden sei.
Ausweislich des Protokolls erklärten der Angeklagte und der Verteidiger danach,
dass „der Einspruch gegen den Strafbefehl vom 29.12.2008 und 05.06.2009 auf
die Tagessatzhöhe beschränkt“ werde, und die Vertreterin der Anklagebehörde
der Einspruchsbeschränkung zustimme.
Das Protokoll enthält keinen Hinweis auf eine Verständigung nach § 257 c StPO,
aber auch nicht das Negativattest gemäß § 273 I a S. 3 StPO (das entsprechende
Kästchen im Formularvordruck ist nicht angekreuzt).
Der Angeklagte wurde in der Hauptverhandlung vom 10.09.2009 zu einer
Gesamtgeldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt. Nach
Rechtsmittelbelehrung erklärten laut Protokoll der Angeklagte nach Rücksprache
mit seinem Verteidiger und die Vertreterin der Staatsanwaltschaft
Rechtsmittelverzicht, der vorgelesen und genehmigt wurde.
Mit Schreiben vom 17.09.2009, eingegangen am selben Tage, legte der
Angeklagte durch seinen Verteidiger Berufung ein. Er macht geltend, es habe eine
Verständigung stattgefunden, so dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam sei.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die Berufung des
Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 10.09.2009 als unzulässig
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Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 10.09.2009 als unzulässig
verworfen, weil der Angeklagte wirksam auf Rechtsmittel verzichtet habe.
Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache
keinen Erfolg.
Im Ergebnis zu Recht ist die Kammer davon ausgegangen, dass die eingelegte
Berufung auf Grund des erklärten Rechtsmittelverzichts unzulässig ist. Zwar ist
nach § 302 S. 2 StPO ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen, ein dennoch
erklärter mithin unwirksam, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen
ist. Hiervon kann aber vorliegend nicht ausgegangen werden.
Das Hauptverhandlungsprotokoll enthält keine Verständigung, obwohl gem. § 273
Ia StPO der wesentliche Ablauf, der Inhalt und das Ergebnis einer Verständigung zu
protokollieren sind. Da es sich um eine in § 273 StPO erwähnte zu
protokollierende Förmlichkeit handelt, entfaltet das Protokoll negative Beweiskraft
(§ 274 StPO, vgl. auch BGH, NStZ 2007, 355). Danach hätte eine Urteilsabsprache
nicht stattgefunden.
Nach § 273 Ia S. 3 StPO muss jedoch ins Protokoll ebenfalls aufgenommen
werden, dass eine Verständigung stattgefunden hat (sog. „Negativattest“).
Auch insoweit handelt es sich um eine in § 273 StPO ausdrücklich vorgeschriebene
Förmlichkeit, die nach § 274 positive aber auch Beweiskraft entfaltet.
Danach hätte eine Urteilsabsprache stattgefunden. Die Erklärung eingangs des
Protokolls, dass Erörterungen gem. §§ 202a, 212 StPO nicht stattgefunden hätten,
kann sich hingegen nur auf die die Zeit zur Hauptverhandlung beziehen.
Mithin enthält das Protokoll auf Grund seiner jeweils negativen Beweiskraft sich
widersprechende Feststellungen zur Frage, ob in der Hauptverhandlung eine
Verständigung stattgefunden hat, womit seine Beweiskraft insoweit entfällt (vgl.
BGHSt 16, 306, 308; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 274 Rn 16). Es kann ferner
auf Grund des im Protokoll enthaltenen Vermerks, es sei die Sach- und Rechtslage
erörtert worden, nicht davon ausgegangen werden, dass eine Erörterung i.S.
des § 257 b StPO stattgefunden hat. Denn auch insoweit entfaltet das Protokoll
keine Beweiskraft, weil entgegen § 273 I 2 StPO wesentlicher Ablauf und Inhalt der
Erörterung nicht verzeichnet sind, so dass das Protokoll insoweit lückenhaft ist.
Von daher war die Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung erfolgt
ist, im Freibeweisverfahren aufzuklären (vgl. BGHSt 17, 220, 222; Meyer-Goßner §
274 Rn 18 mwN). Dieses führt zum Ergebnis, dass das Vorliegen einer
Urteilabsprache nicht bewiesen ist.
Zwar hat der Verteidiger ausgeführt, auf Initiative der Staatsanwaltschaft hätten
sich diese, Angeklagter und Gericht darauf geeinigt, dass die Einsprüche auf die
Tagessatzhöhe beschränkt werden sollten, dann aber keine höhere Belastung
durch die Gesamtgeldstrafe als 400 € erfolgen und anschließend allseits
Rechtsmittelverzicht erklärt werden sollte. Darin läge zwar eine – allerdings
zumindest wegen des Einschlusses des Rechtsmittelverzichts unzulässige –
Verständigung i.S. des § 257c StPO. Richter und die Sitzungsvertreterin der
Staatsanwaltschaft haben diesen Vortrag indes nicht bestätigt. Nach der
dienstlichen Erklärung des erkennenden Richters erfolgte nach Durchführung der
Beweisaufnahme seinerseits eine „realistische Einschätzung der Sach- Rechtlage“,
auf die hin „durchaus die teilweise Einspruchsrücknahme erfolgt sein könne“.
Außerdem seien die „Regeln der Gesamtstrafenbildung“ und die sich aus den
Einkommensverhältnissen ergebende voraussichtliche Tagessatzhöhe erläutert
worden. Eine Verständigung hierüber habe nicht stattgefunden. Letzteres
entsprach auch der Erinnerung der Staatsanwältin. Nach diesen dienstlichen
Erklärungen ist lediglich eine Erörterung i.S. des § 257b StPO erfolgt, die auch eine
richterliche Einschätzung des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme und die
zu erwartende Strafe umfassen kann, eine Verständigung i.S. des § 257 c StPO
aber gerade nicht enthält (vgl. BT-Dr. 16/1230 S. 12, Meyer-Goßner, § 257b Rn 1).
Der Widerspruch zwischen den Bekundungen der Verfahrensbeteiligten ist nicht
auflösbar, der Äußerung des Verteidigers kommt kein höherer Beweiswert als
derjenigen des erkennenden Richters zu, die zudem durch die Äußerung der
Staatsanwältin gestützt wird. Mit Blick auf die inzwischen verstrichene Zeit und die
zur Unterscheidung zwischen dem Vorliegen einer bloßen Erörterung und einer
Verständigung erforderlichen juristischen Vorbildung lässt die Einholung einer
eidesstattlichen Versicherung des von der Verteidigung benannten Zuschauers
verwertbare weitere Erkenntnisse nicht erwarten.
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Der fehlende Nachweis der Urteilsabsprache führt, da sonstige Gründe für die
Unwirksamkeit des durch das Protokoll bewiesenen und von dem Angeklagten
auch nicht in Abrede gestellten Rechtsmittelverzichts weder vorgetragen noch
ersichtlich sind, dazu, dass von der Wirksamkeit dieser Prozesserklärung
auszugehen ist. Gesetzgeberischer Grund für die Regelung § 302 S. 2 StPO war, zu
verhindern, dass die Rechtsmittelberechtigten nach einer Verständigung
auf Grund einer tatsächlichen Erwartungshaltung der übrigen Beteiligten
Rechtsmittelverzicht erklären (BT-Dr. 16/13095, S. 10). Die Regelung soll also
ebenso wie die früher angenommene Unwirksamkeit eines Verzichts, der nach
einer Urteilsabsprache und ohne qualifizierte Rechtsmittelbelehrung erfolgte (vgl.
BGH GS St 52, 41), der Gefahr einer (unzulässigen) Willensbeeinflussung des
Rechtsmittelberechtigten durch den Abschluss einer Verständigung
entgegenwirken. Diese Beeinflussung muss aber wie sonstige (unzulässige)
Einwirkungen auf die Willensbildung des Rechtsmittelberechtigten etwa Irreführung
oder gar Drohung sein, um die Unwirksamkeit des Verzichts zu bewirken;
nicht behebbare Zweifel – wie hier – gehen zu Lasten des Rechtsmittelführers (vgl.
OLG Köln, NStZ-RR 2006, 83; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 307; OLG München,
StV 2000, 188; Meyer-Goßner, § 302 Rn 22; Paul, in: KK-StPO, 6. Aufl., § 302 Rn
13).
Der gerügte Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist
jedenfalls geheilt. Der angefochtene Beschluss gibt die dienstlichen Erklärungen
des Richters und der Staatsanwältin korrekt wieder, so dass der Beschwerdeführer
in der Beschwerdeinstanz Gelegenheit hatte, hierzu Stellung zu nehmen. Diese
hat er auch genutzt.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.