Urteil des OLG Frankfurt vom 15.07.2010

OLG Frankfurt: gefahr im verzug, anspruch auf rechtliches gehör, jugendamt, wohl des kindes, anhörung, voreingenommenheit, herausgabe, obhut, fremdunterbringung, erlass

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 WF 178/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 42 SGB 8, § 1632 Abs 1
BGB, § 38 FamFG, § 42
FamFG, § 162 Abs 1 FamFG
Ablehnung eines Familienrichters durch das Jugendamt
Orientierungssatz
Zur Besorgnis der Befangenheit eines Familienrichters, der vor Anordnung der
Herausgabe eines Säuglings vom Jugendamt an die Mutter, das Jugendamt nicht anhört
und seine Entscheidung nicht begründet
Anmerkung
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird abgeändert:
Das Ablehnungsgesuch des Antragstellers gegen den Richter am Amtsgericht …
wird für begründet erklärt.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden
nicht erstattet.
Gründe
Die am … geborene Antragstellerin hat drei Kinder, nämlich X, geb. am …, Y, geb.
am … und Z, geb. am ...
X und Y sind fremduntergebracht, und zwar zurzeit jeweils mit Einverständnis der
Antragstellerin, nachdem sie – nach den Darstellungen des Jugendamtes in dem
Verfahren des Amtsgerichts – Familiengericht – Frankfurt (Az.: 468 F 14060/10)
vom 29.04. und 12.05.2010 – erhebliche Auffälligkeiten gezeigt hatten (Bl. 35 – 47
d.A.). In dem genannten familiengerichtlichen Verfahren, das Y betrifft, hat am
20.05.2010 vor dem abgelehnten Richter ein Anhörungstermin stattgefunden, in
dem man sich auf die Fortdauer der am 11.05.2010 erfolgten Fremdunterbringung
und auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens über die
Erziehungseignung der Mutter geeinigt hatte.
Nach der Geburt von Z am …. wollte die Antragstellerin mit dem Kind am ….2010
das Krankenhaus verlassen und sich zu ihrer Mutter begeben. Das Jugendamt war
damit nicht einverstanden und nahm das Kind in Obhut. Daraufhin hat die
Beschwerdeführerin beim Amtsgericht noch am Abend desselben Tages den
Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Herausgabe des Säuglings beantragt. Am
15.06.2010 hat der abgelehnte Familienrichter die verfahrensgegenständliche
Herausgabeanordnung erlassen und außerdem Anhörungstermin für den
30.06.2010 bestimmt. Das Jugendamt, das von der streitigen Entscheidung erst
mit Zustellung des Beschlusses durch den Gerichtsvollzieher erfahren hat, hat mit
Schriftsatz vom 16.06.2010 gleichzeitig Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt und
einen Befangenheitsantrag gestellt.
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Mit Beschluss vom 18.06.2010 hat das Amtsgericht durch die Vertreterin des
abgelehnten Richters die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung bis zum
30.06.2010 ausgesetzt.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht den Befangenheitsantrag
zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 30.06.2010 hat es der Beschwerde des
Jugendamtes nicht abgeholfen.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft (§§ 6 Abs.2 FamFG) und form- und
fristgerecht eingelegt (§§ 6 Abs.2 FamFG, 567, 569 ZPO). Für die Entscheidung ist
die originäre Einzelrichterin zuständig (§§ 6 Abs.2 FamFG, 568 ZPO)
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Bei zusammenfassender Würdigung
liegen im vorliegenden Fall Umstände vor, die i.S.d. §§ 6 Abs.1 FamFG, 42 Abs. 2
ZPO geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten
Richters zu rechtfertigen. Auch bei vernünftiger Betrachtungsweise handelt es sich
hier, vom Standpunkt des Jugendamtes aus, um objektive Gründe, welche seine
Befürchtung wecken können, der Richter stehe der Sache nicht
unvoreingenommen und damit unparteiisch gegenüber (vgl. Zoeller, ZPO, 25.Aufl,
§ 42 Rn. 9).
Der abgelehnte Richter hat verfahrensfehlerhaft gehandelt und damit das
Jugendamt zu der Annahme veranlasst, dass er diesem gegenüber im
vorliegenden Verfahren voreingenommen ist. Er hat dessen verfassungsrechtlich
geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und seine – weitreichende –
Entscheidung nicht genügend gemäß § 38 FamFG begründet. Insbesondere lassen
die Beschlussgründe nicht erkennen, warum Gefahr im Verzug gewesen sein soll
und warum die ihm aus dem Parallelverfahren bekannten Bedenken des
Jugendamts bezüglich der Erziehungsfähigkeit der Mutter keine Rolle spielen
sollten. Dem Beschluss vom 15.06.2010 lässt sich auch nicht entnehmen, ob die
besondere Rolle des Jugendamtes, das zum Schutz des Kindeswohls verpflichtet
ist, berücksichtigt wurde.
Zwar berechtigen rechtsfehlerhafte Entscheidungen und Verfahrensverstöße
grundsätzlich nicht zur Ablehnung eines Richters. Hinzu kommen muss vielmehr,
dass Gründe hervortreten, die dafür sprechen, dass die Fehlerhaftigkeit auf
Voreingenommenheit beruht (vgl. BAG v. 29.10.1992 - 5 AZR 377/92, MDR 1993,
383 = NJW 1993, 879; (Zöller, ZPO, 28.Aufl., § 42, Rn.28). Bloße Irrtümer,
Fehlvorstellungen und Nachlässigkeiten, die objektiv willkürliche Entscheidungen
nach sich ziehen können und oftmals deren Ursache sind, führen nicht zwingend
zu dem Schluss, der Richter sei deshalb nicht mehr in der Lage, sich der Sache
unvoreingenommen anzunehmen (OLGR Frankfurt 2002, 250-253).
Im vorliegenden Fall sieht der Senat aber den Verfahrensverstoß als so
schwerwiegend an und der abgelehnte Richter hat sich damit auch so weit von
einem normaler Weise in vergleichbaren Fällen geübten Vorgehen entfernt, dass
das Jugendamt daraus, auch vom Standpunkt eines objektiven Beobachters aus,
den Eindruck gewinnen musste, dass er ihm hier nicht mehr unbefangen
gegenübersteht.
Es trifft zwar zu, dass in Kindschaftssachen auch ohne die grundsätzlich
erforderliche Anhörung des Jugendamtes (§ 162 Abs.1 FamFG) über einen Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden werden kann. Das setzt aber
voraus, dass Gefahr im Verzug vorhanden sein muss (§ 162 Abs.1 S.2 FamFG).
Ebenso kann von dem allgemein geltenden verfassungsrechtlichen Gebot der
Gewährung rechtlichen Gehörs regelmäßig nur in den Fällen unmittelbar drohender
Gefahr Abstand genommen werden.
Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass der abgelehnte Richter die
erforderliche Abwägung vorgenommen hat. Dem Herausgabebeschluss ist
lediglich zu entnehmen, aus welcher gesetzlichen Vorschrift sich der
Herausgabeanspruch ergeben soll. Darüber hinaus wird die
Ausgangsentscheidung – auf der Basis der Argumente des Anordnungsantrages -
damit begründet, dass es keine rechtliche Grundlage für die Inobhutnahme
gegeben habe, weil Mutter und Kind von der Großmutter und von Hebammen
versorgt werden könnten.
Es kann dahingestellt bleiben, ob tatsächlich – entgegen der Auffassung des
Jugendamtes – kein Schaden für das Kind durch die Betreuung der Antragstellerin
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Jugendamtes – kein Schaden für das Kind durch die Betreuung der Antragstellerin
zu befürchten war. Es ist aber nicht ersichtlich, warum eine sofortige Entscheidung
ohne Jugendamtsanhörung unumgänglich war. Dabei ist insbesondere zu
berücksichtigen, dass es in Zeiten moderner Kommunikation möglich ist, das
Jugendamt per Telefon, per e-mail und per Fax zu erreichen und zu sofortiger
Stellungnahme aufzufordern. Dieses ist auch zur Bereithaltung eines Notdienstes
verpflichtet. Die Erforderlichkeit einer solchen Anhörung drängte sich hier
besonders auf, weil der abgelehnte Richter bereits auf Grund des vorangehenden
Kindschaftsverfahrens, das den Bruder Y betrifft, ausreichend über erhebliche
Bedenken unterrichtet war, welche das Jugendamt als Fachbehörde gegen die
Erziehungsgeeignetheit der Kindesmutter hatte. Soweit der Amtsrichter in
Kenntnis dieser Kritikpunkte eine andere Auffassung vertreten sollte, wäre dies
natürlich grundsätzlich im Rahmen eines Ablehnungsgesuches unangreifbar und
es stünde ihm im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit frei, entsprechend
zu entscheiden. Allerdings hätte er diese Auffassung dann wegen der Tragweite
des zu beurteilenden Sachverhalts nachvollziehbar begründen müssen (§ 38 Abs.3
FamFG), um die Beteiligten über die tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu
unterrichten, die seiner Vorgehensweise zu Grunde lagen (Keidel, FamFG, 16.Aufl.,
§ 38, Rn. 64). Hier ist der Ausgangsentscheidung aber weder zu entnehmen,
woraus der Amtsrichter ableitet, dass bei einer vorherigen Anhörung des
Jugendamtes das Kindeswohl gefährdet gewesen wäre, noch ist nachzuvollziehen,
warum er die Bedenken des Jugendamts bezüglich der Erziehungsgeeignetheit der
Kindesmutter, die ihm aus dem Parallelverfahren bekannt waren, als nicht
durchgreifend erachtet. Wenn das Jugendamt als Fachbehörde einen Säugling in
Obhut nimmt, ist es dazu nach der gesetzlichen Regelung des § 42 SGB VIII nur
dann berechtigt, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes dies
erfordert. Es ist selbstverständlich in einer solchen existentiellen Situation zu einer
äußerst sorgfältigen Abwägung aller Kriterien des Kindeswohls verpflichtet. Wenn
man nun trotz dieser ausgedehnten Amtspflichten des Jugendamts als Gericht bei
einer Entscheidung quasi unterstellen will, dass das Jugendamt (grob) gegen diese
Pflichten verstoßen hat, so versteht es sich von selbst, dass man es grundsätzlich
zuvor anhören muss, bevor man sich eine abschließende Meinung bildet und diese
zum Gegenstand einer weit reichenden gerichtlichen Entscheidung macht. Will
man aber – trotz dieser Besonderheiten – kein rechtliches Gehör gewähren, so
muss für alle Beteiligten aus den Gründen nachvollziehbar sein, warum von
diesem verfassungsrechtlichen Gebot im vorliegenden Einzelfall eine Ausnahme zu
machen ist.
Die dienstliche Erklärung vom 17.6.2010 (Bl. 95 d.A.) bestätigt - aus der Sicht des
Jugendamtes - noch die Voreingenommenheit des abgelehnten Richters. Er
beanstandet dort angebliche Versäumnisse des Jugendamtes und sieht die
Inobhutnahme trotz des Widerspruchs der Kindesmutter als „äußerst bedenklich“
an. Der Richter setzt sich bei seiner Kritik nicht damit auseinander, inwieweit für
das Jugendamt überhaupt die Möglichkeit bestand, den von der Mutter geäußerten
Wünschen kurzfristig nachzukommen. Es drängt sich ohne weiteres auf, dass nicht
immer innerhalb kürzester Zeit Plätze in Mutter-Kind-Heimen in Stadt1 und
nächster Umgebung zur Verfügung stehen. Nicht nachvollziehbar ist die Rüge der
Inobhutnahme gegen den Willen der Antragstellerin. Es ist gerade Inhalt der
Bestimmung des § 42 Abs.1 SGB VIII, dass eine Regelung für den Fall getroffen
werden muss, dass sich die Eltern nicht mit dem Jugendamt über eine
Fremdunterbringung einigen können. Ansonsten ist eine Inobhutnahme nicht
erforderlich.
Unter Berücksichtigung der Tragweite des Herausgabeantrages und unter
zusammenfassender Würdigung der begangenen Verfahrensverstöße ist hier
davon auszugehen, dass der abgelehnte Richter – auch aus der Sicht eines
objektiven und vernünftigen Dritten – als voreingenommen gegenüber dem
Antragsgegner erscheint.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.