Urteil des OLG Frankfurt vom 24.06.2010

OLG Frankfurt: sicherungsverwahrung, egmr, gerichtshof für menschenrechte, vorrang des gesetzes, rechtskräftiges urteil, unterbringung, rückwirkungsverbot, verfassungsrecht, vollstreckung, entlassung

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 485/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 2 StGB , § 66 StGB, §
67d StGB, § 5 Abs 1 MRK, § 7
Abs 1 MRK
Unzulässigkeit weiterer Sicherungsverwahrung
Orientierungssatz
1. Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes
bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt (§ 2
Abs. 2 StGB). "Gesetz" in diesem Sinne ist auch die Menschenrechtskonvention (MRK)
in der Auslegung durch den EGMR.
2. Die Sicherungsverwahrung ist nach der MRK ebenso zu behandeln wie eine Strafe
(EGMR vom 17.12.2009, NStZ 2010, 263 ff.). Die MRK verbietet es, eine höhere Strafe
zu verhängen als diejenige, die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung
angedroht war. Die Dauer der Sicherungsverwahung darf also ebenso wenig
nachträglich verlängert werden wie die Dauer der Freiheitsstrafe.
Tenor
Die Beschwerde wird verworfen.
Der Untergebrachte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen, wobei die
Anordnung der Entlassung der Vollstreckungsbehörde obliegt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Untergebrachten insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Am 17.08.1986 hatte das Landgericht Marburg den Untergebrachten wegen einer
am … 1985 begangenen Tat des versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub
schuldig gesprochen, ihn zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt und seine
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 I StGB angeordnet.
Der Verurteilte befindet sich nach voller Verbüßung der genannten Freiheitsstrafe
seit dem 18.08.1991 im Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.
Die nach Tatzeitrecht gemäß § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB a. F. gültige Zehnjahresfrist
für die Unterbringung war spätestens am 08.09.2001 erreicht.
Mit Beschluss vom 10.04.2000 setzte die Strafvollstreckungskammer die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht zur Bewährung aus. Die
Beschwerde des Untergebrachten beim Oberlandesgericht und seine
Verfassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg (BVerfG, Beschluss vom 05.02.2004 –
2 BvR 2029/01 – Juris).
Auf die Individualbeschwerde des Untergebrachten stellte der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) durch inzwischen rechtskräftiges Urteil
vom 17.12.2009 eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 MRK sowie eine Verletzung von
Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK durch die Freiheitsentziehung des Untergebrachten über
den 08.09.2001 hinaus fest.
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Nach Eintritt der Rechtskraft dieser Entscheidung beantragte der Untergebrachte
mit Telefaxschreiben vom 11.05.2010, die Vollstreckung der Maßregel „zu
beenden, weil sie unzulässig geworden“ sei.
Mit Beschluss vom 17.05.2010 erklärte die Strafvollstreckungskammer die weitere
Vollstreckung der Sicherungsverwahrung für unzulässig.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige
Beschwerde der Staatsanwaltschaft Marburg.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
Zu Recht hat die Kammer die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung
gem. § 458 I StPO für unzulässig erklärt.
1. Gem. § 2 Abs. 6 StGB i. V. m. Art. 7 Abs. 1 S. 2 MRK ist für die gegen den
Untergebrachten angeordnete Sicherungsverwahrung nicht § 67 d Abs. 3 S. 1
StGB n. F., sondern die zur Tatzeit geltende Regelung des § 67 d Abs. 1 S. 1 StGB
a. F. anzuwenden.
Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 17.12.2009 die Sicherungsverwahrung –
ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als Maßregel der Sicherung und
Besserung - als Strafe i. S. v. Art. 7 Abs. 1 MRK qualifiziert. Im Wegfall der
Höchstfrist sieht er eine konventionswidrige Rückwirkung, da der zur Tatzeit
geltende § 67 d Abs. 1 StGB eine Höchstfrist von 10 Jahren für die erstmalig
angeordnete Sicherungsverwahrung vorsah (EGMR, NStZ 2010, 263 ff).
Strafvollstreckungskammer und Senat sind zur Berücksichtigung dieses Urteils
des EGMR, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, verpflichtet,
wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand zu
befinden haben (vgl. BVerfG, NJW 2004, 3407 ff.) Dies ist hier auf Grund des
gestellten Antrags nach § 458 Abs. 1 StPO der Fall. Bei der erneuten Befassung
besteht die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung der anzuwendenden
innerstaatlichen Vorschriften den Vorrang zu gewähren, wenn diese nicht eindeutig
dem – ranggleichen – Gesetzesrecht des Bundes oder Verfassungsrecht -
namentlich den Grundrechten Dritter - widerspricht (BVerfG, NJW 2004, 3407,
3411).
§ 2 Abs. 6 StGB ermöglicht eine derartige Berücksichtigung des Urteils des EGMR.
Nach § 2 Abs. 6 StGB ist zwar über Maßregeln der Sicherung und Besserung
grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung
gilt, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Art. 7 Abs. 1 MRK in der
nunmehrigen Auslegung durch den EGMR ist aber eine andere gesetzliche
Bestimmung i. S. von § 2 Abs. 6 StGB (vgl. BGH, Beschl. v. 12.05.2010 – 4 StR
577/09, Rn 14 ff. – Juris; Grabenwarter, Rechtsgutachten zu den Rechtsfolgen des
Urteils des EGMR vom 17.12.2009 [Nr. 19359/04] v. 15.01.2010 [unv.], S. 45).Die
Konvention gilt innerstaatlich als Bundesrecht. Entscheidungen des EGMR haben
zwar keine Gesetzeswirkung, Inhalt und aktueller Entwicklungsstand seiner
Rechtsprechung bestimmen aber den Gehalt der (einfach-gesetzlichen)
Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 MRK (BGH, a. a. O. Rn 16; Grabenwarter, S. 27). Das
Bundesverfassungsgericht formuliert demzufolge auch ausdrücklich, dass die
„MRK – – im Range des Bundesgesetzes gilt“
und deshalb „in den Vorrang des Gesetzes einbezogen“ ist und insoweit von der
rechtsprechenden Gewalt beachtet werden“ muss (NJW 2004, 3407 [3410]).
Da der EGMR aber im vorliegenden Fall ausgesprochen hat, dass § 67 d Abs. 3 S. 1
StGB nicht rückwirkend angewandt werden darf, weil die Sicherungsverwahrung
gegen den Untergebrachten faktisch wie eine Strafe vollzogen wird, ist § 2 Abs. 6
StGB dahin auszulegen, dass statt dessen die zur Tatzeit geltende Vorschrift des §
67 d Abs. 1 S. 1 a. F. StGB gilt, der gemäß die erste Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre begrenzt ist.
Methodische Bedenken stehen dieser Auslegung nicht entgegen. Insbesondere ist
der Senat an ihr – entgegen der Ansicht der Oberlandesgerichte Celle (Beschl. v.
25.05.2010 – 2 Ws 169 - 170/10), Stuttgart (Beschl. v. 01.06.2010 – 1 Ws 57/10)
und Koblenz (Beschl. v. 07.06.2010 – 1 Ws 108/10) durch Art. 1 a EGStGB i. d. F.
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und Koblenz (Beschl. v. 07.06.2010 – 1 Ws 108/10) durch Art. 1 a EGStGB i. d. F.
des Gesetzes vom 26.01.1998 nicht gehindert. Zwar ist in Abs. 3 dieser Vorschrift
ausdrücklich festgelegt, dass § 67 d i. d. F. dieses Gesetzes
Anwendungfinden soll. Der Gesetzgeber hat damit diese Vorschrift bewusst
uneingeschränkt mit Rückwirkung in Kraft gesetzt (BT 13/9062 S. 12). Der
Gesetzgeber hat sich von der Vorstellung leiten lassen, dass die Neuregelung
nicht die Anordnung der Sicherungsverwahrung, sondern lediglich deren Dauer
betreffe, weshalb von Verfassungs wegen an den Rückwirkungsschutz geringere
Anforderungen zu stellen seien.
Dies bedeutet indes nicht, dass der Gesetzgeber auch ausschließen wollte, dass
eine den Anforderungen der MRK in der Ausprägung durch die Rechtsprechung des
EMRG entsprechende Auslegung der Vorbehalts in § 2 Abs. 6 StGB durch die
Gerichte praktiziert wird (vgl. Grabenwarter, S. 45).
Zudem wurde Art. 1 a EGStGB mit der darin enthaltenen Differenzierung durch
das Gesetz vom 23.07.2004 ersatzlos gestrichen. Die Vorschriften erschienen
dem Gesetzgeber im Lichte der Entscheidungen des BVerfG vom 05.02.2004 (also
in vorliegender Sache) und vom 10.02.2004 (zu den landesrechtlich geregelten
Straftäterunterbringungsgesetzen) verzichtbar. Zwar hat der Gesetzgeber damit
an seinem Willen zur Rückwirkung des § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB n. F. festgehalten,
aber gleichzeitig deutlich gemacht, dass er diesen einer anders lautenden
verfassungsgerichtlichen Entscheidung angepasst hätte. Es erscheint vor diesem
Hintergrund ausgeschlossen, dass er sich demgegenüber einer Klärung durch den
EGMR verschließen und damit dauerhaft konventionswidrig verhalten wollte.
Der vorgenommene Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB steht auch die
Bindungswirkung des Urteils des BVerfG vom 05.02.2004 in vorliegender Sache
nicht entgegen. Bei der Frage, ob entsprechend dem Gesetzesvorbehalt in § 2
Abs. 6 StGB für eine Maßregel der Besserung und Sicherung in Abweichung vom
Grundsatz der Geltung des Rechts des Entscheidungszeitpunktes das günstigere
Tatzeitrecht gilt, handelt es sich um eine Frage des einfachen Rechts. Der
Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, dass nach deutschem
Verfassungsrecht die Sicherungsverwahrung nicht dem Rückwirkungsverbot
unterfällt, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Einfaches Recht hat zwar die
Vorgaben des Grundgesetzes zu wahren, es kann aber im über die dort
festgelegten Mindestanforderungen hinausgehen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.05.2010
a. a. O. Rn 18).
Die vorgenommen Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB ist schließlich auch mit der
Rechtsprechung des BVerfG vereinbar. Das BVerfG hat zwar in seiner
Entscheidung in vorliegender Sache ausdrücklich festgehalten, dass der Staat die
Aufgabe hat, die Grundrechte potentieller Opfer vor der Verletzung durch
potentielle Straftäter zu schützen und dass sich seine Schutzpflicht umso
intensiver ausgestaltet, je mehr sich die Gefährlichkeit der potentiellen Täter
konkretisiert und individualisiert und je stärker die Gefährdung elementare
Lebensbereiche betrifft (Beschl. v. 05.05.2004 – 2 BVR 2029/01 –Juris Rn 185).
Dieser Schutzpflicht kommt auch Verfassungsrang zu.
Hieraus ist aber entgegen der Auffassung der Oberlandesgerichte Celle (Beschl. v.
25.05.2010 – 2 Ws 169 - 170/10), Stuttgart ( Beschl. v. 01.06.2010 – 1 Ws 57/10)
und Koblenz (Beschl. v. 07.06.2010 – 1 Ws 108/10) nicht der Schluss zu ziehen,
diese Schutzpflicht müsse in eine „Abwägung“ mit dem gegenläufigen
Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten und dem grundrechtsgleichen
Rückwirkungsverbot mit einbezogen werden und erst Recht nicht, dass dieser
Schutzpflicht der Vorrang zukommen müsse.
Das vom BVerfG in Sachen X aufgeworfene Problem, dass ein Grundrechtsträger
am Verfahren vor dem EGMR nicht beteiligt ist (NJW 2004, 3407 [3410]) und
deshalb als Verfahrenssubjekt nicht in Erscheinung treten und seine Rechte
geltend machen konnte, stellt sich hier nicht. Denn Träger der staatlichen
Schutzpflicht ist die Bundesrepublik und diese war Verfahrensgegner im Verfahren
vor dem EGMR.
Die Rückwirkung des § 67 d Abs. 3 S. 1 n. F. StGB war zur Erfüllung der staatlichen
Schutzpflicht verfassungsrechtlich nicht geboten, d.h. die darin erfolgte Aufhebung
der Zehnjahreshöchstfrist zum Schutz der potentiellen Opfer nicht unabdingbar.
Ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der früheren gesetzlichen
Regelung des § 67 Abs. 1 S. 1 StGB a. F., welche die erste Sicherungsverwahrung
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Regelung des § 67 Abs. 1 S. 1 StGB a. F., welche die erste Sicherungsverwahrung
auf 10 Jahre begrenzte, bestehen in der Tat nicht. Bei ihrer Fortgeltung mit der
flankierenden Maßnahme der Führungsaufsicht wird der gesetzgeberische
Beurteilungsspielraum vielmehr ebenfalls eingehalten.
Im Übrigen kommt eine Abwägung verschiedener Grundrechte hier nicht in
Betracht. Denn das Rückwirkungsverbot aus Art. 7 MRK ist – ebenso wie das
absolute Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfG a. a. O. Rn 137) einer
Abwägung gerade zugänglich (vgl. auch Kadelbach in: EMRK/GG
Konkordanzkommentar Kap 15 Rn 46 zu Art. 15 Abs. 2 MRK).
2. Weil die Höchstfrist abgelaufen ist, ist die Maßregel voll verbüßt. Sie darf daher
nicht weiter vollstreckt werden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Auflage, Rn 10 zu §
458). Daher war sie für unzulässig zu erklären. Der Untergebrachte ist zu
entlassen.
Mit der Entlassung tritt Führungsaufsicht ein. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob
insoweit § 67 d Abs. 4 StGB in der Fassung bis 30.4.1986 oder § 67 d Abs.3 S. 2
StGB n. F. oder § 67 d Abs. 4 StGB n. F. anzuwenden sind, denn nach all diesen
Regeln tritt kraft Gesetzes Führungsaufsicht ein. Die Führungsaufsicht hat die
Kammer bereits mit gesondertem Beschluss von 12.05.2010 ausgestaltet.
Rechtsmittel wurden hiergegen von keiner Seite eingelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 I StPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.