Urteil des OLG Frankfurt vom 10.01.2011

OLG Frankfurt: ärztliche untersuchung, rechtliches gehör, faires verfahren, gutachter, parteiöffentlichkeit, eingriff, intimsphäre, gestatten, gegenpartei, vorrang

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Gericht:
OLG Frankfurt 22.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
22 U 174/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 357 ZPO
Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme
Orientierungssatz
Zum Recht eines beklagten Zahnarztes, bei der Untersuchung der von ihm zahnärztlich
behandelten Klägerin durch den gerichtlichen Sachverständigen im Rahmen einer
Beweisaufnahme anwesend zu sein.
Tenor
Der Beklagte hat das Recht, bei der zahnärztlichen Untersuchung der Klägerin
durch den Sachverständigen anwesend zu sein.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
Dem Beklagten, der die Klägerin in den Jahren 2002 und 2003 zahnärztlich
behandelt hat, war erstinstanzlich seitens des durch das Landgericht bestellten
Sachverständigen Dr. SV1 mit Schreiben vom 30.03.2006 (Bl. 231 d.A.) mitgeteilt
worden, er könne an dem auf den 02.05.2006 anberaumten Untersuchungstermin
teilnehmen. Am Terminstag stellte der Sachverständige Dr. SV1 es in die
Entscheidungskompetenz der Klägerin, ob sie dem vor Ort anwesenden Beklagten
gestatten wolle, der Untersuchung beizuwohnen. Die Klägerin verneinte dies, wobei
zwischen den Parteien streitig ist, für welchen Zeitraum der Widerspruch der
Klägerin gegen die Anwesenheit des Beklagten gelten sollte. Unstreitig wollte die
Klägerin zumindest zunächst allein mit dem Sachverständigen sprechen. Der
Beklagte entfernte sich daraufhin.
Schon erstinstanzlich (Schriftsatz vom 07.07.2006, dort S. 2, Bl. 260 d.A.) und
erneut mit der Berufung rügte der Beklagte unter anderem die fehlende
Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme und machte geltend, es sei ihm mangels
Einräumung des Anwesenheitsrechts nicht möglich gewesen, dem Gutachter
gegenüber „subjektive Angaben der Klägerin“ (Bl. 260 d.A.) vor Ort richtig zu
stellen. Der Senat hat den Parteien in der mündlichen Verhandlung vom
04.02.2010 und im Beweisbeschluss vom 22.04.2010 (Bl. 616 d.A.) mitgeteilt, dass
er das erstinstanzlich eingeholte Gutachten wegen der Verletzung des
Grundsatzes der Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme für nicht verwertbar
halte und erneut Beweis erheben werde. Zum Sachverständigen wurde Dr. Dr. Dr.
SV2 bestimmt.
Der Sachverständige hat im Zuge der den Untersuchungstermin vorbereitenden
Terminsabsprachen unter Berufung auf die Entscheidung des OLG München vom
15.10.1999 (1 W 2656/99) die Ansicht vertreten, der Beklagte habe nur dann ein
Anwesenheitsrecht bei der zur Durchführung der Begutachtung notwendigen
Untersuchung, wenn die Klägerin damit einverstanden sei (Schreiben des
Sachverständigen vom 04.10.2010, Bl. 683 f d.A.). Die Klägerin hat daraufhin ihre
zunächst abgegebene Erklärung, sie habe keine Einwendungen gegen die
Anwesenheit des Beklagten bei der Untersuchung (Schriftsatz vom 06.10.2010, Bl.
694 d.A.), „nicht mehr aufrechterhalten“ (Schriftsatz vom 15.10.2010, Bl. 696
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694 d.A.), „nicht mehr aufrechterhalten“ (Schriftsatz vom 15.10.2010, Bl. 696
d.A.) und sich der Rechtsmeinung des OLG München angeschlossen.
Der Senat ist der Auffassung, dass im vorliegenden Fall ein Anwesenheitsrecht des
Beklagten bei der zahnärztlichen Untersuchung der Klägerin durch den
Sachverständigen besteht. Zwar stellt jede ärztliche Untersuchung einen Eingriff in
die Privat- und Intimsphäre einer Person dar, jedoch greift andererseits jede
Beweisaufnahme ohne Anwesenheit einer Partei in deren Recht auf rechtliches
Gehör und ein faires Verfahren ein. Beide Rechtsgüter sind schützenswert, so dass
in jedem Einzelfall eine Abwägung erforderlich ist, in die die Schwere der jeweiligen
Beeinträchtigungen einzustellen ist.
Hier geht es um eine zahnärztliche Untersuchung, die – da inzwischen anderer
Zahnersatz eingegliedert ist – nur in eingeschränktem Umfang Feststellungen in
der Mundhöhle der Klägerin erfordert. Die Mundhöhle ist kein Bereich, bezüglich
dessen gemeinhin eine besondere Scheu zur Offenbarung zu bestehen pflegt (vgl.
OLG München NJW-RR 1991, 896). Der Beklagte hat in den Jahren 2002 und 2003
als der damalige Behandler der Klägerin diese bereits mehrfach zahnärztlich
behandelt und untersucht. Die Befugnis hierzu hat er durch die Beendigung des
Arzt-/Patientenverhältnisses und durch das damit einhergehende Entfallen der von
der Klägerin erteilten Einwilligung zwar verloren; durch seine Anwesenheit bei der
Untersuchung durch den Sachverständigen wird die Klägerin jedoch wegen seiner
durch das ehemalige Behandlungsverhältnis bestehenden Vorkenntnisse nicht so
stark belastet wie durch die Anwesenheit gänzlich fremder Personen.
Der Senat teilt nicht die Auffassung anderer Oberlandesgerichte (Nachweise siehe
unten), dass bei jedweder Untersuchung einer Prozesspartei kein
Anwesenheitsrecht der Gegenpartei bestehe. Vielmehr hat im jeweiligen Einzelfall
nach Auffassung des Senats eine Abwägung unter Gewichtung der beiderseitigen
Interessen stattzufinden. Dabei ist es durchaus von Bedeutung, auf welche
Bereiche des Körpers sich die vom Sachverständigen durchzuführenden
Untersuchungen beziehen und inwieweit Erläuterungen der Prozessparteien
gegenüber dem Sachverständigen zu erwarten sind. Auch wenn die dem Schutz
der Persönlichkeitsrechte in jedem Falle den Vorrang gebende Betrachtungsweise
Entscheidungen klar und einfach macht, hat doch der vom Senat beschrittene
Weg der Würdigung des Einzelfalls den Vorteil der größeren Einzelfallgerechtigkeit.
Die Abwägung der beiderseitigen Interessen führt nicht in allen denkbaren Fällen
zum Ergebnis des Vorrangs der Persönlichkeitsrechte.
Hier ist der relativ geringe Eingriff in die Privat- und Intimsphäre der Klägerin durch
die Anwesenheit des Beklagten bei der zahnärztlichen Untersuchung gegen das
Recht des Beklagten, die Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen
zu beobachten und während der Untersuchung sachbezogene Fragen und
Anregungen anzubringen, abzuwägen. Der Senat kommt bei dieser Abwägung zu
dem Ergebnis, dass die Beeinträchtigungen zwar auf Seiten der Klägerin durchaus
Gewicht haben, dass jedoch im konkreten Fall die Beeinträchtigungen auf Seiten
des Beklagten noch schwerer wiegen: Der Beklagte hat geltend gemacht, er hätte
bei Anwesenheit während der Untersuchung einigen von ihm als „subjektiv“
bezeichneten Angaben der Klägerin gegenüber dem Gutachter gleich
widersprochen, was zu einem anderen Ergebnis des Gutachtens geführt hätte. Ob
der erstinstanzlich tätige Gutachter tatsächlich zu einem anderen Ergebnis
gekommen wäre, kann seitens des Senats nicht festgestellt werden; jedenfalls ist
eine erhebliche Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit und des fairen
Verfahrens gegeben, wenn der Gutachter unter 2. (S. 2 – 4 des Gutachtens vom
24.05.2006, Bl. 236 ff d.A.) als „Spezielle Anamnese“ „Angaben der Patientin beim
Untersuchungstermin“ in das Gutachten aufnimmt, die in einem Gespräch
zwischen Gutachter und Klägerin gemacht wurden, zu dem dem Beklagten der
Zutritt verwehrt wurde.
Die Abwägung führt - wie gezeigt - hier zu dem Ergebnis, dass im hier vorliegenden
Fall die Anwesenheit des Beklagten bei der Untersuchung der Klägerin durch den
Sachverständigen zulässig ist. Wenn die Klägerin diese dennoch nicht gestatten
will, sieht die ZPO nicht die Vornahme irgendwelcher Zwangsmaßnahmen vor.
Jedoch wird ein solches Verhalten bei der Beweiswürdigung, evtl. unter dem
Gesichtspunkt einer partiellen Beweisvereitelung, zu berücksichtigen sein.
Der Senat hat die Rechtsbeschwerde nach § 574 I Nr. 2 ZPO zugelassen.
Mit der vorliegenden Entscheidung weicht er von den in Beschwerdeverfahren
wegen Befangenheit ergangenen Beschlüssen des OLG München vom 15.10.1999
wegen Befangenheit ergangenen Beschlüssen des OLG München vom 15.10.1999
(1 W 2656/99), des OLG Köln vom 25.03.1992 (27 W 16/92, NJW 1992, 1568) und
des OLG Hamm vom 16.07.2003 (1 W 13/03) ab. Zwar sind Anordnungen des
Prozessgerichts nach § 404 a ZPO als Bestandteile oder Ergänzung eines
Beweisbeschlusses grundsätzlich ebenso wenig anfechtbar wie dieser selbst (§ 355
II ZPO); jedoch sind hiervon solche Fälle auszunehmen, in denen die
Zwischenentscheidung selbst bereits einen für die Partei bleibenden rechtlichen
Nachteil zur Folge hat, der sich im weiteren Verfahren jedenfalls nicht mehr
vollständig beheben lässt (vgl. BGH I ZB 118/07 vom 18.12.2008, zitiert nach
juris). Ein solcher später nicht mehr vollständig zu behebender Nachteil ist der
vom Senat nach Abwägung der beiderseitigen Parteiinteressen hingenommene
Eingriff in die Privatsphäre der Klägerin durch die Anwesenheit des Beklagten bei
der zahnärztlichen Untersuchung.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.