Urteil des OLG Frankfurt vom 29.08.2002

OLG Frankfurt: rechtliches gehör, vorläufiger rechtsschutz, neues vorbringen, zwangsvollstreckung, sicherheitsleistung, beschwerdeschrift, bedürfnis, auflage, reform, beschwerderecht

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Gericht:
OLG Frankfurt 26.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
26 W 102/02
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 769 ZPO
(Unanfechtbarkeit von Entscheidungen über die
einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach der
Zivilprozessrechtsreform)
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts
Wiesbaden 7. Zivilkammer vom 1. Juli 2002 (Nichtabhilfebeschluss vom 22. Juli
2002) wird verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Beschwerdewert: 8.000 EUR.
Gründe
I.
Mit ihrer fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde wendet sich die Klägerin
dagegen, dass das Landgericht die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des
Senats vom 10.09.1998 26 U 30/97 im Rahmen der von ihr erhobenen
Vollstreckungsabwehrklage nicht ohne, sondern nur gegen Sicherheitsleistung
eingestellt hat.
Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde der Schuldnerin mit der
Begründung nicht abgeholfen, die sofortige Beschwerde sei bereits nicht statthaft;
im Übrigen habe die Schuldnerin in ihrem mit der Vollstreckungsabwehrklage
eingebrachten Einstellungsantrag Gründe, die eine Einstellung ohne
Sicherheitsleistung rechtfertigten, nicht vorgetragen. Auf die in der
Beschwerdeschrift vorgetragenen Gründe für eine Einstellung ohne
Sicherheitsleistung ist das Landgericht nicht eingegangen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist unzulässig. Auf der Grundlage der seit dem 1.1.2002
geltenden Zivilprozeßordnung sind Rechtsmittel gegen
Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO unstatthaft; dies gilt auch für das
bislang überwiegend als statthaft angesehene Rechtsmittel der außerordentlichen
befristeten Beschwerde (sog. Ausnahmebeschwerde).
1.
Während nach §§ 707 Abs. 2 S. 2, 719 Abs. 1 S. 1 ZPO die Anfechtung von
Beschlüssen über Anträge auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung in
Verfahren auf Wiedereinsetzung, Wiederaufnahme, Einspruch oder Berufung
ausdrücklich ausgeschlossen ist, fehlt für Einstellungsanträge nach Erhebung einer
Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO) oder Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO)
in § 769 Abs. 3 ZPO ein entsprechender Ausschluss von Rechtsmitteln.
Schon nach der ZPO in ihrer bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung war wegen
dieses unterschiedlichen Gesetzeswortlauts die Statthaftigkeit von Rechtsbehelfen
gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO streitig.
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gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO streitig.
Teilweise wurde die Auffassung vertreten, eine Einstellungsentscheidung nach §
769 ZPO sei auf einfache oder sofortige (auch dies war umstritten) Beschwerde
unbeschränkt überprüfbar. Die Gegenauffassung wandte im Hinblick auf eine in §
769 Abs. 3 ZPO bestehende planwidrigen Regelungslücke § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO
analog an und kam auf diese Weise zur grundsätzlich fehlenden Statthaftigkeit
eines Rechtsbehelfs. Die überwiegende Auffassung in Literatur und
Rechtsprechung (vgl. die umfangreichen Nachweise bei Schuschke/Walker,
Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 3. Aufl., Bd. I, § 769 Rn. 14, Fußn. 41
ff) ließ eine sofortige Beschwerde ebenso wie bei Entscheidungen nach §§ 719, 707
ZPO nur als Ausnahmebeschwerde in Fällen greifbarer Gesetzeswidrigkeit zu. Zur
Begründung wurde ausgeführt, dass Differenzierungen zwischen den einzelnen
Einstellungsanträgen und Beschwerdeformen nicht durch die Interessenlage der
Parteien gerechtfertigt seien. Es liege vielmehr eine nicht hinreichend klare
Konzeption des Gesetzgebers vor (vgl. die .Zusammenstellung bei Schneider MDR
1985, 547 ff). Eine vermittelnde Auffassung (so Thomas Putzo, ZPO, 24. Aufl., §
769, Rn. 18) wiederum behandelte die sofortige Beschwerde zwar grundsätzlich als
zulässig, beschränkte indes die Beschwerdegründe auf Fälle greifbarer
Gesetzeswidrigkeit und/oder grobe Ermessensfehler (zu der vielgestaltigen
Kasuistik vgl. die tabellarische Obersicht bei Lembke MDR 2000,
2.
Nach der Neukonzeption des Rechtsmittelrechts durch das
Zivilprozeßreformgesetz kann auf der Grundlage der seit dem 01.01.2002
geltenden ZPO die bisher herrschende Rechtsprechungspraxis, die sofortige
Beschwerde gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO als unstatthaft
anzusehen, andererseits aber dem Ausnahmebeschwerdegrund der "greifbaren
Gesetzeswidrigkeit" nahezu jede grob fehlerhafte Entscheidung zu unterstellen,
nicht aufrechterhalten werden.
2.1.
Schon nach altem Recht war der Ausnahmebeschwerdegrund der greifbaren
Gesetzeswidrigkeit von den Instanzgerichten häufig unzulässig ausgeweitet
worden, indem dieser Fallgruppe jeder grobe Fehler des Erstrichters unterstellt
wurde, etwa weil die Grenzen der Ausübung richterlichen Ermessens nicht
eingehalten oder Ermessen wie im vorliegenden Fall überhaupt nicht ausgeübt
oder rechtliches Gehör versagt worden war. Insoweit hatte der BGH schon in der
Vergangenheit Veranlassung darauf hinzuweisen, dass die Ausnahmebeschwerde
wegen "greifbarer Gesetzeswidrigkeit" auf wirkliche Ausnahmefälle "krassen
Unrechts" zu beschränken sei (NJW RR 1999, 1585), davon sei auszugehen, wenn
die Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar sei,
weil sie jeder rechtlichen Grundlage entbehre und dem Gesetz inhaltlich fremd sei
(BGH NJW 1993, 135). Der BGH hat daher mit Billigung großer Teile der Literatur
(vgl. Zöller Gummer, ZPO, 23. Auflage, § 567 Rn. 20 a) in seiner vor Inkrafttreten
der geänderten ZPO ergangenen Rechtsprechung darauf verwiesen, dass in Fällen,
in denen mangels greifbarer Gesetzwidrigkeit der Rechtsmittelweg verschlossen
sei, nicht mit der Ausnahmebeschwerde, sondern im Wege der Gegenvorstellung
die Korrektur des Verstoßes durch das Ausgangsgericht möglich und angezeigt
sei.
2.2.
Entgegen der überwiegenden Kommentarliteratur, die soweit ersichtlich unter
Verweis auf die bisher h.M. weiterhin die Ausnahmebeschwerde als Rechtsmittel
gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO für statthaft hält (vgl. Zöller
Gummer, aaO, § 769, Rn. 13; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60.
Aufl., § 769, Rn. 12; Schuschke Walker, aaO, § 769, Rn. 14; Musielak Lackmann,
ZPO, 3. Aufl., § 769, Rn. 6; § 707, Rn. 13), besteht nach Auffassung des Senats
angesichts der mit dem Zivilprozeßreformgesetz geschaffenen Neukonzeption des
Beschwerderechts mit der generellen Abhilfebefugnis des Ausgangsgerichts nach
§ 572 Abs. 1 ZPO kein Bedürfnis mehr für die Zulassung einer
Ausnahmebeschwerde gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO.
Für die Rechtsbeschwerde hat der BGH (Beschl. v. 07.03.2002, NJW 2002, 1577)
darauf hingewiesen, dass nach der Neuregelung des Beschwerderechts durch das
Zivilprozessreformgesetz der BGH gegen Beschlüsse der Beschwerdegerichte
ausschließlich in den Fällen des § 574 Abs. 1 ZPO angerufen werden könne; ein
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ausschließlich in den Fällen des § 574 Abs. 1 ZPO angerufen werden könne; ein
außerordentliches Rechtsmittel zum BGH sei auch dann nicht statthaft, wenn die
Entscheidung ein Verfahrensgrundrecht des Beschwerdeführers verletze oder, aus
sonstigen Gründen "greifbar gesetzeswidrig" sei. In einem solchen Fall sei die
angefochtene Entscheidung durch das Gericht, das sie erlassen habe, ggfs. auf
Gegenvorstellung, zu korrigieren. Werde ein Verfassungsverstoß dabei nicht
beseitigt, komme allein eine Verfassungsbeschwerde zum
Bundesverfassungsgericht in Betracht. Die Entscheidung, die in der Literatur
ausdrücklich auf Zustimmung gestoßen ist (Lipp NJW 2002, 1700), betrifft zwar nur
die bisherige Ausnahmebeschwerde zum BGH, die ihr zugrundeliegende
Problematik besteht jedoch auch dann, wenn erstinstanzliche
Nebenentscheidungen mit der sofortigen Beschwerde nicht statthaft angefochten
werden können oder die Beschwerde im Einzelfall unzulässig ist. Auch in diesen
Fällen besteht wegen der Abhilfemöglichkeit des Erstrichters kein Bedürfnis für die
Zulassung einer Ausnahmebeschwerde. Eine solche Abhilfemöglichkeit ergibt sich
im Beschwerderecht nach Auffassung des Senats zunächst jedenfalls auf der
Grundlage von § 572 ZPO; das hier geregelte Abhilfeverfahren ist seiner Funktion
nach ein aus Gründen der Prozeßökonomie vorgeschriebenes Verfahren, das
inhaltlich dem Verfahren über eine Gegenvorstellung entspricht (Zöller Gummer,
aaO, § 572 Rn. 4). Zu einer Abhilfe ist daher das Erstgericht auch dann befugt,
wenn die Beschwerde unstatthaft oder unzulässig ist (OLG Nürnberg JurBüro 1962,
359; Zöller Gummer aaO, Rn. 14; Lipp, NJW 2002,1702 m.w.N.; MüKo Lipp,
Aktualisierungsbd. ZPO, §. 567, Rn. 18, zit. nach Lipp, NJW aaO), sofern die
angefochtene Entscheidung nicht bindend geworden ist (§§ 572 Abs. 1 S. 2, 318
ZPO). Ob in diesem Fall und darüber hinaus eine Abhilfemöglichkeit in
entsprechender Anwendung von § 321 a ZPO gegeben sein kann (so Lipp aaO;
Schellhammer, Zivilprozeß, 9. Aufl., Rn. 1098), bedarf hier keiner Entscheidung.
3.
Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels gegen Einstellungsentscheidungen auf der
Grundlage von § 769 ZPO hängt danach davon ab, ob aufgrund des im Normtext
nicht ausdrücklich formulierten Ausschlusses eines Rechtsmittels allgemeines
Beschwerderecht Anwendung findet und daher nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO die
sofortige Beschwerde als statthaft angesehen werden muss, oder ob insoweit von
einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann, die mit der
analogen Anwendung von § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO zu schließen ist.
3.1.
Allerdings setzt jeder zulässige Analogieschluss eine planwidrige Lücke voraus.
Zweifel daran könnten sich ergeben, weil der Gesetzgeber in dem Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung der ZPO und anderer Gesetze einem "Vorläufer" der
jüngsten ZPO Reform aus der 10. Legislaturperiode (BT Drucks. 10/3054) eine
Ergänzung von § 769 Abs. 3 ZPO in Gestalt eines ausdrücklichen Ausschlusses von
Rechtsbehelfen vorgesehen hatte, es in der Folgezeit zu einer entsprechenden
Ergänzung der Bestimmung indes nicht gekommen ist und durch das
Zivilprozeßreformgesetz § 769 Abs. 3 ZPO nur insoweit eine Änderung erfahren
hat, als nunmehr die entsprechende Entscheidung durch Beschluss ergeht (statt:
"kann ohne mündliche Verhandlung ergehen").
3.2.
Die methodischen Bedenken gegen eine Analogiebildung sind jedoch nach
Auffassung des Senats nicht durchgreifend. Zunächst weist Lackmann (Musielak-
Lackmann, aaO, § 707, Rn. 12) zutreffend darauf hin, dass die in der 10.
Legislaturperiode beabsichtigte ausdrückliche Regelung der Unstatthaftigkeit eines
Rechtsmittels im Gesetzgebungsverfahren nur unter Hinweis auf die durch
Rechtsprechung anerkannte Unanfechtbarkeit fallen gelassen worden ist.
Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Neufassung von § 769 Abs. 3 ZPO
lediglich zum Ziel gehabt hat, der Änderung von § 128 Abs. 4 ZPO Rechnung zu
tragen (so die amtliche Begründung, vgl. Rimmelspacher, Zivilprozeßreform 2002,
S. 220). Aus der Neufassung der Vorschrift lässt sich daher nicht die
Schlussfolgerung ziehen, der Gesetzgeber habe entgegen seinen in der 10.
Legislaturperiode noch vorhandenen Absichten nunmehr bewusst die
Unstatthaftigkeit eines Rechtsmittels nicht in Gesetzesform gebracht.
3.3.
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Im Ergebnis ist daher mit der bisher herrschenden Meinung zum alten Recht ein
Rechtsmittel gegen Einstellungsentscheidungen nach § 769 ZPO als unstatthaft
anzusehen, denn Normzweck und Interessenlage sind bei Entscheidungen nach §§
719, 707 ZPO einerseits und § 769 ZPO andererseits gleich. Es besteht daher kein
überzeugender Grund, weshalb beide Fälle hinsichtlich der Anfechtbarkeit
verschieden behandelt werden sollten (vgl. Musielak Lackmann, aaO, § 707, Rn.
12; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 6. Auflage, Rn. 1363 m.w.N.).
4.
Erweist sich danach die sofortige Beschwerde der Klägerin als unstatthaft und
damit unzulässig, besteht gleichwohl Veranlassung, auf die Fehlerhaftigkeit der
erstinstanzlichen Abhilfeentscheidung hinzuweisen.
Diese ist deshalb fehlerhaft, weil sie den Begriff der Abhilfe verkennt. Neues
Vorbringen, das in der Beschwerdeschrift enthalten ist, muss nämlich immer
berücksichtigt werden (Hess VGH JurBüro 1989, 1144 f, Zöller Gummer, aaO, §
572 Rn. 7). Es ist gerade der Zweck des Abhilfeverfahrens, die
kostenverursachende Befassung des Beschwerdegerichts mit der Sache zu
vermeiden, wenn gebotene Korrekturen der Erstentscheidung durch das
Erstgericht selbst vorgenommen werden können. Der entsprechenden Amtspflicht
(OLG Hamm, RPfleger 1986, 483), den Inhalt der Beschwerdeschrift daraufhin zu
überprüfen, ob die angefochtene Entscheidung zu Recht ergangen ist, hat sich
vorliegend das Erstgericht ohne nähere Begründung nicht unterzogen. Das
Landgericht wird daher ggfs. von Amts wegen oder auf erneuten
Einstellungsantrag der Schuldnerin die Voraussetzungen für eine Einstellung ohne
Sicherheitsleistung nochmals zu überprüfen haben.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 3, 97 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.