Urteil des OLG Frankfurt vom 18.05.2006

OLG Frankfurt: duldung, strafbarkeit, ausländer, abschiebung, strafrecht, aufenthalt, zivilprozessrecht, quelle, kokain, bewährung

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Gericht:
OLG Frankfurt 2.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ss 23/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 95 Abs 2 Nr 1 Buchst b
AufenthG
(Unerlaubter Aufenthalt eines Ausländers in der
Bundesrepublik bei Vorliegen der
Duldungsvoraussetzungen)
Leitsatz
Die Strafbarkeit eines Ausländers nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 b) AufenthG scheidet nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom März 2003 (2 BvR 397/02) aus,
wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen
Duldung im Tatzeitraum gegeben waren.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten
der Revision und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen
Auslagen, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Offenbach am Main
zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Offenbach am Main hat den Angeklagten mit Urteil vom 14.
September 2005 wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik
Deutschland (§ 95 Abs.2 Nr.1 b) AufenthG) zu einer Freiheitsstrafe von sechs
Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung
formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Offenbach reiste der Angeklagte
erstmals 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im März 2001 wurde er
wegen Handeltreibens mit Kokain in nicht geringer Menge zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Zuletzt wurde er im
Mai 2003 ausgewiesen und abgeschoben. Am 16. März 2005 verurteilte das
Amtsgericht Frankfurt am Main den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das
Aufenthaltsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung
zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach dieser Verurteilung hätte der Angeklagte
ausreisen können und müssen. Er blieb aber in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Ausländerbehörde, die den Angeklagten hätte abschieben können, blieb nach
den Feststellungen des Amtsgerichts untätig.
II.
Die Revision ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingereicht und
ebenso begründet worden. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Die Feststellungen des Amtsgerichts Offenbach am Main tragen den Schuldspruch
wegen eines Verstoßes gegen § 95 Abs.2 Nr.1 b) AufenthG nicht. Der Angeklagte
hat sich zwar entgegen § 11 Abs.1 S.1 AufenthG auch nach der Verurteilung durch
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hat sich zwar entgegen § 11 Abs.1 S.1 AufenthG auch nach der Verurteilung durch
das Amtsgericht Frankfurt am Main vom 16. März 2005 noch in der Bundesrepublik
Deutschland aufgehalten. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 6. März 2003 – 2 BvR 397/02 (StV 2003,553) sind die Strafgerichte jedoch von
Verfassungs wegen gehalten, selbständig zu prüfen, ob die gesetzlichen
Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im
Tatzeitraum gegeben waren. Kommen sie zu der Überzeugung, die
Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers
wegen unerlaubten Aufenthalts aus.
Diese Prüfung hat das Amtsgericht Offenbach am Main nicht vorgenommen. Die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 2003 ist zwar zu § 92
Abs.1 Nr.1 AuslG ergangen, sie betrifft aber auch die Rechtslage nach dem
Aufenthaltsgesetz, das in wesentlichen Teilen mit Wirkung vom 1. Januar 2005 an
die Stelle des Ausländergesetzes getreten ist (vgl. Leopold/Vallone, ZAR 2005,66).
Während § 95 Abs.1 Nr.2 AufenthG die Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts
ausdrücklich davon abhängig macht, dass die Abschiebung nicht ausgesetzt
(geduldet) ist, sieht der Tatbestand des § 95 Abs.2 Nr.1b) AufenthG nach seinem
Wortlaut diese Einschränkung nicht vor. Eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 95
Abs.2 Nr.1 b) AufenthG scheidet nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 2003 jedoch ebenfalls aus, wenn die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen
Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Der Tatbestand der genannten Vorschrift
kann durch Verbleiben im Inland trotz Ausweisung und vollziehbarer Ausreisepflicht
verwirklicht werden. Der unerlaubt eingereiste Ausländer ist vollziehbar
ausreisepflichtig (§ 58 Abs.2 AufenthG). Wenn die freiwillige Erfüllung der
Ausreisepflicht nicht gesichert ist, muss der unerlaubt eingereiste Ausländer
abgeschoben werden (§ 58 Abs.1 AufenthG), es sei denn, die Abschiebung ist
gemäß § 60a AufenthG vorübergehend auszusetzen (Duldung). Die
Ausländerbehörde könnte mithin durch (gesetzwidrige) Untätigkeit dazu beitragen,
dass sich der unerlaubt eingereiste Ausländer allein durch sein Verbleiben im
Inland wiederholt nach § 95 Abs.2 Nr.1 b) AufenthG strafbar macht. Das ist mit den
Grundsätzen des im Strafrecht geltenden Schuldprinzips nicht vereinbar (vgl.
BVerfG, a.a.O.). Das Amtsgericht wird deshalb noch zu prüfen haben, ob die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen
Duldung im Tatzeitraum gegeben waren.
Da in dem vorliegenden Fall weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen sind, ist
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts Offenbach am Main zurückzuverweisen. Eines Eingehens auf die
Verfahrensrüge bedarf es nicht, weil bereits die Sachrüge durchgreift.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.