Urteil des OLG Frankfurt vom 14.06.2010

OLG Frankfurt: wiedereinsetzung in den vorigen stand, gefahr im verzuge, fehlende rechtsmittelbelehrung, genetischer fingerabdruck, beschwerdefrist, normenkontrolle, straftat, analyse, versprechen

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Gericht:
OLG Frankfurt 20.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
20 W 132/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 100 Abs 1 GG, § 19 Abs 3
SOG HE
Polizeiliche Gefahrenabwehr: Gerichtliche
Verwerfungskompetenz bei verfassungsrechtlichen
Bedenken gegen ein hessisches Landesgesetz;
Anwendungsvoraussetzungen für die
Speichelprobenentnahme zur DNA-Analyse bei
Strafunmündigkeit
Leitsatz
1. Dem Amtsgericht kommt hinsichtlich der Frage, ob ein Landesgesetz
verfassungsgemäß ist, keine eigene Verwerfungskompetenz zu.
2. Die Entnahme einer Speichelprobe zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters
bei einem strafunmündigen Kind setzt jedenfalls voraus, dass staatliche
Hilfsmaßnahmen, die weniger in die Rechte des betroffenen Kindes eingreifen, keinen
hinreichenden Erfolg versprechen.
Tenor
Dem Antragsteller wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Beschwerdefrist bewilligt.
Auf die Beschwerde wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Sache
zur weiteren Prüfung und Entscheidung an das Amtsgericht Offenbach
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Antragsteller hat unter dem 26.10.2009 beantragt, hinsichtlich der damals
noch 11-jährigen Betroffenen zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters bei
der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren eine Körperzellenentnahme
(Speichelprobe) anzuordnen. Er hat vorgetragen, das Kind sei Mitglied einer
Bande, die im Familienverbund Straftaten (u. a. Wohnungseinbrüche,
Trickdiebstahl) begehe. Die Betroffene sei aus kriminalpolizeilicher Sicht bisher in
26 Fällen, erstmals 2006 in Erscheinung getreten. Sie lebe in einem kriminellen
Umfeld. Vater, Mutter und Geschwister seien bereits straffällig geworden. Dem
Antrag war ein umfangreiches Strafurteil, das u.a. die Mutter des betroffenen
Kindes betraf, beigefügt. Diesen Antrag hat das Amtsgericht durch Beschluss vom
14.01.2010 nach Anhörung der Mutter, die sich nicht gemeldet hat, abgelehnt.
Das Amtsgericht hat es dahingestellt sein lassen, ob die vom Antragsteller für die
Betroffene erstellte Sozialprognose es wahrscheinlich erscheinen lässt, dass die
Betroffene auch zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begeht oder
solche, die in ihrer Summe einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichstehen.
Es hat die Ablehnung unter Hinweis auf § 81g StPO damit begründet, dass
erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsnorm des § 19
Abs. 3 HSOG bestünden, weil im Rahmen der Erforschung und Aufklärung von
Straftaten die Normen der Strafprozessordnung eine abschließende Regelung
enthielten. Damit falle dieser Sachbereich nicht in die Zuständigkeit der
Landesgesetzgebung.
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Landesgesetzgebung.
Gegen diesen dem Antragsteller ohne Rechtsmittelbelehrung übersandten
Beschluss hat der Antragsteller durch einen am 19.03.2010 beim Amtsgericht
eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt und die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist beantragt. Das
Amtsgericht hat daraufhin durch Verfügung vom 12.04.2010 die Akten dem
Oberlandesgericht zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag mit dem
weiteren Bemerken vorgelegt, dass im Fall der Wiedereinsetzung beabsichtigt sei,
der Beschwerde abzuhelfen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht nach
Art.100 Abs. 1 GG zur Prüfung im Weg der konkreten Normenkontrolle vorzulegen.
Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller verdeutlicht, weshalb es zur
Fristversäumung gekommen sei, die durch die Rechtsmittelbelehrung hätte
vermieden werden können. Der Senat hat daraufhin die Mutter des betroffenen
Kindes angeschrieben und ihr mitgeteilt, dass er dazu neige dem
Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben und hat ihr Gelegenheit gegeben, sich zur
Beschwerde zu äußern. Die Mutter hat sich aber nicht geäußert. Der Senat hat
außerdem darauf hingewiesen, dass die Frage, ob die Gefahr besteht, dass das
betroffene Kind weiter Straftaten i. S. v. von § 19 Abs. 3 HSOG begeht, auf keinen
Fall dahingestellt bleiben kann, selbst wenn man von der Verfassungswidrigkeit
ausgehen wollte. Der Antragsteller hat daraufhin weitere Ausführungen zur
sozialen Situation des betroffenen Kindes gemacht und beantragt, die beantragte
Maßnahme zu genehmigen oder die Sache an das Amtsgericht Offenbach
zurückzugeben.
II.
Dem Wiedereinsetzungsantrag des Antragstellers war stattzugeben (§ 17 FamFG).
Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er die Beschwerdefrist von einem
Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG), die durch das seit dem 01.09.2009 in Kraft getretene
FamFG eingeführt worden ist, unverschuldet versäumt hat. Der angefochtene
Beschluss hat entgegen § 39 FamFG keine Rechtsmittelbelehrung enthalten. Die
fehlende Rechtsmittelbelehrung hat zur Folge, dass das Fehlen des Verschuldens
vermutet wird (§ 17 Abs. 2 FamFG) mit der weiteren Folge, dass Wiedereinsetzung
gegen die Versäumung der Beschwerdefrist bewilligt werden kann, sofern die
übrigen Voraussetzungen für einen Antrag auf Wiedereinsetzung nach § 18 FamFG
vorliegen. Diese Vorschrift ist zwar nur zum Schutz des Bürgers in das FamFG
aufgenommen worden. So heißt es in der Gesetzesbegründung ausdrücklich, dass
eine Wiedereinsetzung in denjenigen Fällen ausgeschlossen sei, in denen der
Beteiligte wegen vorhandener Kenntnis über seine Rechtsmittel keiner
Unterstützung durch eine Rechtsmittelbelehrung bedarf (BT-Drucks. 16/ 6308, S.
183). Eine solche Kenntnis hat in der Übergangsphase zum neuen FamFG beim
Antragsteller aber noch nicht vorgelegen, wie der Antragsteller unter Darstellung
der dortigen Informationslage nachvollziehbar dargelegt hat. Sobald er die
Kenntnis erlangt hatte, hat er die Beschwerde einschließlich des
Wiedereinsetzungsantrags innerhalb von zwei Wochen fristgerecht nachgeholt.
Danach ist die Beschwerde des Antragstellers zulässig. Sie führt entsprechend
dem Antrag des Antragstellers zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache
an das Amtsgericht, da dieses zu Unrecht die beantragte Maßnahme wegen
Verfassungswidrigkeit der Ermächtigungsnorm abgelehnt und bislang keine
Sachaufklärung betrieben hat, umfängliche Ermittlungen aber erforderlich sind (§§
69 Abs. 1, 26 FamFG). Das Amtsgericht wird bei seiner weiteren Prüfung und
Entscheidung die Rechtsauffassung des Senats zu beachten haben.
Nach § 19 Abs. 3 HSOG können die Polizeibehörden zu Zwecken der
vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten Körperzellen entnehmen, wenn eine
noch nicht vierzehn Jahre alte Person verdächtig ist, eine Straftat mit erheblicher
Bedeutung begangen zu haben und wegen der Art oder Ausführung der Tat die
Gefahr besteht, dass sie künftig eine Straftat mit erheblicher Bedeutung begehen
wird. Die Vorschrift sieht weiter vor, dass für das Verfahren § 36 Abs. 5 S. 2 bis 5
HSOG entsprechend gilt. Dies bedeutet, dass die Maßnahme außer bei Gefahr im
Verzuge der richterlichen Anordnung bedarf, dafür das Amtsgericht am Sitz der
Polizeibehörde zuständig ist und sich das Verfahren nach dem FamFG richtet
(Verweisung in § 36 Abs. 5 HSOG auf § 39 Abs. 1 HSOG).
Gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm sind Zweifel erhoben worden (LG
Darmstadt, Beschluss vom 10.04.2008, 5 T 88/08, zitiert nach juris; Hornmann,
HSOG, 2. Aufl.2008, § 19 Rn 55). Einer abschließenden Auseinandersetzung mit
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HSOG, 2. Aufl.2008, § 19 Rn 55). Einer abschließenden Auseinandersetzung mit
den Zweifeln bedarf es für diese Entscheidung nicht. Die vom Amtsgericht
erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken rechtfertigen die Ablehnung des
Antrags des Antragstellers durch das Amtsgericht jedenfalls nicht. Wenn ein
Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für
verfassungswidrig hält, so kann es die Verfassungswidrigkeit nicht feststellen und
das Gesetz nicht anwenden, sondern es hat nach Art. 100 Abs. 1 GG das
Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines
Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen
Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes
handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.
Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes durch
Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem
Bundesgesetze handelt.
Der Weg für eine Richtervorlage ist vorliegend aber entgegen der Annahme des
Amtsgerichts nicht umstandslos frei. Zur Zulässigkeit einer Richtervorlage an das
Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG gehört nämlich nach der
ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wegen der von
Verfassungs wegen zu beachtenden Unterschiede zur abstrakten Normenkontrolle
(Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG) die sorgfältige Prüfung der Entscheidungserheblichkeit
der Vorschriften sowie ihrer Verfassungsmäßigkeit durch das vorlegende Gericht,
wobei es zudem zur Darlegung der Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
der Norm einer eingehenden, Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehenden
Darstellung der Rechtslage bedarf. Der Vorlagebeschluss muss danach mit
hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht im Falle
der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis
kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie das Gericht dieses Ergebnis
begründen würde (vgl. § 80 BVerfGG, (BVerfG, Beschluss vom 14.10.2009, Az. 2
BvL 13/08 u. a., zitiert nach juris m.w.N.; BVerfGE 97, 49 ff).
Das Amtsgericht wird deswegen in jedem Fall zunächst zu prüfen haben, ob
vorliegend die Anwendungsvoraussetzungen des § 19 Abs. 3 HSOG vorliegen, das
heißt, ob nach der Sozialprognose des betroffenen Kindes die Entnahme der
Speichelprobe zur DNA-Analyse im Allgemeininteresse auch unter
Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich ist.
Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung des DNA-
Identifizierungsmusters greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 GG i. V. Art 1 Abs. 1 GG
verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht
gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis
des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher
Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden und gewährt seinen
Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder
Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren
Daten. Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit
und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder
aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht
weiter gehen als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist (BVerGE
103, 21 ff).
Bei der verfassungskonformen Beurteilung der Erforderlichkeit in § 19 Abs. 3 HSOG
wird das Amtsgericht diesen Rahmen bei der anzustellenden Interessenabwägung
zwischen Individualinteresse und Allgemeininteresse zu beachten haben. Ein
Aspekt der Erforderlichkeit ist deshalb auch, ob der Staat durch den Einsatz
anderer Mittel, insbesondere Mittel zum Schutz und zur Förderung der Entwicklung
des Kindes, die Möglichkeit hat, dem betroffenen Kind den Weg in ein straffreies
Leben zu weisen. Zu den tatsächlichen Verhältnissen hat das Amtsgericht bisher
keinerlei Feststellungen getroffen. Die bisherigen Ausführungen des Antragstellers,
die dieser im Hinblick auf die in der Verfügung der Senatsvorsitzenden vom
06.05.2010 zur Betreuung des betroffenen Kindes nachgereicht hat, sind nicht
ausreichend, um dessen persönliche Situation, die etwa von ihm (noch)
ausgehende Gefahr und die bisherigen Versuche staatlicher Stellen, dem
betroffenen Kind Hilfe für ein straffreies Leben zukommen zu lassen, beurteilen zu
können. Es ist unklar, warum nur die Mutter als gesetzliche Vertreterin angesehen
worden ist. Es ist noch nicht einmal geklärt, was mit dem Kind angesichts der
Verurteilung der Mutter zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung wohl derzeit
wegen Haftunfähigkeit aufgeschoben ist, wird und welche Einsichtsfähigkeit es hat.
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wegen Haftunfähigkeit aufgeschoben ist, wird und welche Einsichtsfähigkeit es hat.
Ungeklärt ist auch, ob der Umstand, dass sich der Kindesvater inzwischen im
Strafvollzug befindet, nicht zu einer besseren Sozialprognose für das betroffene
Kind führt, da vom Vater nach dem Inhalt des Strafurteils die erheblich größere
kriminelle Energie ausgegangen sein dürfte. Letztlich wird eine Einschätzung des
betroffenen Kindes nur unter Einbeziehung der Erfahrungen des Jugendamts und
dessen Aktivitäten möglich sein. Bevor das Amtsgericht das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 19 Abs. 3 HSOG bejahen kann, wird es zudem
unausweichlich sein, dass sich das Amtsgericht einen persönlichen Eindruck von
dem betroffenen Kind verschafft, auch um festzustellen, was die Entnahme der
Speichelprobe für das Kind und seine Entwicklung bedeuten würde. Dabei wird
auch zu bedenken sein, dass die beantragte erkennungsdienstliche Maßnahme
eine (weitere) Stigmatisierung des Mädchens bedeutet und das Mädchen nach
Durchführung der Maßnahme einem Generalverdacht ausgesetzt ist, sobald sich
sein genetischer Fingerabdruck, aus welchen Gründen auch immer, an einem
Tatort befindet. Nur wenn staatliche Hilfsmaßnahmen, die weniger in die Rechte
des betroffenen Kindes eingreifen, keinen hinreichenden Erfolg versprechen, dürfte
nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Erforderlichkeit der beantragten
erkennungsdienstliche Maßnahme bejaht werden können und erst dann kann es
darauf ankommen, ob das Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle
anzurufen ist.
Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen
Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind (§ 70 FamFG). Weder hat die Sache
derzeit grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Rechtsbeschwerdegerichts. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht gegeben
(Keidel/ Meyer-Holz, FamFG, 16. Aufl. 2009, § 70 Rn 41).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.