Urteil des OLG Frankfurt vom 14.08.2008

OLG Frankfurt: aufschiebende wirkung, lauterkeitsrecht, verfügung, wettbewerbsrecht, herbst, erlass, befristung, rechtskontrolle, infrastruktur, eisenbahngesetz

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Gericht:
OLG Frankfurt 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 U 27/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 UKlaG, § 5 UKlaG, § 12 Abs
2 UWG, § 935 ZPO, § 940 ZPO
Einstweiliges Verfügungsverfahren im Wettbewerbsrecht:
Widerlegung der Dringlichkeitsvermutung durch Zuwarten
mit der Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs;
maßgebliche Zeitspanne für die Widerlegung der
Dringlichkeitsvermutung
Leitsatz
Über die dringlichkeitsschädliche Zeitspanne zwischen der Kenntnis und der Einreichung
des Verfügungsantrages besteht in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eine
unterschiedliche Auffassung. Nach Ansicht des Senats lässt sich eine feste zeitliche
Grenze nicht ziehen. Vielmehr ist bei der Beurteilung einer etwaigen Selbstwiderlegung
stets auf die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls abzustellen, bei der die
Ausnutzung bestimmter Fristen ein wesentlicher Gesichtspunkt sein kann, aber nicht
stets sein muss (hier: Kenntnis vom sog. "Anreizsystem" im Schienenverkehr).
Tenor
Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das am 16.11.2007 verkündete
Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main – 2-02 O 251/07 –
abgeändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.
Der Verfügungskläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Verfügungsbeklagten hat Erfolg. Der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Verfügung ist unbegründet. Der für die Anspruchsdurchsetzung
im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erforderliche Verfügungsgrund liegt
nicht vor.
1) Im Ansatz zutreffend ist das Landgericht zwar davon ausgegangen, dass dem
Verfügungskläger im Grundsatz die Dringlichkeitsvermutung nach § 12 Abs. 2 UWG
zugute kommt. § 5 UklaG nimmt Bezug auf § 12 Abs. 2 UWG, wonach die in §§
935, 940 ZPO geregelten Dringlichkeitsvoraussetzungen bei
wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüchen nicht dargelegt und glaubhaft
gemacht werden müssen, die Dringlichkeit insoweit vielmehr vermutet wird.
2) Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist die Dringlichkeitsvermutung
vorliegend jedoch widerlegt, weil der Verfügungskläger trotz Kenntnis der
Verwendung der - aus seiner Sicht unwirksamen - Allgemeinen
Geschäftsbedingungen längere Zeit zugewartet hat, ohne gegen die
Verfügungsbeklagte gerichtlich vorzugehen. Die Untätigkeit spricht gegen die
Eilbedürftigkeit. Denn damit gibt der Verfügungskläger zu erkennen, dass er selbst
die Sache nicht als eilig betrachtet hat (sog. „Selbstwiderlegung“, vgl. Köhler in:
Hefermehl/Köhler/ Bornkamm, UWG, 26. Aufl. 2008, § 12 Rn. 3.15; Schlingloff in:
Münchener Kommentar, Lauterkeitsrecht, §§ 5 – 22 UWG, 2006, § 12 Rn. 387;
Retzer in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 2004, § 12 Rn. 304;
Piper/Ohly, UWG, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 113).
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a) Über die dringlichkeitsschädliche Zeitspanne zwischen der Kenntnis und der
Einreichung des Verfügungsantrages – was also genau eine „längere Zeit“ ist –
besteht in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eine unterschiedliche
Auffassung. Zum Teil werden Regelfristen von einem bis zu drei Monaten
befürwortet, zum Teil werden bei besonderer Sachlage auch längere Fristen als
hinnehmbar angesehen, ohne dass eine Selbstwiderlegung der
Dringlichkeitsvermutung eintreten soll (vgl. die Einzelnachweise dazu bei Köhler in:
Hefermehl/Köhler/Bornkamm, a.a.O., § 12 Rn. 3.15; Hess in: Ullmann, jurisPK-UWG,
Stand 27.03.2008, § 12 Rn. 87). Nach Ansicht des Senats lässt sich eine feste
zeitliche Grenze nicht ziehen. Vielmehr ist bei der Beurteilung einer etwaigen
Selbstwiderlegung stets auf die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls
abzustellen, bei der die Ausnutzung bestimmter Fristen ein wesentlicher
Gesichtspunkt sein kann, aber nicht stets sein muss (ebenso OLG Hamburg,
GRUR-RR 2007, 302 [juris Rn. 12]). Unter Abwägung der maßgeblichen Umstände
ist die Dringlichkeitsvermutung im Streitfall als widerlegt anzusehen.
b) Dabei kann es dahinstehen, ob - wie das Landgericht angenommen hat - dem
Verfügungskläger bis zum Ablauf der Befristung der behördlichen Anordnung zum
09.04.2007 ein triftiger Grund zur Seite stand, eine Antragstellung im einstweiligen
Verfügungsverfahren zurückzustellen. Denn jedenfalls danach war eine kurzfristige
Reaktion des Verfügungsklägers zu erwarten und geboten, die jedoch nicht erfolgt
ist. Dabei ist als maßgeblicher Zeitpunkt für ein Tätigwerden des
Verfügungsklägers entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht auf den
Zeitpunkt des Eingangs der Antragsschrift per Fax am 19.07.2007 abzustellen,
sondern erst auf den Eingang des Originals am 23.07.2007. Denn dem per Telefax
eingereichten Exemplar der Antragsschrift waren die Anlagen, insbesondere die
Anlage AS 1, nicht beigefügt. Auf diese wird aber im Verfügungsantrag Bezug
genommen, und ohne diese war weder der Antrag verständlich noch das konkrete
Begehren ersichtlich. Diese Anlage ist erst am 23.07.2007 mit dem Original
eingegangen. Dieses Zuwarten von annähernd 3 ½ Monaten rechtfertigt die
Annahme, dass für eine eilige, vorläufige Regelung aus Sicht des
Verfügungsklägers kein dringendes Bedürfnis bestand. Denn nachvollziehbare
Gründe dafür, warum er so lange zugewartet und nicht zumindest zeitnah nach
Ablauf der Befristung der behördlichen Anordnung einen Verfügungsantrag gestellt
hat, hat der Verfügungskläger nicht angeführt.
c) Insbesondere ist die zögerliche Verfahrenseinleitung entgegen der Ansicht des
Verfügungsklägers nicht damit zu rechtfertigen, dass die Sache komplizierte
Rechtsfragen aufwirft. Die einen etwaigen Unterlassungsanspruch nach § 1 UKlaG
rechtfertigenden Tatsachen - der Inhalt des sog. „Anreizsystems“ der
Verfügungsbeklagten in der konkreten Ausgestaltung - waren dem
Verfügungskläger spätestens seit Herbst 2006 bekannt. Die Neufassung der
Schienenbenutzungsbedingungen (SBN) inklusive der Regelungen über das –
nahezu unverändert gebliebene – Anreizsystem lag ihm seit dem 14.09.2006 vor.
Er hatte sodann in einer an die Bundesnetzagentur gerichteten Stellungnahme
vom 13.10.2006 den Standpunkt bezogen, das Anreizsystem sei nicht praktikabel;
die Entgeltgrundsätze wiesen schwere Verstöße gegen geltendes Recht auf und
zeichneten sich in entscheidenden Passagen durch die Wahl unklarer Begriffe aus,
die eine flexible Anwendung der SBN zugunsten der Verfügungsbeklagten
ermöglichten. Diesem Schreiben hatte der Verfügungskläger ein Gutachten seiner
jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 13.10.2006 beigefügt, in dem die
rechtlichen Bedenken gegen das Anreizsystem dargelegt worden waren. Mit dem
Einwand, diese Stellungnahme seiner Prozessbevollmächtigten befasse sich nicht
mit der Frage der zivilrechtlichen Bewertung des Anreizsystems, kann der
Verfügungskläger nicht gehört werden. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die
vollständige Kenntnis derjenigen Tatsachen, die eine zweckentsprechende
Rechtsverfolgung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ermöglichen (vgl.
Retzer in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, a.a.O., § 12 Rn. 308; Köhler in:
Hefermehl/Köhler/Bornkamm, a.a.O., § 12 Rn. 3.15; Schlingloff in: Münchener
Kommentar, Lauterkeitsrecht, §§ 5 – 22 UWG, 2006, § 12 Rn. 388). Diese
Tatsachenkenntnis lag für den Verfügungskläger im Herbst 2006 vor. Überdies
hatten die Prozessbevollmächtigten des Verfügungsklägers bereits in ihrer
Stellungnahme vom 13.10.2006 auf Bedenken hingewiesen, die auch zivilrechtlich
von Bedeutung und sodann zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens
gemacht worden sind, wie etwa die einseitige Belastung der
Eisenbahngüterverkehrsunternehmen mit – aufgrund nicht durchschaubarer
Ursachenketten nicht zurechenbaren – Verspätungsminuten, die
Nichtberücksichtigung von Infrastrukturmängeln, die Zuordnung der
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Nichtberücksichtigung von Infrastrukturmängeln, die Zuordnung der
Verspätungsminuten durch den Fahrdienstleiter ohne nähere Begründungspflicht
und Kontrollmöglichkeit sowie die Beweislastregelung bei Beschwerden der
Eisenbahngüterverkehrsunternehmen.
d) Seinem eigenen Sachvortrag zufolge war dem Verfügungskläger auch bekannt,
dass die Regulierungsbehörde im Rahmen der sodann durchgeführten
Vorabprüfung eine Rechtskontrolle nur über die Einhaltung „eisenbahnrechtlicher“
Infrastruktur-Zugangsvorschriften vorzunehmen hatte, es bei dieser Prüfung also
letztlich nicht um die Beurteilung typisch zivilrechtlicher Fragen gehen konnte. Das
Allgemeine Eisenbahngesetz enthält in §§ 14b ff. die durch Gesetz vom
27.04.2005 (BGBl I 1138) eingefügten Vorschriften über Aufgaben und Befugnisse
der Regulierungsbehörde, der nach § 14b Abs. 1 AEG die Aufgabe obliegt, die
Einhaltung der Vorschriften des Eisenbahnrechts über den Zugang zur
Eisenbahninfrastruktur zu überwachen, nach Nummer 4 der Vorschrift
insbesondere hinsichtlich der Benutzungsbedingungen, Entgeltgrundsätze und
Entgelthöhen. Die Ausrichtung auf das Eisenbahnrecht gebietet dabei zumindest
eine Zurückhaltung der Regulierungsbehörde bei der Beurteilung von durch
Nutzungsbedingungen aufgeworfenen typischen zivilrechtlichen Fragen, deren
Klärung den Zivilgerichten vorbehalten ist. Insoweit sind das
Diskriminierungsverbot und das Transparenzgebot schon generell keine
Instrumente, um letztlich jede, an sich zivilgerichtlicher Kontrolle unterliegende
Rechtsfrage oder Frage der Auslegung und/oder der Wirksamkeit vertraglicher
Regelungen zum Gegenstand eines Widerspruchs nach § 14e AEG zu machen
(ebenso OVG Münster, Beschluss vom 28.01.2008 – 13 B 2014/07 – [juris Rn. 13]).
Spätestens nachdem das OVG Münster im Beschwerdeverfahren mit Beschluss
vom 26.03.2007 – 13 B 2592/06 – die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
der Verfügungsbeklagten gegen den Bescheid der Bundesnetzagentur vom
20.11.2006 angeordnet hatte, musste der Verfügungskläger zudem damit
rechnen, dass das Anreizsystem auch nach Ablauf der behördlichen Anordnung
am 09.04.2007 angewandt werden würde, zumal das OVG Münster das
Anreizsystem als mit den Vorgaben des § 21 EIBV vereinbar angesehen und im
einzelnen dargelegt hatte, dass eine Diskriminierung der
Eisenbahngüterverkehrsunternehmen durch das allein an die Pünktlichkeit
anknüpfende Anreizsystem nicht erkennbar sei.
e) Schließlich hat der Verfügungskläger die Dringlichkeitsvermutung auch mit
seinem Sachvortrag, er habe ein Interesse daran gehabt, die Umsetzung des
Ende 2006 in Kraft getretenen Anreizsystems in der Praxis sowie die daraus
resultierenden wirtschaftlichen Konsequenzen für die Mitgliedsunternehmen einige
Zeit zu beobachten, selbst widerlegt. Mit diesem Vorbringen hat er dokumentiert,
dass ihm die Sache selbst nicht eilig erschien. Zudem lässt sich ein weiteres
Zögern nach dem 09.04.2007 aber auch nicht mit fehlenden Erfahrungen aus der
Praxis erklären. Seinem eigenen – bereits mit der Antragsschrift dargebotenen –
Sachvortrag zufolge soll sich bereits seit Beginn der Anwendung des
Anreizsystems (zweiter Samstag im Dezember 2006) gezeigt haben, dass die
Eisenbahngüterverkehrsunternehmen im Rahmen der Verantwortungszuweisung
und Saldenstellung durch das Anreizsystem einseitig benachteiligt werden. Nach
der Präsentation der Verfügungsbeklagten vom 03.04.2007, auf die sich der
Verfügungskläger beruft, waren bereits im Februar 2007 zu Lasten der
Eisenbahngüterverkehrsunternehmen 3.194.785 Verspätungsminuten angefallen.
Die durch den Verfügungskläger exemplarisch eingereichten Saldenmitteilungen
von drei Mitgliedern dokumentieren, dass bereits die im Februar, März und April
2007 ausgestellten Rechnungen der Verfügungsbeklagten jeweils Salden zwischen
über 2.000 bis über 8.000 Euro (vgl. etwa Rechnung vom 05.04.2007, gerichtet an
die Firma A GmbH, Anlage AS 11) auswiesen. Zum Zeitpunkt des Ablaufs der
behördlichen Anordnung am 09.04.2007 lagen dem Verfügungskläger folglich
ausreichende Erfahrungen aus der Praxis vor; die wirtschaftlichen Auswirkungen
hatten sich deutlich gezeigt. f) Die Dringlichkeitsvermutung besteht entgegen der
Ansicht des Verfügungsklägers ungeachtet des Zeitablaufs auch nicht deshalb
fort, weil er als Verband im öffentlichen Interesse tätig wird. Dafür besteht kein
sachlicher Grund. Vielmehr setzt sich auch ein Verband zu seinem eigenen
Verhalten in Widerspruch, wenn er lange untätig bleibt und hinnimmt, dass sich
bestehende Zustände verfestigen. Klagebefugte Verbände sind grundsätzlich nicht
privilegiert zu behandeln (vgl. Köhler in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, a.a.O., § 12
Rn. 3.17; Schlingloff in: Münchener Kommentar, Lauterkeitsrecht, §§ 5 – 22 UWG,
2006, § 12 Rn. 394; Retzer in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, a.a.O., § 12
Rn. 318; OLG Frankfurt, GRUR 1988, 849).
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g) Ist damit die Dringlichkeitsvermutung widerlegt, ist denklogisch eine
anderweitige Darlegung der Dinglichkeit ausgeschlossen.
3) Der Verfügungskläger hat die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu
tragen (§§ 91 Abs. 1, 269 Abs. 3 ZPO). Ein Ausspruch über die vorläufige
Vollstreckbarkeit entfällt bei Berufungsurteilen wie dem vorliegenden wegen § 542
Abs. 2 ZPO (vgl. Zöller- Herget, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 708 Rn. 8;
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. 2007, § 708 Rn. 8; Krüger
in: Münchener Kommentar, ZPO, 3. Aufl. 2007, § 708 Rn. 13; Münzberg in:
Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 705 Rn. 4, § 708 Rn. 35).
4) Die Revision ist gesetzlich unstatthaft (§ 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.