Urteil des OLG Frankfurt vom 07.10.2004

OLG Frankfurt: sachliche zuständigkeit, örtliche zuständigkeit, aufschiebende wirkung, bedingte entlassung, aussetzung, unterbrechung, rechtskraft, strafvollstreckung, vollzug, erneuerung

1
2
3
4
Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 1044/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 360 Abs 2 StPO, § 370 Abs 2
StPO, § 462a Abs 1 S 2 StPO
(Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer:
Strafrestaussetzungsentscheidung nach
Vollstreckungsunterbrechung während eines
Wiederaufnahmeverfahrens)
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen
Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die 3. Strafkammer des Landgerichts
Kassel den Antrag des Verurteilten auf Aussetzung der Restfreiheitsstrafe aus
dem Urteil des Landgerichts Kassel vom 27.6.2002 zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten. Sie hat
in der Sache (vorläufigen) Erfolg.
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Für diese
war nicht die Strafkammer, sondern die Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Kassel zuständig.
Die Strafvollstreckungskammer hat gegenüber dem erkennenden Gericht -
abgesehen vom Fall des § 462 a Abs. 5 S. 1 StPO - stets den Vorrang, sobald eine
Freiheitsstrafe vollstreckt wird (st. Rechtsprechung des Senats z. B. Beschluss vom
26.8.1999 - 3 Ws 773/99 -; Beschluss vom 17.1.2000 - 3 Ws 60/00 -; BGH NStZ
2000, 111; BGH St 30, 192/98). Der Verurteilte befand sich vor Durchführung des
Wiederaufnahmeverfahrens nach seiner Festnahme am 2.6.1999 zur Vollstreckung
der Freiheitsstrafe aus dem - mit der Wiederaufnahme angegriffenen - Urteil des
Landgerichts Darmstadt ebenfalls vom 2.6.1999 ab dessen Rechtskraft am
9.10.1999 in Strafhaft, zunächst in O1 und O2, ab dem 11.12.2000 in der
sozialtherapeutischen Anstalt der JVA O3, bis die Strafkammer durch Beschluss
vom 18.2.2002 die Unterbrechung der Strafvollstreckung gemäß § 360 Abs. 2
StPO und die Erneuerung der Hauptverhandlung gemäß § 370 Abs. 2 StPO
anordnete und er an dem Tag in der Sache (tatsächlich am ...2.1999) entlassen
wurde. Mit Schriftsatz des Verteidigers vom 25.7.2001 wurde ein Antrag auf
Halbstrafenentlassung bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Kassel gestellt, den diese mit Beschluss vom 6.3.2002 im Hinblick darauf, dass die
Strafe „gemäß § 360 Abs. 2 StPO“ derzeit nicht vollstreckt werde, zurückwies. Mit
der Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt - hier durch Übergang der
Untersuchungshaft in Strafhaft mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils - wurde die
sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer (vgl. BGH NStZ 2000,
111) mit dem „Befaßtsein“ mit der Entscheidung über den Antrag auf
Reststrafenaussetzung die örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Kassel begründet. Bei dieser einmal begründeten Zuständigkeit
ist es nach der Entlassung des Verurteilten mit Beschluss des Landgerichts Kassel
vom 18.2.2002 geblieben (§ 462 a Abs. 1 S. 2 StPO). Die Vorschrift erweitert die
5
6
7
8
9
10
11
vom 18.2.2002 geblieben (§ 462 a Abs. 1 S. 2 StPO). Die Vorschrift erweitert die
einmal begründete Zuständigkeit auf alle Nachtragsentscheidungen, die einen
nach Unterbrechung der Vollstreckung oder nach Aussetzung des Strafrestes auf
freiem Fuß befindlichen Verurteilten betreffen (KK-Fischer, StPO, § 462 a Rdnr. 12).
Die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer geht auch bei
längerfristiger Vollstreckungsunterbrechung nicht auf das Gericht des ersten
Rechtszuges über, sondern endet grundsätzlich erst mit der endgültigen
Erledigung der Vollstreckung (vgl. OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 61). Unter
„Unterbrechung“ fällt unter anderem auch das Entweichen aus dem Vollzug, die
Abschiebung eines ausländischen Verurteilten in sein Heimatland und das
Absehen von der Vollstreckung gemäß § 456 a StPO (vgl. BGH NStZ 2000, 111;
GA 1984, 513; KK-Fischer, a.a.O. § 462 a Rdnr. 12), weil in solchen Fällen die
Strafvollstreckung nicht erledigt, sondern fortzusetzen bzw. bei Rückkehr des
Verurteilten nachzuholen und die für die Zuständigkeitsregelung maßgebliche
Interessenlage die gleiche ist wie in den Fällen der Unterbrechung oder
Aussetzung der Vollstreckung, für die § 462 Abs. 1 S. 2 StPO den Fortbestand der
gemäß Satz 1 begründeten Zuständigkeit vorsieht (BGH NStZ 2000, 111; GA
1984, 513).
Demgemäß unterfällt auch der vorliegende Fall der Regelung des § 462 a Abs. 1
Ziff. 2 StPO.
Vorliegend galt die mit Beschluss vom 2.6.1999 gemäß § 360 Abs. 2 StPO
angeordnete Unterbrechung der Vollstreckung des Urteils vom 2.6.1999 bis zum
Eintritt der Rechtskraft der gleichzeitig angeordneten Erneuerung der
Hauptverhandlung gemäß § 370 Abs. 2 StPO und wurde damit gegenstandslos
(vgl. z. B. Löwe-Rosenberg-Gössel, StPO, § 360 Rdnr. 6). Der Beschluss gemäß §
370 Abs. 2 StPO entfaltete alsdann aufschiebende Wirkung (vgl. Meyer-Goßner,
StPO, § 360 Rdnr. 1). Durch ihn wurde die bisherige Rechtskraft unterbrochen, die
eine Vollstreckungsvoraussetzung darstellt, und bestand ein
Vollstreckungshindernis (KMR-Eschelbach, StPO, § 360 Rdnr. 2). Die
Strafvollstreckung hatte als unzulässig zu unterbleiben (KMR-Paulus, a.a.O., § 370
Rdnr. 22), bis das Urteil aufgrund der erneuten Hauptverhandlung durch das
rechtskräftige Urteil der Strafkammer des Landgerichts Kassel vom 27.6.2002
aufrechterhalten wurde. Die Vollstreckung der im vorliegenden Verfahren nach
Durchführung der Wiederaufnahme durch nacheinander zwei Urteile verhängten
Freiheitsstrafe war der Sache nach „unterbrochen“, nicht etwa zwischenzeitlich -
mit der Wiederaufnahmeanordnung gemäß § 370 Abs. 2 StPO oder der erneuten
Verurteilung - endgültig abgeschlossen. Von daher sind Gesichtspunkte, die hier
ein Abweichen von der Regelung des § 462 a Abs. 1 S. 2 StPO nahe legen würden,
nicht ersichtlich.
Da der angefochtene Beschluss mithin vom unzuständigen Gericht erlassen
worden ist, konnte er keinen Bestand behalten.
Zwar kann der Senat nach ständiger Rechtsprechung ausnahmsweise in der
Sache selbst entscheiden, wenn er - wie hier - auch der zuständigen
Strafvollstreckungskammer als Beschwerdegericht übergeordnet ist. Das kommt
jedoch nur in Betracht, wenn eine für den Verurteilten positive Entscheidung über
sein Begehren schlechterdings ausgeschlossen erscheint (st. Rechtsprechung des
Senats vgl. z. B. Beschluss v. 17.1.2000 - 3 Ws 60/00 -; Beschluss vom 13.6.1996 -
3 Ws 489/96 -). Davon kann hier nicht ausgegangen werden.
Das Landgericht hat die beantragte Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes
der Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten wegen sexueller Nötigung im
besonders schweren Fall nach Verbüßung von mehr als der Hälfte (103 Tage bis
zum 2/3-Termin) gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB abgelehnt, da unabhängig von der
Frage, ob dem Verurteilten eine günstige Prognose zu stellen sei, jedenfalls
besondere Umstände im Sinn von § 57 Abs. 2 Ziff. 2 StGB nicht vorlägen.
Die Entscheidung konnte hier nicht ohne Einholung eines
Sachverständigengutachtens (§ 454 Abs. 2 Ziff. 2 StPO) getroffen werden.
Die Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist nach ständiger
Rechtsprechung des Senats nicht auf extreme Ausnahmefälle beschränkt.
Vielmehr genügen als „besondere Umstände“ solche, die im Vergleich mit den
gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen
von besonderem Gewicht sind. Auch durchschnittliche Milderungsgründe können
durch ihr Zusammentreffen ein solches Gewicht erlangen, dass ihnen in ihrer
Gesamtheit die Bedeutung „besonderer Umstände“ zuerkannt werden muß.
12
13
14
15
16
Gesamtheit die Bedeutung „besonderer Umstände“ zuerkannt werden muß.
Dabei ist keiner der für die Gesamtwürdigung wesentlichen Umstände von der
Einbeziehung in die Prüfung der „besonderen Umstände“ deshalb
ausgeschlossen, weil er bei Festlegung der Strafe bereits berücksichtigt worden ist.
Somit können die im Urteil hervorgehobenen Milderungsgründe erneut in die
Gesamtabwägung eingestellt werden. Diese muss zusätzlich das Nachtatverhalten
und die prognoserelevanten Umstände, insbesondere die Entwicklung des
Verurteilten im Vollzug, mit einschließen. Andererseits sind im Rahmen dieser
Gesamtwürdigung auch die so genannten negativen Tatfaktoren angemessen zu
gewichten. Sie können die Gesamtheit der günstigen Umstände so aufwiegen,
dass eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt als nicht gerechtfertigt erscheint
(st. Rechtsprechung des Senats vgl. z. B. Beschluss vom 12.1.2004 - 3 Ws 35/04 -
). Dabei verlieren mit zunehmender Dauer der Vollstreckung der Freiheitsstrafe
das Vorleben des Verurteilten und die Umstände seiner Taten an Gewicht,
während Tatsachen an Bedeutung gewinnen, die Erkenntnisse über das Erreichen
des Vollzugsziels gemäß § 2 StVollzG vermitteln.
Bei Heranziehung dieser Kriterien erachtet der Senat - mit der Staatsanwaltschaft
bei dem Oberlandesgericht - das Vorliegen „besonderer Umstände“ nicht als von
vornherein fern liegend. Die Kammer hätte vielmehr in Erwägung ziehen müssen,
ob sich die Sozialprognose für den Verurteilten nicht derart günstig darstellt, dass
sie - unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus einem einzuholenden Gutachten
- so wesentlich über das für eine bedingte Entlassung Erforderliche hinausgeht,
dass zugleich das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2
StGB bejaht werden kann.
Der Verurteilte ist Erstverbüßer und nicht einschlägig vorbestraft. Bei der Tat
handelt es sich um eine inzwischen geraume Zeit zurückliegende, einmalige
Beziehungstat. Laut Protokoll der Behandlungskonferenz der JVA O4 vom
15.3.2001 ist die Prognose bezüglich die Begehung weiterer Sexual- und
Gewaltdelikte als „eher günstig einzuschätzen“, wurde eine
Behandlungsnotwendigkeit bezüglich der begangenen Vergewaltigung verneint
und festgestellt, dass weder eine sexualpathologische Auffälligkeit, noch eine
Persönlichkeitsstörung vorliege. Seinerzeit war die Einholung eines externen
Sachverständigengutachtens u. a. zur Frage der bedingten Entlassung zum 2/3-
Zeitpunkt beschlossen worden. Die JVA O4 hat in ihrer Stellungnahme vom
4.11.2003 das Verhalten des Verurteilten im Vollzug als „in allen wesentlichen
Bereichen angemessen“ bezeichnet und ist einer bedingten Entlassung gemäß §
57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht entgegen getreten. Seit seiner Entlassung aus der
Strafhaft am ...2.2002 hat der Verurteilte - jedenfalls nach Aktenlage - keinerlei
Straftat begangen. Nachdem er sich vergeblich um Arbeit bemüht hatte, gründete
er mit seiner Lebensgefährtin in O5 ein Unternehmen im Bereich des Messebau,
an dem sie finanziell beteiligt ist, das von ihm unter großem persönlichen Einsatz
in die Gewinnzone geführt werden konnte, dessen Existenz indessen von seinem
weiteren persönlichen Einsatz vor Ort abhängt. Er wohnt bei seiner
Lebensgefährtin und hat mit ihr ein am ...2004 geborenes gemeinsames Kind.
Danach ist der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht darin zuzustimmen,
dass dem Verurteilten unter Zugrundelegung dieser, im angefochtenen Beschluss
getroffenen Feststellungen eine derart günstige Sozialprognose zu stellen ist, dass
ihn bereits diese vom Regelfall abhebt. Mithin hätte eine Aussetzung der
Bewährung gemäß § 57 Abs. 2 Ziff. 2 StGB erwogen werden müssen und konnte
die Entscheidung über die dabei - wie dargelegt - gebotene Gesamtwürdigung
nicht unter Ausklammerung der Beurteilung der Sozialprognose ohne Einholung
eines Gutachtens getroffen werden.
Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben.
Dem Antrag der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht auf Verweisung
der Sache an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel konnte
mangels gesetzlicher Grundlage für eine Verweisung nicht entsprochen werden. Es
obliegt der zuständigen Staatsanwaltschaft, die Sache der
Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Kassel zur Entscheidung vorzulegen
(vgl. z. B. Senatsbeschluss vom 13.6.1996 - 3 Ws 489/96 -).
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf der entsprechenden
Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.