Urteil des OLG Frankfurt vom 06.08.2003

OLG Frankfurt: zivilrechtliche berufung, rüge, reform, erschütterung, glaubwürdigkeit, einfahrt, eigentumswohnung, stadt, beweiswürdigung, aufnehmen

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Gericht:
OLG Frankfurt 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 U 139/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 520 Abs 3 ZPO, § 529 Abs 1
Nr 1 ZPO, § 529 Abs 2 S 1
ZPO
(Berufungsbegründung: Anforderungen an die
Verfahrensrüge der Versagung rechtlichen Gehörs durch
Übergehen eines erstinstanzlichen Beweisangebots)
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 25.7.2002 verkündete Urteil der 24.
Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Zwangsvollstreckung
durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren
Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Die Revision wird
zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte, eine städtische Grundstücksgesellschaft, auf
Schadensersatz mit der Begründung in Anspruch, die Verkaufsmitarbeiterin Dr. L.
der Beklagten habe anlässlich der Verkaufsverhandlungen über die später von der
Klägerin erworbene Penthouse-Eigentumswohnung angekündigt, ein
Nachbargrundstück werde nur zweigeschossig bebaut werden, so dass der
Taunusblick aus der klägerischen Wohnung frei bleiben werde. Tatsächlich wird das
Nachbargrundstück viergeschossig bebaut. Eine angeblich außerdem anders
angekündigte Einfahrt zu einem benachbarten Supermarkt spielt in der
Berufungsinstanz keine Rolle mehr.
Das Landgericht hat Frau Dr. L. und den mit der Klägerin befreundeten, sie damals
bei der Besichtigung der Wohnung begleitenden Rechtsanwalt W. - ihren
erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten - als Zeugen vernommen und die Klage
mit der - ausführlich ausgeführten - Begründung abgewiesen, der Inhalt der
Vertragsverhandlungen sei angesichts der einander widersprechenden
Zeugenaussagen nicht aufzuklären.
Zur Darstellung der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und
Streitstandes nimmt der Senat auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils
Bezug.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihren erstinstanzlichen Antrag weiter. Sie
beanstandet die landgerichtliche Beweiswürdigung. Glaubwürdig sei allein der
Zeuge W. Jedenfalls hätten Zeugen gehört werden müssen, die sie zur
Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Zeugin Dr. L. benannt gehabt habe.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Beklagte zur Zahlung von
47.613,80 € zuzüglich 12,75 % Zinsen seit dem 18.10.1999 zu verurteilen.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
II. Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Landgericht hat die Klage zu
Recht abgewiesen, weil die Klägerin für die dem Wohnungskaufvertrag angeblich
voraus gegangenen Falschangaben der Zeugin Dr. L. beweisfällig geblieben ist. Es
bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob diese angeblichen Äußerungen der Zeugin
als Zusicherungen zu werten und als solche beurkundungsbedürftig gewesen
wären.
1. Der Klägerin ist es in der Berufungsinstanz nicht gelungen, konkrete
Anhaltspunkte aufzuzeigen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der
entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute
Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Der Senat teilt im Ergebnis die
Auffassung des Landgerichts, dass die Vernehmung der Zeugen W. und Dr. L.
hinsichtlich deren angeblicher Falschangaben zur Nachbarbebauung und zur
Aussicht der Klägerin auf den Taunus ein non liquet ergeben hat. Insoweit kommt
es nicht darauf an, ob sämtliche vom Landgericht erwogenen Gründe - etwa die
unterbliebene Nachfrage des Zeugen bei der Stadt bezüglich des Inhalts des
Bebauungsplanes oder die Nichterteilung des Rates, die Angaben zur
Nachbarbebauung in den Kaufvertrag aufzunehmen - einen sicheren Schluss auf
die Unglaubwürdigkeit des Zeugen W. zulassen, woran gewisse Zweifel bestehen
mögen. Entscheidend ist vielmehr, dass es an zureichenden Gründen fehlt, allein
der Aussage des Zeugen W. zu folgen und die Aussage der Zeugin Dr. L. als
unglaubhaft zu bewerten. Beide Zeugen stehen dem Ausgang des Rechtsstreits
nicht gleichgültig gegenüber. Der Zeuge W. ist mit der Klägerin befreundet; er hat
es - ersichtlich aus Verärgerung über das landgerichtliche Urteil - für richtig
gehalten, das Empfangsbekenntnis zu diesem trotz mehrfacher Erinnerung nicht
zurück zu senden und auf die Erinnerungsschreiben nicht zu reagieren, so dass es
ihm mit Postzustellungsurkunde zugestellt werden musste. Die Zeugin Dr. L.
müsste mit dem Klagevortrag ein erhebliches Fehlverhalten einräumen. Dass sie
zu einem solchen Anlass hatte, steht nicht fest. Es ist eher unwahrscheinlich, dass
die Angestellte einer städtischen Grundstücksgesellschaft, die vom Verkauf
städtischen Grundeigentums anders als ein privater Verkäufer nicht unmittelbar
profitiert, zu derart unlauteren Werbemethoden greift und sich dadurch
erheblichen, möglicherweise auch strafrechtlichen Risiken aussetzt. Gegen die
Richtigkeit des durch den Zeugen W. bestätigten Klagevortrages zur
kaufentscheidenden Bedeutung des Taunusblicks für die Klägerin spricht, dass
diese ausweislich ihres an die Beklagte gerichteten Bewerbungsschreibens vom
4.6.1999 (Bl. 221 d.A.) in einer ihre Berufsfähigkeit bedrohenden Weise
sehbehindert ist, dass der Taunusblick aus der klägerischen Wohnung von
vornherein durch eine unschöne Hochhaussiedlung namens "R..." beeinträchtigt
war und dass zu erwarten gewesen wäre, dass die Klägerin - ihres Zeichens
Volljuristin - die angeblich für ihren Kaufentschluss entscheidende Angabe der
Beklagten in die Kaufvertragsurkunde hätte aufnehmen lassen.
2. Soweit die Klägerin Zweifel an der Vollständigkeit der landgerichtlichen
Feststellungen auf das Übergehen eines Beweisangebots stützt, kann sie damit
keinen Erfolg haben, weil sie die Rüge nicht ordnungsgemäß ausgeführt hat (§ 529
Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 520 Abs. 3 ZPO).
a) Das Übergehen eines Beweisantritts ist auch unter dem Aspekt des rechtlichen
Gehörs kein von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensfehler im Sinne
des § 529 Abs. 2 Satz 1 ZPO (ebenso Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002, §
529 Rn. 44; Musielak-Ball, ZPO, 3. Aufl., § 529 Rn. 9 f., 21 ff.; a.A. etwa Barth NJW
2002, 1702, 1703 Fn. 12; unklar Schumann/Kramer, Die Berufung in Zivilsachen, 6.
Aufl., Rn. 221, und Stackmann NJW 2003, 169, 170 f.). Damit sind Verstöße gegen
Verfahrensregeln gemeint, die auch dem öffentlichen Interesse, nicht nur dem
Interesse der Parteien dienen und auf deren Befolgung diese daher nicht
verzichten können, zum Beispiel die Regeln über Prozessvoraussetzungen (vgl. zu
den Einzelheiten Musielak-Ball, a.A. O., § 529 Rn. 21; auch Rimmelspacher NJW
2002, 1897, 1901 f.; Schellhammer MDR 2001, 1141, 1146; Zöller-Gummer, ZPO,
23. Aufl., § 529 Rn. 13). Auf ein Beweisangebot kann die anbietende Partei sehr
wohl verzichten. Auch im Revisionsrecht ist bislang nicht vertreten worden, das
Übergehen eines Beweisantritts sei rügeunabhängig von Amts wegen zu
berücksichtigen; vielmehr handelt es sich hierbei um den Musterfall einer
notwendigen Verfahrensrüge (aus § 286 ZPO).
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b) Verfahrensfehler können nur dann Zweifel i.S. d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO
begründen, wenn sie ordnungsgemäß gerügt worden sind (OLG Saarbrücken OLGR
2002, 453, 454; MünchKommZPO-Aktualisierungsband-Rimmelspacher § 529 Rn.
14, 38; ders. NJW 2002, 1897, 1902; Gehrlein MDR 2003, 421, 428; wohl auch
Crückeberg MDR 2003, 199, 200 f.; Zöller-Gummer, a.A. O., § 529 Rn. 2 unter 2.;
a.A. Hannich/Meyer-Seitz a.A. O., § 529 Rn. 20, 27, 43). Die Gegenansicht bemüht
zu Unrecht eine gegenteilige Absicht des Gesetzgebers, die im Gesetz keinen
erkennbaren Niederschlag gefunden hat. Dem Wortlaut des 529 Abs. 2 Satz 1 ZPO
ist keine Einschränkung des Inhalts zu entnehmen, dass die Tatsachenfeststellung
betreffende Verfahrensfehler keiner Rüge bedürfen. Da es sich hierbei
erfahrungsgemäß um die häufigsten Verfahrensfehler handelt, liefe die Vorschrift
in diesem Fall weitgehend leer. Das Berufungsgericht wäre doch wieder gehalten,
die gesamte Akte nach derartigen Verfahrensfehlern zu durchforsten. Dies
widerspräche der grundlegenden Intention des Gesetzgebers, die Berufung von
einer vollwertigen zweiten Tatsacheninstanz zu einer Kontrollinstanz
umzugestalten. Eine derartige Einschränkung des Rügeerfordernisses wäre auch
nicht systemgerecht (vgl. MünchKommZPO-Aktualisierungsband-Rimmelspacher,
§ 529 Rn. 38): Für Verstöße gegen § 139 ZPO ist außer Streit, dass diese nur auf
Rüge zu berücksichtigen sind. Es kann verfahrensrechtlich nicht darauf
ankommen, ob der Sachverhalt wegen unterbliebener Hinweise oder wegen des
Übersehens eines Beweisangebotes lückenhaft festgestellt worden ist.
c) Eine auf das Übergehen eines erstinstanzlichen Beweisangebots gerichtete
Verfahrensrüge muss jenes wiederholen oder doch jedenfalls konkret nach
Beweisbehauptung, Beweismittel und Aktenfundort bezeichnen (vgl. Musielak-Ball
a.A. O. § 520 Rn. 32; Doukoff, Die zivilrechtliche Berufung nach neuem Recht, 2.
Aufl., 122; Fellner MDR 2003, 721, 722; Stackmann NJW 2003, 169, 171 f.; Zöller-
Gummer a.A. O. § 520 Rn. 41; wohl auch Schumann/Kramer, a.A. O., Rn. 223).
Hierfür spricht neben der vom Gesetzgeber intendierten Begrenzung des
Berufungsverfahrens auf eine Fehlerkontrolle, dass das sich aus §§ 529 Abs. 2
Satz 1 ZPO ergebende Rügeerfordernis deutliche Ähnlichkeiten mit dem aus §§
551 Abs. 3 Nr. 2 b), 557 Abs. 3 Satz 2 ZPO hat (vgl. Doukoff, a.A. O., 121;
Schnauder JuS 2002, 68, 74 f.; ders., OLGR 2002, K 9, 12; allgemeiner Hartmann
NJW 2001, 2577, 2590). Für die Revisionsrüge sind entsprechende Anforderungen
seit dem Urteil des BGH vom 8.7.1954 (IV ZR 67/54, BGHZ 14, 205, 209 f.)
anerkannt.
Aus dem von der Klägerin heran gezogenen Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 2.1.1995 (1 BvR 234/94, NJW-RR 1995, 828) ergibt
sich nichts Anderes. Diese Entscheidung ist noch zum alten Berufungsrecht
ergangen, das insbesondere die Notwendigkeit einer innerhalb der
Berufungsbegründungsfrist anzubringenden Verfahrensrüge nicht vorsah. Art. 103
Abs. 1 GG erlaubt es anerkanntermaßen, die Berücksichtigung des Parteivortrags
von der Einhaltung gesetzlicher Verfahrensregeln abhängig zu machen. Die
Entscheidung betrifft zudem den - hier ausweislich der Begründung des
angefochtenen Urteils nicht vorliegenden - Fall, dass das Erstgericht einen Vortrag
für unerheblich gehalten hat.
Diesen Anforderungen genügt die von der Klägerin auf Seite 5 der
Berufungsbegründung (Bl. 281 d.A.) ausgeführte Rüge nicht. Es fehlt jedenfalls an
der Bezeichnung der angebotenen Zeugen und der Angabe, wo das
Beweisangebot zu finden ist; auch die Beweisbehauptung ist allenfalls mühevoll zu
erschließen.
3. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der unter II 2
angesprochenen, durch die ZPO-Reform aufgeworfenen Rechtsfragen zuzulassen
(§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Die übrigen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs.
1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.