Urteil des OLG Frankfurt vom 14.01.2003
OLG Frankfurt: operation, eingriff, schule, billige entschädigung, anhörung, resektion, rezidiv, tod, behandlungsfehler, schmerzensgeld
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Gericht:
OLG Frankfurt 8.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 U 135/01
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 823 Abs 1 BGB, § 847 Abs 1
BGB
(Arzthaftung: Aufklärungspflichtverletzung vor beidseitiger
subtotaler Schilddrüsenresektion im Jahre 1995;
Schmerzensgeldanspruch nach misslungener Operation mit
Stimmverlust und schweren Dauerbeschwerden einer 4
Jahre später verstorbenen Patientin)
Leitsatz
Eine 1995 durchgeführte beidseitige, subtotale Schilddrüsenresektion kann nicht als
fehlerhaft eingestuft werden, weil zu dieser Zeit die sog. chirugische Schule der HNO-
Schule noch gleichwertig gegenüber stand. Danach war ein beidseitiges Operieren bei
krankhaften Veränderungen der Schilddrüse mit der Möglichkeit einer bösartigen
Wucherung auf beiden Seiten des Organs noch üblich und entsprach dem Standard.
Der behandelnde Arzt war aber bereits damals verpflichtet, seinem Patienten die von
beiden Schulen vorgeschlagenen Operationsmethoden darzustellen und über die
unterschiedlichen Risiken aufzuklären.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 7.5.2001 verkündete Grund- und
Teilurteil des Landgerichts Gießen - Az. 2 O 649/99 - wird zurückgewiesen.
Der Rechtsstreit wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der
materiell-rechtlichen Klageforderungen an das Landgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung fallen den Beklagten zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Beklagten wird gestattet, die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden,
wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des
jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Klägerin verlangt als Alleinerbin von Frau A., ihrer Mutter, von den Beklagten
als Gesamtschuldnern Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wegen
einer misslungenen Schilddrüsenoperation. Die Erblasserin (Jahrgang 1923) wurde
1961 erstmals wegen eines Schilddrüsenstrumas operiert. Bis 1995 hatte sich ein
Rezidivstruma gebildet, was ein reduziertes Allgemeinbefinden, Atemnot und Herz-
Rhythmus-Störungen zur Folge hatte. Frau A. begab sich daher am 7.8.1995 zur
stationären Behandlung in das X-Krankenhaus O1, dessen Chefarzt der Beklagte
zu 1) ist. Der Beklagte zu 2) klärte die Erblasserin noch am gleichen Tag über den
geplanten Eingriff, eine erneute Strumaresektion, auf und verwandte hierfür ein
abgewandeltes Formular für Ersteingriffe (Bl. 28-31 d.A.). Außerdem fanden zwei
weitere Aufklärungsgespräche statt, eines davon mit dem Beklagten zu 1). Die
klinische Untersuchung der Erblasserin zeigte, dass ihre Stimmbandnerven
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klinische Untersuchung der Erblasserin zeigte, dass ihre Stimmbandnerven
funktionstüchtig waren. Die Operation, die der Beklagte zu 1) durchführte,
assistiert vom Beklagten zu 2 ), fand am 9.8.1995 statt. Es handelte sich dem
Operationsprotokoll zufolge um eine subtotale Nachresektion auf beiden Seiten.
Der Eingriff gestaltete sich wegen der auf der Voroperation beruhenden
Vernarbungen schwierig. Wegen der Einzelheiten der Operation wird auf den
entsprechenden Bericht des Beklagten zu 1) (Bl. 5 Anlagenkonvolut) Bezug
genommen. Nach der Operation litt die Erblasserin unter Stimmverlust und
anhaltender Atemnot. Auch ein starkes Verschleimen wurde im Verlaufsbogen
nach der Operation vermerkt. Es stellte sich heraus, dass beide Stimmbandnerven
gelähmt waren. Am 10.8.1995 wurde bei der Erblasserin ein Luftröhrenschnitt
(Tracheotomie) vorgenommen. Es wurde ihr außerdem eine Sprechkanüle in die
Luftröhre eingesetzt. Am 23.9.1995 wurde sie aus dem X-Krankenhaus entlassen.
Die Stimmbandlähmung erwies sich als nicht reversibel. Am 23.10.1996 wurde die
Dekanüllierung vorgenommen. In den folgenden Jahren wurden bei Frau A. acht
weitere stationäre Krankenhausaufenthalte mit sieben operativen
Nachbehandlungen erforderlich. Es trat Pflegebedürftigkeit ein. Die Erblasserin
siedelte deswegen von ihrem bisherigen Wohnsitz in ... nach ... zu ihrer Tochter,
der Klägerin, über. Sie verstarb am 9.7.1999 im Alter von 76 Jahren. Der
Leichenschauschein gibt als unmittelbare Todesursache Lungenembolien
(Rezidiv)/Dyspnoe/Lungenödem, Zustand nach Pneumonie und Nierenversagen an
(Bl. 4 Anlagenkonvolut).
Die Klägerin hat behauptet, den Beklagten seien bei der Behandlung ihrer Mutter
im August 1995 grobe Fehler unterlaufen. Sie hätten notwendige präoperative
Untersuchungen, nämlich die Sonographie der Schilddrüse und
Röntgenaufnahmen der Luftröhre, unterlassen. Die radikale und subtotale
Resektion der Schilddrüse stelle einen schweren ärztlichen Fehler dar. Die
Beklagten hätten es insbesondere versäumt, die Stimmbandnerven bei der
Erblasserin zu schonen. Statt der von der Beklagten angewandten Methode hätte
eine intrakapsuläre Enukleation durchgeführt werden müssen. Infolge der
fehlerhaften Operation habe ihre Mutter nicht nur ihre Stimme verloren, sondern
auch an ständiger qualvoller Atemnot bis zu Erstickungsängsten und starker
Verschleimung gelitten. Sie sei dadurch auch psychisch stark beeinträchtigt
worden und habe einen Selbstmordversuch unternommen. Schließlich sei die
Erblasserin auf Grund des fehlerhaften Eingriffs den Erstickungstod gestorben. Die
Klägerin rügt außerdem die mangelhafte Aufklärung ihrer Mutter, die auf die
weitreichenden Risiken des nicht zwingend gebotenen Eingriffs, insbesondere auf
die Gefahr der beidseitigen Stimmbandlähmung und ihre Folgen, nicht
hingewiesen worden sei. Bei richtiger und vollständiger Aufklärung hätte Frau A. die
Operation nicht durchführen lassen.
Die Klägerin hat beantragt, i) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an
sie eine billige Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt
wird, die aber 100.000,-- DM nicht unterschreiten sollte, nebst 8 % Zinsen seit
dem 21.9.1999 zu zahlen, ii) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an
sie, die Klägerin, 56.263,36 DM nebst 8 % Zinsen seit dem 21.9.1999 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, die für den Eingriff erforderlichen Voruntersuchungen
durchgeführt zu haben. Die gewählte Operationsmethode der subtotalen
Nachresektion auf beiden Seiten sei indiziert gewesen. Der Eingriff sei fehlerfrei
durchgeführt worden. Die Erblasserin sei vor der Operation keineswegs
gesundheitlich unbelastet gewesen. Die Patientin sei auch ausreichend aufgeklärt
worden. Das Merkblatt für Ersteingriffe sei auf Zweiteingriffe abgeändert worden.
Die beiderseitige Schädigung der Stimmbandnerven bei einer derartigen
Operation sei sehr selten, stelle aber ein typisches Behandlungsrisiko dar, das bei
chirurgischen Eingriffen dieser Art auch bei sorgfältigem Vorgehen nicht mit
Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Die schweren Folgen der Komplikation
seien daher schicksalsbedingt und nicht die Folge eines ärztlichen Fehlverhaltens.
Das Landgericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 10.3.2000, Bl.
53, 57 d.A., durch Vernehmung des Zeugen Dr. B., Bl. 82-88 d.A., und gemäß
Beweisbeschluss vom 26.6.2000, Bl. 108 d.A., durch Einholung eines Gutachtens
des Sachverständigen Prof. Dr. C. vom 20.12.2000, Bl. 126-142 d.A., sowie durch
die mündliche Anhörung des Sachverständigen im Termin vom 5.3.2001, Bl. 166-
168 d.A. Sodann hat es durch ein am 7.5.2001 verkündetes Grund- und Teilurteil
der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,-- DM zugesprochen und
den Anspruch auf materiellen Schadensersatz dem Grunde nach für gerechtfertigt
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den Anspruch auf materiellen Schadensersatz dem Grunde nach für gerechtfertigt
erklärt. Es hat ausgeführt, die Operation sei von den Beklagten grob fehlerhaft
vorgenommen worden. Der Sachverständige Prof. Dr. C. habe festgestellt, dass
die subtotale Nachresektion auf beiden Seiten nicht den Standards von 1995
entsprochen habe. Es sei grob fehlerhaft, bis auf den Außenrand der Kapsel
subtotal und sehr radikal zu resezieren. Wegen der Schwere des Risikos einer
beidseitigen Stimmbandlähmung habe nicht auf beiden Seiten der Schilddrüse
operiert werden dürfen. Es habe zumindest auf einer Seite eine nur geringfügige
Entfernung von Gewebe stattfinden dürfen. Zudem sei es obligatorisch, die
Stimmbandnerven bei der Operation darzustellen, was ebenfalls nicht geschehen
sei. Wegen der schweren Folgen der fehlerhaften Vorgehensweise hat das
Landgericht das Schmerzensgeld für die Erblasserin mit 100.000,-- DM beziffert.
Die Beklagten haben gegen diese ihnen am 15.5.2001 zugestellte Entscheidung
am 15.6.2001 Berufung eingelegt und diese innerhalb verlängerter Frist am
13.8.2001 begründet. Sie richten ihre Angriffe im wesentlichen gegen das
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C., das ihrer Auffassung nach keine
ausgewogene Beurteilung der Beweisfragen darstellt, weil es die verschiedenen
Methoden und Lehrmeinungen nicht ausreichend berücksichtigt. Die nicht erfolgte
Darstellung des Nervus recurrens sei 1995 wissenschaftlicher Standard gewesen.
Hierzu seien im Zeitraum der streitgegenständlichen Operation verschiedene
Lehrmeinungen vertreten worden. Die Leitlinien der deutschen Gesellschaft für
Chirurgie und die Kommissionsrichtlinien, auf welche der Sachverständige abhebe,
seien erst 1998 erschienen. Erst in diesen Leitlinien sei die Empfehlung enthalten
gewesen, die befunddominante Seite zunächst allein anzugehen. Die Beklagten
äußern die Vermutung, dass der Sachverständige sich einseitig an der
sogenannten Pichlmaier-Schule orientiert habe, der er selbst angehöre. Die
Beklagten berufen sich im übrigen auf den Bescheid der Gutachter- und
Schlichtungsstelle vom 15.2.1999, in welchem der Sachverständige Dr. D. kein
fehlerhaftes Vorgehen ihrerseits festgestellt habe. Demnach stellten weder die
beidseitige Operation noch die unterlassene Freilegung des Nervus recurrens
einen Mangel ärztlichen Handelns dar. Die beidseitige Parese der Nerven bedeute
auch keinen Anscheinsbeweis für einen Behandlungsfehler. Aber selbst wenn
gleichwohl ein Fehler anzunehmen wäre, sei die Kausalität des selben für die
Nervschädigung und deren Folgen nicht nachgewiesen. Schließlich wenden sich die
Beklagten auch gegen die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen
Schmerzensgeldes.
Sie beantragen, das Grund- und Teilurteil des Landgerichts abzuändern und
die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil und das Gutachten des Sachverständigen
Prof. Dr. C.. Dieser sei zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie die
Kommissionsentscheidung der Gutachter- und Schlichtungsstelle. Sie hält an ihrer
Behauptung fest, dass die Beklagten ihre Mutter ungenügend aufgeklärt hätten.
Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 4.12.2001, Bl. 282,
283 d.A., durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. E., das
dieser am 4.7.2002 erstattet hat. Wegen des Ergebnisses dieser Beweiserhebung
wird auf das schriftliche Gutachten Bl. 306-310 d.A. ergänzend Bezug genommen.
Außerdem hat der Senat die Sachverständigen Prof. Dr. C. und Prof. Dr. E. im
Termin vom 28.11.2002 mündlich angehört. Insofern wird auf das Sitzungsprotokoll
des Senats vom 28.11.2002, Bl. 351-356 d.A. ergänzend verwiesen.
Die zulässige Berufung der Beklagten bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Das Landgericht hat der Klägerin im Ergebnis zu Recht einen Anspruch auf
Schadensersatz wegen fehlerhaftem ärztlichem Verhalten der Beklagten in
Verbindung mit ihrer Rechtsposition als Alleinerbin von Frau A. zuerkannt.
Zwar fällt den Beklagten kein Behandlungsfehler zur Last. Sie haben die Mutter der
Klägerin jedoch nur unzureichend aufgeklärt, indem sie ihr die verschiedenen
Möglichkeiten eines Eingriffs zur Beseitigung der krankhaften Veränderungen ihrer
Schilddrüse nicht hinlänglich dargestellt haben. Außerdem ist bereits zweifelhaft,
ob sie ihre Patientin über das Ausmaß der Risiken des geplanten Eingriffs
ausreichend informiert haben. Es handelte sich bei Frau A. um eine Rezidiv-
Strumektomie (wiederholte Entfernung einer Schilddrüsenwucherung) auf beiden
Seiten, die im Vergleich zu einem Ersteingriff ein erhöhtes Risiko der Beschädigung
des Nervus recurrens auf beiden Seiten in sich birgt. Während die
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des Nervus recurrens auf beiden Seiten in sich birgt. Während die
Komplikationsrate beim Ersteingriff lediglich 2 bis 3 % beträgt, liegt das Risiko einer
einseitigen Stimmbandlähmung beim Rezidiv-Eingriff bei 8 bis 25 % (Gutachten
des Sachverständigen Prof. Dr. C. vom 20.12.2000, Bl. 8, Bl. 133 d.A.).
Zwar ist es im Normalfall ausreichend, wenn dem Patienten eine allgemeine
Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren
vermittelt wird. In der Regel ist es nicht erforderlich, dass ihm genaue
Prozentzahlen über die Möglichkeit der Verwirklichung des Behandlungsrisikos
mitgeteilt werden. Der Patient muss sich aber, um sein Selbstbestimmungsrecht
wirksam ausüben zu können, eine zumindest ungefähre Vorstellung von der
Häufigkeit einer Komplikation machen können (BGH NJW 1992, 2351, 2352
m.w.N.).
Dies ist im Streitfall nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Der
Beklagte zu 1) hat bei seiner Anhörung vor dem Landgericht angegeben, dass er
mit der Erblasserin 2 bis 3 Wochen vor der Operation gesprochen und dabei
deutlich auf die Probleme der Operation hingewiesen habe. Genaueres hat er
hierzu indessen nicht angegeben. Am Abend vor dem Eingriff habe er die Patientin
"gesprächsmäßig" auf die Operation vorbereitet und auch auf die Möglichkeit von
Komplikationen hingewiesen. Er habe darüber aufgeklärt, dass die Situation bei
dem zweiten Eingriff im Hinblick auf eine Recurrensparese deutlich schlechter sei.
Der Beklagte zu 2) hat bei seiner Anhörung angegeben, dass er Frau A. an Hand
des Formulars Bl. 28-31 des Anlagenkonvoluts über die Operationsrisiken
informiert habe. Der Aufklärungsbogen sei zwar für Erstoperationen bestimmt, er
habe die Aufklärung aber für eine Zweitoperation vorgenommen. Dabei habe er
auf die Gefahr einer Verletzung der Stimmbandnerven hingewiesen und auch über
die größere Häufigkeit von Komplikationen beim Zweiteingriff informiert. Hier fragt
sich, ob die Beklagten allein dadurch, dass sie die Patientin auf die größere
Häufigkeit von Stimmbandnervenlähmungen beim Zweiteingriff hingewiesen
haben, das Risiko in seinem ganzen Ausmaß ausreichend dargestellt haben. Bei
einer Komplikationshäufigkeit von bis zu 25 % beim Zweiteingriff gegenüber 2 - 3
% beim Ersteingriff erscheint es notwendig, dem Patienten gegenüber genauere
Angaben über das Ausmaß des Risikos zu machen. Es kommt hinzu, dass der
Beklagte zu 2) Frau A. einen Aufklärungsbogen ausgehändigt hat, der Ersteingriffe
betrifft. Zwar hat der Beklagte zu 2) der Patientin mündlich Informationen über die
Gefahren einer Zweitoperation gegeben, jedoch steht die Darstellung des
Merkblattes mit diesen Hinweisen gerade im Hinblick auf die Risiken von
Recurrensparesen im Widerspruch, denn hier wird eine Schädigung der
Stimmbandnerven nur für seltene Ausnahmefälle angegeben. Zudem heißt es,
dass bleibende Schäden nur selten einen, sehr selten beide Stimmbandnerven
betreffen. Gelegentlich auftretende Heiserkeit, Sprach- und Atemstörungen
bildeten sich meist zurück (Bl. 29 des Anlagenkonvoluts). Diese Diskrepanz in den
Angaben des Beklagten zu 2) und des Aufklärungsbogens war geeignet, bei der
Patientin den Eindruck zu erwecken, dass die von dem aufklärenden Arzt
genannten Risiken tatsächlich keine ernst zu nehmenden Gefahren darstellten.
Das Merkblatt konnte daher eine Verharmlosung der von den Beklagten
genannten Risiken zur Folge gehabt haben (vgl. BGH a.a.O., 2352, 2353). Die
Frage, ob die Aufklärung über die Komplikationsmöglichkeiten des geplanten
Eingriffs ausreichend war, kann indessen letztlich dahingestellt bleiben, denn die
Aufklärung war jedenfalls insoweit mangelhaft, als die Patientin nicht auf
alternative Operationsmethoden hingewiesen wurde. Die Beklagten tragen selbst
vor, dass im Zeitraum des Eingriffs im Jahre 1995 zwei verschiedene
Lehrmeinungen in Wissenschaft und Praxis der Chirurgie zur Vorgehensweise bei
einer Schilddrüsenresektion existierten. Die sogenannte chirurgische Schule
vertritt generell die Auffassung, dass die Stimmbandnerven bei dem Eingriff nicht
freizulegen sind, weil die Gefahr besteht, dass die Recurrensnerven bereits bei
dieser Maßnahme beschädigt werden. Dagegen spricht sich die sogenannte HNO-
Schule dafür aus, die Stimmbandnerven vor der Resektion der Schilddrüse
freizulegen, um Verletzungen der Nerven bei der Resektion zu vermeiden (vgl.
OLG Braunschweig, VersR 2000, 636, 637). Besondere Bedeutung gewinnt dieser
Unterschied bei der Operation des Rezidivstrumas, da das Schilddrüsengewebe
durch die Voroperation vielfach narbig verändert ist, weswegen die Lage der
Recurrensnerven besonders schwer festzustellen ist. Von beiden Lehrmeinungen
hat zwischenzeitlich die HNO-Schule die Oberhand gewonnen, wie aus den im Juli
1998 herausgegebenen Leitlinien zur Therapie der benignen Struma hervorgeht
(von den Beklagten als Anlage BB1 zur Berufungsbegründung vom 9.8.2001
vorgelegt, Bl. 217-232 d.A.). Dort wird unter Ziffer 8 die schonende, d.h. nicht
vorgelegt, Bl. 217-232 d.A.). Dort wird unter Ziffer 8 die schonende, d.h. nicht
skelettierende, nervendurchblutungserhaltende, präparative Darstellung des
Nervus recurrens empfohlen, weil sie das Schädigungsrisiko mindert. Dies soll
auch für alle Wiederholungseingriffe gelten (Bl. 227 d.A.). Die Darstellung des
Nervus recurrens stellt indessen nicht den einzigen Unterschied der beiden
Lehrmeinungen dar. Vielmehr hat der Sachverständige Prof. Dr. C. in seinem
Gutachten vom 20.12.2000 im einzelnen dargelegt, dass der Operateur bei der
Rezidiv- Strumektomie zur Sicherheit des Patienten ein Operationsverfahren
wählen müsse, bei welchem nur eine einseitige Lappenentfernung auf der stärker
krankhaft veränderten Seite vorgenommen werde. Dabei müsse bewusst in Kauf
genommen werden, dass auf der Gegenseite zumindest teilweise krankhafte
Veränderungen belassen würden. Dieses etablierte Vorgehen rechtfertige sich aus
der Nutzen-Risikoabwägung, weil die schwerste Komplikation der
Schilddrüsenoperation - die beidseitige Stimmbandnervenlähmung - hierdurch
grundsätzlich ausgeschlossen werde. Eine weitere operative Möglichkeit sei es, auf
der Gegenseite lediglich oberflächlich gelegene knotige Veränderungen
herauszuschälen (enukleieren), ohne in die Nähe der Stimmbandnerven zu
gelangen. Auch hier müsse man bewusst krankhafte Areale auf einer Lappenseite
zurücklassen. Der die Luftröhre überspannende und im Zustand der krankhaften
Vergrößerung sie beengende sogenannte Schilddrüsenisthmus werde auf jeden
Fall mit entfernt (Bl. 15-17 des Gutachtens, Bl. 140-142 d.A.). Bei seiner
mündlichen Anhörung vor dem Senat am 28.11.2002 hat der Sachverständige
ergänzend ausgeführt, je nach dem Ergebnis der ersten Rezidiv- Strumaoperation
könne einige Tage später eine Zweitoperation folgen. Demgegenüber vertritt die
chirurgische Schule die Auffassung, wenn die Schilddrüse des Patienten auf beiden
Seiten krankhafte, möglicherweise bösartige Veränderungen aufweise, sei auch
beidseitig, und zwar ohne Darstellung der Recurrensnerven - wie oben dargelegt -
zu operieren. Allerdings müsse der Eingriff subtotal erfolgen. Zwar hat auch im
Hinblick auf diese Streitfrage zwischenzeitlich die HNO-Schule an Boden
gewonnen, wie den bereits zitierten Leitlinien zur Therapie der benignen Struma
von 1998 zu entnehmen ist. Dort heißt es unter Ziffer 6: "Rezidiv-Struma" : Die
Operationsstrategie ist auf die Beseitigung des dominanten Befundes und die
Erhaltung der Recurrens- und Nebenschilddrüsenfunktion auszurichten. In der
Regel sollte die befunddominante Seite als erste angegangen werden und bei
gegebener Indikation im gleichen Eingriff eine kontralaterale Resektion nur dann
erfolgen, wenn von einer sicheren Recurrensschonung auf der erstoperierten Seite
ausgegangen werden kann. Im Zweifelsfall wird, wenn erforderlich, ein zweizeitiges
Vorgehen empfohlen. Jedoch muss für den Zeitpunkt der streitgegenständlichen
Operation im Jahre 1995 davon ausgegangen werden, dass beide Lehrmeinungen
gleichwertig nebeneinander standen, so dass dem Beklagten nicht zum Vorwurf
gemacht werden kann, dass sie nach den Empfehlungen der chirurgischen Schule
vorgingen. Allerdings muss in solchen Fällen vom behandelnden Arzt gefordert
werden, dass er seine Patienten über alternative Vorgehensweisen informiert und
ihn dadurch instandsetzt, die Risiken der unterschiedlichen Methoden abzuwägen
und sich eigenständig für eine der selben zu entscheiden. Dies hat jedenfalls dann
zu gelten, wenn die verschiedenen Verfahren hinsichtlich ihrer Risiken so
gravierende Unterschiede aufweisen wie hier. Hätte man die Mutter der Klägerin
zunächst nur auf derjenigen Seite der Schilddrüse operiert, wo sich der -
möglicherweise bösartige - kalte Knoten befand, und hätte man nach dem Eingriff
festgestellt, dass der Nervus recurrens beschädigt ist, hätte man auf die Resektion
auf der anderen Seite verzichten können. Der Patientin wären die
Atemnotzustände erspart geblieben, die nur bei beidseitiger Verletzung der
Nerven auftreten, bei einseitiger Verletzung dagegen nicht. Nach Auffassung des
Sachverständigen Prof. Dr. C. war das Risiko einer erneuten Struma bei der
Patientin nicht so groß, dass die Radikalität der durchgeführten Operation hätte in
Kauf genommen werden müssen. Die Beklagten haben selbst nicht behauptet,
dass sie Frau A. die verschiedenen Vorgehensweisen bei einer Rezidiv-
Strumektomie dargestellt haben. Ihren eigenen Ausführungen bei ihrer
mündlichen Anhörung vor dem Landgericht ist dies ebenfalls nicht zu entnehmen.
Bei den gravierenden Unterschieden beider Operationsmethoden wäre dies aber
notwendig gewesen, damit die Patientin ihr Selbstbestimmungsrecht, das auch in
der autonomen Entscheidung über die Art und Weise einer Operation besteht,
hätte ausüben können. Ein Behandlungsfehler ist den Beklagten dagegen nicht zur
Last zu legen, denn sie haben sich, wie oben im einzelnen dargelegt, nach den
Vorgaben der chirurgischen Schule gerichtet, die im Zeitpunkt der Operation
gleichberechtigt neben der HNO-Schule stand. Zwar hat der Sachverständige Prof.
Dr. C. die Wahl und Durchführung einer radikalen, subtotalen und beidseitigen
Lappenresektion ohne Stimmbandnervendarstellung als grob fehlerhaft
bezeichnet (Bl. 15 seines Gutachtens, Bl. 140, 141 d.A.), der Sachverständige Prof.
bezeichnet (Bl. 15 seines Gutachtens, Bl. 140, 141 d.A.), der Sachverständige Prof.
Dr. E. hat die Vorgehensweise der Beklagten dagegen jedoch als nicht fehlerhaft
eingestuft. Angesichts der pathologischen Veränderungen bei der Patientin sei es
auch nicht zu verantworten gewesen, eine Schilddrüsenhälfte zu belassen (Bl. 2
des Gutachtens, Bl. 307 d.A.). Eine Darstellung des Nervus recurrens hat der
Sachverständige Prof. Dr. E. ebenso wie dessen Dokumentation im
Operationsbericht nicht für erforderlich gehalten. Im Zeitpunkt des Eingriffs habe
man noch nicht so strenge Maßstäbe angelegt (Bl. 3 und 4 seines Gutachtens, Bl.
308, 309 d.A.). Da sie ein jedenfalls damals übliches Operationsverfahren
angewandt haben, kann den Beklagten ein fehlerhaftes Verhalten hinsichtlich der
Operationsmethode nicht zum Vorwurf gemacht werden. Im übrigen stellen beide
Sachverständigen fest, dass aus dem Operationsprotokoll eine subtotale
Resektion hervorgeht (mündliche Anhörung vom 28.11.2002, Prof. Dr. E. Bl. 355
d.A., Prof. Dr. C. Bl. 356 d.A.). Es kann daher auch von einer radikalen Entfernung
der Schilddrüse nicht gesprochen werden. Folglich ist auch insofern ein Fehler zu
verneinen. Die Ursächlichkeit der mangelhaften Aufklärung für die bei der Mutter
der Klägerin bereits unmittelbar nach der Operation aufgetretenen schweren
Folgen liegt vor. Die Klägerin hat vorgetragen, dass ihre Mutter bei richtiger und
vollständiger Aufklärung den Eingriff nicht hätte durchführen lassen.
Demgegenüber haben die Beklagten nicht behauptet, die Patientin hätte sich auch
bei ordnungsgemäßer Information über alle wesentlichen Umstände zu dem
Eingriff entschlossen. Es wäre aber ihre Sache gewesen, dies im einzelnen
darzulegen und unter Beweis zu stellen. Demnach ist der Entscheidung zugrunde
zu legen, dass die Erblasserin sich bei verständlicher Erläuterung der
verschiedenen Operationsmethoden und deren Risiken nicht für eine beidseitige
Resektion entschieden hätte. Da die Folgen des Eingriffs - Stimmverlust,
beidseitige Recurrensparese, Atemnot bis zu Erstickungsanfällen, starke
Verschleimung - bereits unmittelbar nach dem Eingriff auftraten, ist klar, dass die
ohne wirksame Zustimmung durchgeführte Operation ursächlich für diese
Beschwerden war. Der Sachverständige Prof. Dr. C. stellt in seinem Gutachten
fest, dass die von der Klägerin geschilderten Operationsfolgen sämtlich glaubhaft
seien (Bl. 17 des Gutachtens, Bl. 142 d.A.). Er führt aus, die eingetretenen
Komplikationen und der jahrelange Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod
seien Folgen des von ihm angenommenen falschen operationstaktischen
Vorgehens der Beklagten (a.a.O.). Der Sachverständige Prof. Dr. E. hat zwar in
seinem Gutachten vom 4.7.2002 die Operationsfolgen nicht als Todesursache im
engeren Sinne angesehen (Bl. 5 des Gutachtens, Bl. 310 d.A.). Er hat aber bereits
an dieser Stelle einen mitursächlichen Zusammenhang nicht ausgeschlossen. Bei
seiner mündlichen Anhörung am 28.11.2002 hat der Sachverständige klar gestellt,
dass er zwar keine Alleinursächlichkeit, aber eine Mitursächlichkeit der
Operationsfolgen für den Tod der Mutter der Klägerin annimmt. Bei der
Bemessung des Schmerzensgeldes ist dies ebenso zu berücksichtigen, wie die
Tatsache, dass Frau A. seit der Operation am 9.8.1995 auf Grund dieses Eingriffes
an Stimmverlust, Atemnot bis hin zu Erstickungsanfällen, starker Verschleimung
des Bronchialsystems und der Luftröhrenöffnung litt. Diese Beschwerden dauerten
bis zu ihrem Tod am 9.7.1999 an. Die Erblasserin musste sich außerdem sieben
Nachoperationen unterziehen, u.a. einer Tracheotomie, wobei sie längere Zeit eine
Trachealkanüle tragen musste. Schließlich waren die geschilderten schweren
Beeinträchtigungen zumindest mitursächlich für den im Alter von 75 Jahren
eingetretenen Tod der Patientin. Andererseits ist bei der Bestimmung der Höhe
des Schmerzensgeldes zu beachten, dass den Beklagten kein Behandlungsfehler
zur Last gelegt wird. Allerdings ist das hier gegebene Fehlverhalten - das
Verschweigen alternativer Operationsmethoden - im Streitfall gerade deswegen
von erheblicher Bedeutung, weil davon auszugehen ist, dass die Erblasserin bei
gehöriger Aufklärung über die verschiedenen Vorgehensweisen die Operation nicht
hätte durchführen lassen und die schwerwiegenden Operationsfolgen nicht
eingetreten wären. Zwar hätte sie dann die Beeinträchtigungen, an denen sie vor
der Operation litt, weiter in Kauf nehmen müssen. Da es sich jedoch bei den
Operationsfolgen um ganz schwerwiegende, existentielle Beeinträchtigungen
handelte, die mit den vorhergehenden Beschwerden nicht vergleichbar sind, hält
der Senat ein nicht unerhebliches Schmerzendgeld für angemessen. Bei
Abwägung aller Umstände erscheint auch bei Vorliegen lediglich eines
Aufklärungsfehlers das vom Landgericht für angemessen gehaltene
Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,-- DM = 51.129,19 € gerechtfertigt.
Daneben haben die Beklagten der Klägerin den materiellen Schaden zu ersetzen,
welcher der Erblasserin durch den Eingriff entstanden ist. Hinsichtlich der Höhe
dieses Schadens ist der Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif. Er ist
insoweit zur weiteren Aufklärung in die erste Instanz zurückzuverweisen.
16 Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Das Urteil ist gemäß §§ 708
Nr. 10, 709 Abs. 1 S. 2, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar. Die Voraussetzungen für
eine Zulassung der Revision (§ 543 ZPO n.F.) liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.