Urteil des OLG Frankfurt vom 05.12.2001

OLG Frankfurt: grundsatz der gleichbehandlung, rücktritt, geschlechtsumwandlung, tsg, transsexualität, verschulden, medikament, operation, diskriminierungsverbot, krankenversicherer

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Gericht:
OLG Frankfurt 7.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 U 40/01
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 5 TSG, § 10 TSG, § 16 VVG
(Rücktritt des Krankenversicherers wegen Verschweigens
gefahrerheblicher Umstände: Rücktrittsgrund des
Verschweigens einer besonderen Medikation nach
Geschlechtsumwandlung eines Transsexuellen; zulässiges
"Nachschieben" von Rücktrittsgründen)
Leitsatz
Verschweigt eine transsexuelle Person nach ihrer Geschlechtsumwandlung diese
Tatsache und die dauernde Einnahme eines Hormonmedikamentes, kann der
Versicherer gemäß § 16 Abs. 2 VVG vom Vertrag zurücktreten.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts
Wiesbaden vom 19. Januar 2001 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Das Urteil beschwert die Klägerin mit 27.716,54 DM.
Tatbestand
Von der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 543 ZPO
abgesehen.
Entscheidungsgründe
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass der Rücktritt der
Beklagten von dem mit der Klägerin geschlossenen Krankenversicherungsvertrag,
den die Beklagte auf das Verschweigen gefahrerheblicher Umstände durch die
Klägerin stützt, unwirksam ist. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die
Berufung der Klägerin, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt, ist
unbegründet. Der von der Beklagten erklärte Rücktritt ist wirksam.
Nach § 16 Abs. 2 VVG kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten, wenn ein
nach § 16 Abs. 1 VVG gefahrerheblicher Umstand nicht angezeigt wurde. Nach §
16 Abs. 3 Satz 3 VVG gilt ein Umstand, nach welchem der Versicherer
ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, im Zweifel als erheblich. Die Beklagte hat
mit der Frage 2 a) ihres Fragebogens Untersuchungen oder Behandlungen durch
Ärzte in den letzten drei Jahren erfragt. Diese Frage hat die Klägerin mit "ja"
beantwortet. Die im Falle der Bejahung geforderten ausführlichen Angaben zur
Frage 2 a) sind wiederum tabellenartig mit Überschriften vorgegeben. Unter der
Überschrift a) werden folgende ergänzende Angaben verlangt: "Art der Erkrankung
oder Beschwerden, Verletzungen, Kur usw. Untersuchungsbefunde, Art der
körperlichen Fehler, seelischen, bzw. psychischen Störungen, Medikamente?".
Diese von ihr verlangten ergänzenden Angaben hat die Klägerin dahingehend
beantwortet, dass sie auf Vorsorgeuntersuchungen ohne Befund hingewiesen hat.
Die ergänzenden Angaben sind damit nicht zutreffend gemacht worden. Die
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Die ergänzenden Angaben sind damit nicht zutreffend gemacht worden. Die
Klägerin, die sich im Jahre 1986 einer Operation zur Geschlechtsumwandlung
unterzogen hatte, hat in den drei Jahren vor Antragstellung, d.h. seit 1994,
regelmäßig aufgrund ärztlicher Verordnung das Medikament Progynova
eingenommen. Mit dieser Medikation wird im Anschluss an die erfolgte
Geschlechtsumwandlung die Aufrechterhaltung eines weiblichen Hormonstatus
bezweckt. Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin krank ist oder infolge der
Anpassung ihres Körpers an ihr seelisches Empfinden als gesunde Frau anzusehen
ist, musste die Klägerin diese Medikation und den dafür bestehenden Grund
angeben. Denn Progynova ist zweifellos ein Medikament, das zur Regelung des
Hormonhaushalts eingesetzt wird.
Die somit unzutreffend beantwortete Gesundheitsfrage ist auch gefahrerheblich.
Die Vermutung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 3 VVG bedeutet, dass der Versicherer,
wenn der Versicherungsnehmer die Gefahrerheblichkeit bestreitet, substantiiert
darlegen muss, dass er nach seinen Risikoprüfungsgrundsätzen das
verschwiegene Risiko nicht oder anders versichert. Genügt der Versicherer dieser
substantiierten Darlegungslast, ist es Sache des Versicherungsnehmers, den
Gegenbeweis anzutreten. Die Beklagte hat hier dargelegt, dass sie transsexuelle
Personen grundsätzlich nicht versichert, auch nicht nach erfolgter
Geschlechtsumwandlung. Die Auffassung der Klägerin, sie könne einen Beweis für
die Unrichtigkeit dieser Behauptung, die sich auf Interna der Beklagten beziehe,
nicht antreten, trifft nicht zu. Denn die Klägerin kann unter Benennung geeigneter
Zeugen unter Beweis stellen, dass bei der Beklagten ein solcher
Geschäftsgrundsatz nicht besteht. Der Gegenbeweis kann jedoch nicht dadurch
geführt werden, dass, wie die Klägerin behauptet, nach erfolgter
Geschlechtsumwandlung bei transsexuellen Personen typischerweise kein im
Vergleich zu anderen Personen erhöhtes Risiko vorliege und psychische oder
körperliche Folgekrankheiten oder Belastungen nicht zu erwarten seien. Denn für
die Erheblichkeit eines Umstandes im Rahmen der Risikoprüfung einer
Versicherungsgesellschaft ist nicht entscheidend, wie ein Risiko allgemein oder
objektiv angemessen zu beurteilen wäre, sondern wie die jeweilige Gesellschaft
nach ihren Grundsätzen dies handhabt.
Der Rücktritt ist auch nicht mangels Verschulden der Klägerin unwirksam.
Verschulden käme insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Klägerin
berechtigt gewesen wäre, die gestellten Fragen so zu beantworten, dass sie dabei
ihre Transsexualität nicht offenbaren musste. Ein solches Recht steht der Klägerin
jedoch nicht zu. Nach § 10 Abs. 2 und § 5 Transsexuellengesetz (TSG) darf die
frühere geschlechtliche Identität und ein früher geführter Vorname ohne
Zustimmung des Betroffenen weder offenbart noch ausgeforscht werden, es sei
denn, dass besondere Gründe des öffentlichen Interesses dies erfordern oder ein
rechtliches Interesse glaubhaft gemacht wird. Diese Vorschriften verbieten es
jedoch nur, dass bei Behörden nach den genannten Umständen geforscht wird.
Diese Beschränkung ergibt sich daraus, dass im Ausnahmefall ein rechtliches
Interesse erfordert wird, das regelmäßig nur von Privatpersonen, die von einer
Behörde oder Gerichten Auskünfte erlangen wollen, verlangt wird
(Maasfeller/Böhmer, Familienrecht, § 5 TSG Anm. 1). §§ 5, 10 TSG begründen
daher nicht unmittelbar ein Recht einer betroffenen Person, eine Frage, in deren
Folge sie ihre Transsexualität offenbaren müsste, unzutreffend zu beantworten.
Ein solches Recht ergibt sich auch nicht aus dem Diskriminierungsverbot oder dem
allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Zwar hat das Bundesarbeitsgericht (NJW 91,
2723 f.) angenommen, dass eine transsexuelle Person im Einstellungsgespräch
den Eindruck einer Frau erwecken darf, auch wenn sie einen männlichen Körper
besitzt. Ob eine Offenbarungspflicht bestünde, wenn nach der weiblichen Identität
gefragt würde, hat das Bundesarbeitsgericht jedoch nicht entschieden. Auch der
Europäische Gerichtshof (NJW 96, 2421) hat geurteilt, es widerspreche dem
Diskriminierungsverbot und dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern
und Frauen, wenn einer transsexuellen Person lediglich wegen einer erfolgten
Operation zur Geschlechtsumwandlung gekündigt werde. Diesen Entscheidungen
lässt sich entnehmen, dass dem Betroffenen ein Recht, seine Transsexualität zu
verschweigen, so weit zuzubilligen ist, wie berechtigte Interessen Dritter dadurch
nicht berührt sind. Nach Auffassung des Senats sind im vorliegenden Fall aber die
berechtigten Interessen der Beklagten berührt. Wenn nämlich einerseits gilt, dass
transsexuelle Personen als Versicherte berechtigterweise erwarten dürfen, dass
Behandlungen, die infolge ihrer Transsexualität erforderlich werden, vom
Versicherer als Heilbehandlungskosten getragen werden (vgl. dazu OLG Köln VersR
95, 447, LSG Stuttgart NJW 1982, 718), muss auch gelten, dass sie ein solches
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95, 447, LSG Stuttgart NJW 1982, 718), muss auch gelten, dass sie ein solches
Risiko, das auch nach erfolgter Geschlechtsumwandlung in der fortdauernd
erforderlichen Behandlung mit einem Hormonmedikament Ausdruck findet, vor
Vertragsschluss auf entsprechende Fragen dem Versicherer anzeigen. Es handelt
sich dabei nicht um eine spezifische Diskriminierung von Transsexuellen. Die
Offenbarungspflicht entspricht vielmehr derjenigen, die jeden Kranken oder
Behinderten, der den Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages anstrebt,
trifft. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Umstand, der erfragt
und deshalb offenbart werden muss, einen sachlichen Bezug zu dem Risiko, das
versichert werden soll, aufweist und nicht von vorn herein auf einen sachwidrigen
Bezug, der lediglich auf Diskriminierung wegen nicht versicherungsrelevanter
Umstände abzielt.
Dass die Klägerin sich im übrigen ohne Verschulden, z.B. aus unverschuldetem
Rechtsirrtum, für berechtigt gehalten hat, die Dauermedikation zu verschweigen,
hat sie nicht dargelegt. Auch ihr musste die besondere Problematik ihres
Zustandes, nämlich eines Menschen, der sich als Frau empfindet, aber über einen
männlichen Körper verfügt, bewusst sein und sie konnte und musste daraus
schließen, dass die deshalb fortdauernd erforderliche Medikation für den
Krankenversicherer von Interesse war. Dies konnte sie auch nicht allein deshalb
ausschließen, weil ihr früherer Krankenversicherer dieses Risiko ohne Ausschluss
oder Prämienerhöhung versichert hatte. Der Rücktritt ist auch nicht deshalb
unwirksam, weil die Beklagte den Rücktrittsgrund im Rücktrittsschreiben nicht
ausreichend deutlich gemacht hätte. Nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs (BGH VersR 99, 217, 219), der sich der Senat anschließt,
schafft eine für den Rücktritt gegebene Begründung grundsätzlich keine
Selbstbindung des Versicherers dahin, dass es ihm verwehrt wäre, weitere ihm
innerhalb der Rücktrittsfrist bekannt gewordene Umstände nachzuschieben. Der
Rücktritt war auch fristgemäß. Die Dauermedikation mit Progynova ist der
Beklagten aufgrund bei ihr am 2. Mai 2000 eingehender ärztlicher Auskünfte
genauer bekannt geworden. Sie hat mit Schreiben vom 22. Mai 2000, das der
Klägerin noch im Mai 2000 zugegangen ist, den Rücktritt erklärt. Nachdem das
Verschweigen der Medikation zum Rücktritt berechtigt, kann offen bleiben, ob die
anderen in dem angefochtenen Urteil erörterten Rücktrittsgründe den Rücktritt
rechtfertigen könnten.
Da das Rechtsmittel erfolglos geblieben ist, hat die Klägerin die Kosten des
Berufungsverfahrens zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, 713 ZPO. Bei der Festsetzung der
Beschwer folgt der Senat der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (VersR
2000 1430), wonach bei einem auf den Fortbestand eines
Krankenversicherungsvertrages gerichteten Feststellungsantrag die Beschwer in
der Regel in der Höhe der 3-½-fachen Jahresprämie zu bestimmen ist. Ggf. sind
nicht eingeklagte, aber behauptete Ansprüche auf Versicherungsleistungen für die
Berechnung der Beschwer zusätzlich in Höhe von 50 % zu berücksichtigen. Die
Klägerin hat solche Ansprüche hier zwar nicht ausdrücklich behauptet. Es ist aber
unstreitig, dass sie regelmäßig Progynova einnimmt und sich dieses Medikament
auch regelmäßig ärztlich verschreiben lässt. Das sich daraus ergebende, nicht
näher bezifferte Leistungsinteresse schätzt der Senat gemäß § 3 ZPO auf
10.000,00 DM. Dementsprechend ist dem 3,5-fachen Jahresbetrag der
Versicherungsprämie (Monatsbeitrag: 540,87 DM) ein weiterer Betrag von
5.000,00 DM hinzuzurechnen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.