Urteil des OLG Frankfurt vom 11.03.2004

OLG Frankfurt: haftbefehl, auflage, vorführung, festnahme, sicherheitsleistung, verhaftung, wohnung, strafverfahren, vollstreckung, vollzug

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Gericht:
OLG Frankfurt 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ws 19/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 116 Abs 1 StPO, § 230 Abs 2
StPO
(Strafverfahren: Außervollzugsetzung eines Haftbefehls zur
Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung)
Tenor
Der angefochtene Beschluß und der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am
Main vom 16.5.2003 in der Fassung des Beschlusses des Amtsgerichts Frankfurt
am Main vom 10.12.2003, Az.: 916 A – Ls 3930 Js 232447/02 – 3015, werden
aufgehoben.
Gründe
Die gemäß § 310 Abs. 1 StPO zulässige weitere Beschwerde hat in der Sache
Erfolg.
I. Durch den Erlaß eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO als Reaktion auf das
Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung am 16.5.2003 verletzte das
Amtsgericht Frankfurt am Main den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Dieser Grundsatz gebietet es, bei der Auswahl zwischen den beiden in § 230 Abs. 2
StPO genannten Zwangsmitteln grundsätzlich von dem mildesten Mittel, der
Anordnung der Vorführung, auszugehen (BVerfGE 32, 87 ff., 93; Gollwitzer in FS f.
Hannack, 145 ff., 147; ders. in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Auflage, § 230 Rdnr. 29;
Welp, JR 1991, 265 ff., 270). Ein Haftbefehl darf nur dann ergehen, wenn nach
Würdigung aller Umstände der Zweck des § 230 Abs. 2 StPO, die Durchführung der
Hauptverhandlung in Gegenwart des Angeklagten zu ermöglichen, andernfalls
nicht oder nicht mit der erforderlichen Sicherheit erreichbar wäre, wenn etwa zu
befürchten ist, dass der Angeklagte sich einer Vorführung durch Fernbleiben von
seiner Wohnung entziehen würde (Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, a. a. O.; vgl. auch
KMR-Paulus, § 230 Rdnr. 15).
Im vorliegenden Fall sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass es zur Sicherung der
Anwesenheit des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung nicht ausreichend
gewesen wäre, seine Vorführung anzuordnen. Der Angeklagte hat einen festen
Wohnsitz. Er wurde dort sowohl bei seiner Festnahme am 2.7.2003 als auch bei
seiner weiteren Festnahme am 3.2.2004 angetroffen.
II. Selbst unter der Annahme, der Erlaß des Haftbefehls vom 16.5.2003 wäre
zulässig gewesen, hätte er unter Zugrundelegung der Auffassung des
Amtsgerichts Frankfurt am Main am 3.9.2003 nicht außer Vollzug gesetzt werden
dürfen, sondern aufgehoben werden müssen.
Zwar kann auch ein nach § 230 Abs. 2 StPO erlassener Haftbefehl außer Vollzug
gesetzt werden. Dies ist aber in entsprechender Anwendung des § 116 StPO nur
unter gleichzeitiger Anordnung von Sicherungsmaßnahmen möglich (vgl. Meyer-
Goßner, StPO, 46. Auflage, § 230 Rdnr. 22; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, a. a. O.,
Rdnr. 39; KK-Tolksdorf, StPO, 5. Auflage, § 230 Rdnr. 14). Die Außervollzugsetzung
des Haftbefehls unter Verzicht auf die Anordnung weniger einschneidender
Maßnahmen ist dagegen gesetzwidrig. Vielmehr muß der Haftbefehl aufgehoben
werden, wenn solche Maßnahmen nicht erforderlich sind (Meyer-Goßner, 46.
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werden, wenn solche Maßnahmen nicht erforderlich sind (Meyer-Goßner, 46.
Auflage, § 116 Rdnr. 5).
Im vorliegenden Fall hatte der Angeklagte in einem am 21.8.2003 durchgeführten
Haftprüfungstermin durch seinen Verteidiger eine Sicherheitsleistung in Höhe von
3.000,- € anbieten lassen. Die Staatsanwaltschaft erhob in ihrer Stellungnahme
vom selben Tage gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter Leistung
einer Kaution, deren Höhe sie in das Ermessen des Gerichts stellte, keine
Einwände. Das Amtsgericht hielt gleichwohl die Anordnung einer
Sicherheitsleistung oder andere Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO zur
Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung nicht
für notwendig, da es bei seiner Beschlussfassung am 3.9.2003 hiervon absah.
Damit war die Grundlage für den Fortbestand des Haftbefehls vom 16.5.2003
entfallen; er war deshalb aufzuheben. Seine Aufrechterhaltung unter
Außervollzugsetzung war unzulässig.
Hiernach kann offen bleiben, ob – wie mit der Beschwerde vorgetragen wird – der
Haftbefehl vom 16.5.2003 bei unterstellter Zulässigkeit seines Erlasses mit dem
Ende der Hauptverhandlung vom 3.9.2003 gegenstandslos wurde, oder ob die
Ansicht der Vorinstanzen zutrifft, wonach ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO
bis zum die Instanz abschließenden letzten Hauptverhandlungstermin auch dann
fortgilt, wenn die nach Erlaß des Haftbefehls begonnene oder fortgesetzte
Hauptverhandlung nicht nur nach § 229 Abs. 2 oder Abs. 3 StPO unterbrochen,
sondern nach § 229 Abs. 4 StPO neu begonnen werden mußte.
III. Unter der weiteren Annahme der Zulässigkeit der Wiederinvollzugsetzung des
Haftbefehls war die Verhaftung des Angeklagten am 3.2.2004 zur Sicherung seiner
Anwesenheit in der neuen Hauptverhandlung (noch) nicht zulässig.
Die Vollstreckung eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO darf nicht länger als
zur Sicherstellung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung
erforderlich ausgedehnt werden. Auch dies gebietet der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit (vgl. KMR-Paulus, § 230 StPO Rdnr. 18; LG Dortmund, StV
1987, 335). Hiernach dürfte eine längerfristige Vollstreckung des Haftbefehls vor
Beginn der Hauptverhandlung nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Um zu
gewährleisten, dass die Verhaftung nicht unverhältnismäßig lange vor Beginn der
Hauptverhandlung erfolgt, ist in aller Regel der Beginn der Vollstreckbarkeit im
Haftbefehl auf ein in angemessener zeitlicher Nähe zum Beginn der
Hauptverhandlung liegendes Datum festzusetzen (Welp, JR 1991, 265 ff., 270 bei
FN 67; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, a. a. O., Rdnr. 26).
Im vorliegenden Fall ist ein Anlaß dafür, den offenbar regelmäßig in seiner
Wohnung anzutreffenden Angeklagten zur Sicherung seiner Anwesenheit in der
Hauptverhandlung bereits am 3.2.2004 und damit langfristig vor dem ausweislich
der Akten für den 7.4.2004 vorgesehenen Hauptverhandlungstermin in Haft zu
nehmen, nicht ersichtlich.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.