Urteil des OLG Frankfurt vom 12.01.2009

OLG Frankfurt: gutachter, befangenheit, hauptsache, voreingenommenheit, unparteilichkeit, neutralität, dokumentation, form, quelle, schmerzensgeld

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Gericht:
OLG Frankfurt 8.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 W 78/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 3 ZPO, § 42 ZPO, § 46 ZPO,
§ 406 ZPO
(Ablehnung eines Sachverständigen bei unsachlicher
Verteidigung gegen Angriffe der Partei; Streitwert des
Ablehnungsverfahrens)
Leitsatz
1. Ein Gerichtssachverständiger darf sich gegen Angriffe einer Partei im Bezug auf seine
Feststellungen grundsätzlich auch in akzentuierter Form verteidigen. Das darf ihn aber
nicht dazu veranlassen, das Gebot der Sachlichkeit zu verlassen und in einer Weise
sprachlich zu entgleisen, die von einer vernünftigen Partei nur noch als Ausdruck seiner
Voreingenommenheit interpretiert werden kann.
2. Der Wert des Ablehnungsverfahrens gegen einen Sachverständigen entspricht
demjenigen der Hauptsache.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Gießen vom
29. Oktober 2008 abgeändert.
Das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen den Sachverständigen Dr. SV 1 wird für
begründet erklärt.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens beträgt 10.000,-- €.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von dem Beklagten Schmerzensgeld wegen vermeintlicher
ärztlicher Kunstfehler bei seiner orthopädischen Behandlung im Jahr 2004. Das
Landgericht hat ein schriftliches fachorthopädisches Gutachten des
Sachverständigen Dr. SV1, … Kliniken O1, eingeholt (Bl. 176 – 192 d. A.). Auf die
Einwendungen des Klägers hat der Sachverständige sein Gutachten schriftlich
ergänzt (Bl. 226 – 231 d. A.).
Das Landgericht hat dem Kläger das Ergänzungsgutachten am 11. August 2008
zugestellt und ihm Gelegenheit gegeben, binnen 3 Wochen dazu Stellung zu
nehmen. Am 1. September 2008 hat der Kläger den Sachverständigen wegen der
Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Er hat ihm vorgeworfen, den Sachvortrag
des Klägers zur Intensität seiner Schmerzen als unglaubhaft abgetan und durch
seine Wortwahl gegen das Gebot der Neutralität verstoßen zu haben.
Das Landgericht hat das Ablehnungsgesuch durch den angefochtenen Beschluss
zurückgewiesen (Bl. 245 – 247 d. A.). Der Kläger hat dagegen fristgerecht
Beschwerde eingelegt, in der er auf seine vorherigen Ausführungen verwiesen hat.
Das Landgericht hat der Beschwerde durch Beschluss vom 26. 11. 2008 nicht
abgeholfen. Davor hatte das Landgericht den Gutachter gebeten, zum
Befangenheitsantrag des Klägers Stellung zu nehmen. Auf den Inhalt seiner
Schreiben vom 10. November und vom 11. November 2008 wird verwiesen (Bl.
253 – 255 d. A., 256 – 259 d. A.).
II. Das Rechtsmittel ist begründet.
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1. Der Kläger hat den Sachverständigen rechtzeitig, nämlich innerhalb der ihm
zum Ergänzungsgutachten gesetzten Stellungnahmefrist abgelehnt. Da sich der
von dem Kläger vorgebrachte Befangenheitsgrund erst aus dem Inhalt des
Ergänzungsgutachtens ergab, durfte er sein Gesuch innerhalb dieser Frist stellen
(vgl. BGH NJW 2005, 1869, 1870).
2. Die Ablehnung eines Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit
ist berechtigt, wenn bei objektiver Betrachtung Gründe vorliegen, die geeignet
sind, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 406 Abs. 1 S. 1 i.
V. m. § 42 Abs. 2 ZPO). Solche Gründe können auch dann entstehen, wenn der
Sachverständige im Verlauf des Verfahrens in unsachlicher Weise auf
Einwendungen der Partei bzw. ihres Verfahrensbevollmächtigten reagiert und sich
zu sprachlichen Entgleisungen hinreißen lässt, die unüberbrückbare Spannungen
zu den Beteiligten hervorrufen (vgl. OLG Saarbrücken OLG Report 2008, 527, 529;
Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl., Rn 209; Bayerlein,
Praxishandbuch Sachverständigenrecht, 4. Aufl., § 20, Rn 20, jeweils mit weiteren
Nachweisen). So liegt der Fall hier:
Es kann offen bleiben, ob der Sachverständige Dr. SV1 bereits im
Ergänzungsgutachten vom 31.07.2008 seine Verpflichtung zur Neutralität
verlassen hat, in dem er beispielsweise „aus orthopädischer Sicht“ den Rat
gegeben hat „diesen juristischen Streit rasch ad acta zu legen, da ein schuldhafter
ärztlicher Fehler oder eine zeitliche Diagnoseverzögerung nicht mit
wissenschaftlicher Begründung einseitig dem (Beklagten) angelastet werden kann“
(Bl. 231 d. A.). Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass es einem Sachverständigen
nicht zusteht, den Verfahrensbeteiligten Ratschläge zur weiteren Prozessführung
zu erteilen. Andererseits kann man diese Äußerung des Gutachters auch so
interpretieren, dass er lediglich zum Ausdruck bringen wollte, die medizinischen
Fragen seien in hinreichendem Maße geklärt.
Hierauf kommt es aber letztendlich nicht an, weil sich der Sachverständige in
seinen Schreiben vom 10. und vom 11. November 2008 zu einer unsachlichen
Polemik hat hinreißen lassen, die in einer Gesamtschau mit seinen vorherigen
schriftlichen Äußerungen bei einer vernünftigen Partei berechtigte Zweifel an
seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen. Diese Schreiben hätten schon bei der
Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts Berücksichtigung finden müssen. Der
Senat ist verpflichtet, sie bei seiner Beschwerdeentscheidung zu berücksichtigen,
weil es darauf ankommt, ob das Gutachten von Dr. SV1 bei Schluss der
mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht noch verwertet werden darf.
In seinem Schreiben vom 10. November 2008 weist der Gutachter den Vorwurf der
Befangenheit zwar ganz entschieden zurück. Weiter heißt es dort aber: „…
Offenbar kommt es den Antragstellern bei fehlender medizinischer Begründbarkeit
ihres Anliegens nun auch darauf an, die juristischen, - mir im Einzelnen natürlich
nicht geläufigen -, Möglichkeiten auszuloten..“ (Bl. 254 d. A.). In dem Schreiben
heißt es weiter: „…Mir zu unterstellen, ich wolle in die Prozessführung eingreifen
und mich damit auf fachfremdes Gebiet begeben, ist schlichtweg hanebüchen
aber offenbar für die Replik (des Klägervertreters) wichtig. Mein Rat beruhte auf der
von mir vertretenen medizinisch wissenschaftlichen Basis...“
In dem Schreiben vom 11. November 2008 äußert sich der Sachverständige zu
den vom Kläger behaupteten Äußerungen des nachbehandelnden Arztes Dr. X,
der im September 2004 einen Meniskusriss am rechten Knie diagnostiziert hat und
dem Kläger gegenüber u. a. geäußert haben soll, es könne nicht angehen, dass
man über Monate weder den Meniskusriss erkenne noch eine Tomographie
veranlasse. Der Sachverständige Dr. SV1 nimmt in seinem Schreiben vom 11.
November 2008 dazu wie folgt Stellung: „…Zum Zeitpunkt der Untersuchung
durch Dr. X lag ja auch der kernspintomographische Befund (vom Juli 2004) vor, so
dass es in Verbindung mit den nunmehr deutlicheren Symptomen „einfach“ war,
auf einen möglichen Meniskusschaden als Diagnose zu kommen. (Motto:
Hinterher ist man immer schlauer!)… Mein Kommentar zu den Äußerungen des
Dr. X lautet frei interpretiert: „Postmortale Klugscheißerei“…“ (Bl. 257 d. A.).
Dem Sachverständigen Dr. SV1 ist zuzubilligen, dass sich ein Gutachter bei
Angriffen gegen seine Feststellungen grundsätzlich auch akzentuiert äußern darf.
Das darf ihn aber nicht dazu veranlassen, dass Gebot der Sachlichkeit zu
verlassen und in einer Weise sprachlich zu entgleisen, die von einer vernünftigen
Partei nur noch als Ausdruck seiner Voreingenommenheit interpretiert werden
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Partei nur noch als Ausdruck seiner Voreingenommenheit interpretiert werden
kann (vgl. dazu u. a. OLG Oldenburg vom 28. 2. 2005 – 5 U 170/03 in: Zeitschrift
für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht 2005, 119; OLG Zweibrücken NJW
1998, 912). Dieses Gebot hat der Sachverständige mit seinen Äußerungen
missachtet.
Unabhängig davon, dass seine Aussage zur Diagnosestellung von Herrn Dr. X
falsch ist, weil im September 2004 noch keine kernspintomographische Aufnahme
des rechten Kniegelenkes erstellt war (vgl. Seite 11 des Ausgangsgutachtens Bl.
186 d. A.) hat der Sachverständige diese vermeintliche Äußerung von Dr. X in
einer überzogenen und nicht gerechtfertigen Weise abgetan. Hinzu kommen die
abwertenden Äußerungen gegenüber dem Ablehnungsgesuch des Klägers und
dem prozessualen Vorgehen seines Bevollmächtigten. Wenn man die zitierten
Äußerungen des Gutachters mit seinen Äußerungen in dem Ergänzungsgutachten
zusammennimmt, so wird eine vernünftige Partei nicht mehr erwarten, dass sich
der Gutachter noch in sachlicher Weise mit ihrem Vorbringen auseinandersetzen
will. Das muss der Kläger nicht hinnehmen, so dass sein Ablehnungsgesuch Erfolg
hat.
Eine Kostenentscheidung ergeht nicht, weil die Kosten der erfolgreichen
Beschwerde im Ablehnungsverfahren Kosten des Rechtsstreits sind, über die nach
§§ 91 ff zu entscheiden sein wird. Hinsichtlich des Beschwerdewerts folgt der Senat
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach der Wert des
Ablehnungsverfahrens demjenigen der Hauptsache entspricht (Beschluss vom
17.1.1968 – IV ZB 3/68 – NJW 1968, 796).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.