Urteil des OLG Frankfurt vom 16.05.2007

OLG Frankfurt: bedingte entlassung, vollstreckung der strafe, örtliche zuständigkeit, aussetzung, einwilligung, strafvollstreckung, therapie, verfügung, urkundenfälschung, dokumentation

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 476/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 462a Abs 1 StPO, § 57 Abs 1
StGB
(Konkretes "Befasstsein" der örtlich zuständigen
Strafvollstreckungskammer mit einer
Reststrafenaussetzung)
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Beschwerde,
an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Lüneburg verhängte gegen den Verurteilten am 1.12.2005 eine
Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten wegen Urkundenfälschung. Nachdem der
Betäubungsmittelabhängigkeit des Verurteilten wegen in der Vergangenheit die
Vollstreckung der Strafe nach § 35 BtMG zurückgestellt worden war, wurde die
Zurückstellung schließlich am 5.2.2007 widerrufen, da der Verurteilte die Therapie
(wieder einmal) nicht angetreten hatte. Aufgrund des Vollstreckungshaftbefehls
vom 5.2.2007 wurde der Verurteilte am 13.2.2007 festgenommen und konnte am
14.2.2007 der JVA Kassel I zugeführt werden. Am 30.3.2007 erfolgte seine
Verlegung in die JVA Hünfeld. Mit Verfügung vom 30.3.2007, eingegangen bei
Gericht am 4.4.2007, übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten gem. § 454 I 1
StPO an die Kammer mit dem bemerken, dass ein förmlicher Beschluss
angesichts der fehlenden Einwilligung für entbehrlich gehalten werde. Zwei Drittel
der Strafe waren am 10.4.2007 verbüßt.
Mit Beschluss vom 10.4.2007 lehnte die Strafvollstreckungskammer Kassel die
bedingte Entlassung des Verurteilten ab, da dieser einer bedingten Entlassung
nicht zugestimmt habe.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die zulässige Beschwerde der
Staatsanwaltschaft Lüneburg.
Sie ist zum einen der Auffassung, dass die Strafvollstreckungskammer Kassel
nicht zur Entscheidung berufen gewesen sei, da der Verurteilte zum Zeitpunkt als
die Kammer mit der Sache befasst worden sei (4.4.2007) nicht mehr in der JVA
Kassel I inhaftiert gewesen sei, sondern sich bereits seit dem 30.3.2007 in der JVA
Hünfeld befunden habe, mithin im Bezirk der Strafvollstreckungskammer Fulda.
Zum anderen verweist sie darauf, dass der Verurteilte nunmehr in Schreiben vom
10.4.2007 und 11.4.2007 zum Ausdruck gebracht habe, dass er an seiner
Erklärung, einer bedingten Entlassung nicht zuzustimmen, nicht mehr festhalte.
Der gem. § 301 StPO auch zugunsten des Verurteilten eingelegten Beschwerde ist
auch ein – zumindest vorläufiger – Erfolg nicht zu versagen.
Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft Lüneburg, der sich die
Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht angeschlossen hat, war allerdings
die Strafvollstreckungskammer Kassel zur Entscheidung nach § 57 I StGB berufen.
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Die örtliche Zuständigkeit war bereits durch ihr konkretes Befasstsein mit der
anstehenden Entscheidung über die Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB
begründet worden. Ein Befasstsein im Rechtssinne liegt nämlich schon dann vor,
wenn Tatsachen aktenkundig werden (oder sind), die eine Entscheidung in der
Vollstreckungssache rechtfertigen könnten (vgl. Senat, Beschluss vom 15.11.2002
– 3 Ws 1197/02 – zum Widerruf; OLG Dresden, Beschluss vom 6.12.2004 – 2 Ws
681/04 – zitiert nach Juris) oder eine Entscheidung von Amtswegen gesetzlich
vorgeschrieben ist (vgl. KK-Fischer, StPO, 5. Aufl., § 462 a Rdnr. 18 m.w.N.).
Beides ist vorliegend der Fall.
Bereits mit der Einleitung der Strafvollstreckung stand fest, dass von Amtswegen
spätestens zum 10.4.2007 eine Entscheidung gem. § 57 I StGB getroffen sein
muss. Mit dem Oberlandesgericht Dresden (a. a. O.) ist auch der Senat der
Auffassung, dass in Hinblick auf § 462 a StPO eine Strafvollstreckungskammer mit
dieser Entscheidung bereits dann konkret "befasst" ist, wenn der maßgebliche
Zeitpunkt nach § 57 StGB . Das Interesse an einer sachgerechten
Entlassungsvorbereitung setzt eine so frühzeitige Entscheidung über die
Aussetzung des Strafrestes voraus, dass es einem Verurteilten möglich sein
muss, bei Eintritt der Aussetzungsreife entlassen werden zu können. Ein gewisser
zeitlicher Vorlauf ist daher unabdingbar, zumal auch ein möglicherweise
durchzuführendes Beschwerdeverfahren berücksichtigt werden muss. Spätestens
zum maßgeblichen Zeitpunkt nach § 57 StGB soll nämlich rechtskräftig
feststehen, ob die restliche Strafvollstreckung ausgesetzt wird (vgl. OLG Dresden
a.a.O., insbesondere im Falle bei langjährigen Haftstrafen mit "Gutachtenzwang").
Dass - wie hier - die Strafvollstreckungsbehörden die Sachakten erst 6 Tage vor
dem möglichen Zweidrittelzeitpunkt und fünf Tage nach der Verlegung des
Verurteilten in eine andere JVA der Strafvollstreckungskammer vorlegen, ändert an
der konkreten Befasstheit der Strafvollstreckungskammer Kassel daher nichts.
Die Strafvollstreckungskammer Kassel ist zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung zu
Recht davon ausgegangen, dass eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung
wegen der Rücknahme des Antrages auf bedingte Entlassung und damit fehlender
Einwilligung in die Aussetzung nicht in Betracht kommt.
Die für eine vorzeitige bedingte Entlassung erforderliche Einwilligung ( § 57 I Nr. 3
StGB ) kann aber noch im Beschwerdeverfahren erteilt werden ( vgl.
Senatsbeschluss vom 15.6.2000 – 3 Ws 605/00 und 7.1.1999 – 3 Ws 196/98;
Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, Rdnr. 19 zu § 57 ).
Da sich aus dem von der Staatsanwaltschaft Lüneburg zitierten Schreiben des
Verurteilten konkludent seine Einwilligung in die Aussetzung des Strafrestes ergibt,
ist der angefochtenen Entscheidung die Grundlage entzogen worden.
Entgegen § 309 II StPO konnte der Senat über die Aussetzung der Strafe nicht
selbst entscheiden, da die Strafvollstreckungskammer die materiellen
Voraussetzungen des § 57 StGB nicht geprüft hat und der Verurteilte im Falle
einer Entscheidung durch den Senat eine Instanz verlieren würde ( vgl.
Senatsbeschlüsse vom 16.6.2000 – 3 Ws 605/00 und vom 18.7.2000 – 3 Ws
753/00;OLG Koblenz, GA 1977, 374; OLG Stuttgart, MDR 1990, 845; OLG Karlsruhe,
Justiz 1970, 91 ).
Die angefochtene Entscheidung war hiernach aufzuheben. Gleichzeitig war die
Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des
Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.