Urteil des OLG Frankfurt vom 24.04.2003

OLG Frankfurt: anhörung, bedingte entlassung, gutachter, verzicht, verfügung, form, zivilprozessrecht, quelle, psychiater, strafvollstreckung

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 410/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 454 Abs 2 S 3 StPO, § 454
Abs 2 S 7 StPO
(Strafrestaussetzung: Erneute Anhörung des
Sachverständigen nach Ergänzungsgutachten zur
Prognoseentscheidung)
Leitsatz
Bestehen Zweifel an der Tragfähigkeit des erstatteten Prognosegutachtens und werden
deshalb ein Zusatzgutachten eines weiteren Sachverständigen und sodann ein dessen
Erkenntnisse einbeziehendes abschließendes Gutachten des mit der Prognoseerteilung
beauftragten Gutachters eingeholt, so ist eine erneute mündliche Anhörung des
Sachverständigen gem. § 454 I 3 StPO geboten, sofern die Beteiligten auf sie nicht
gem. § 454 II 7 StPO verzichtet haben.
Tenor
1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des
Rechtsmittels – an die Strafvollstreckungskammer des Landgericht Gießen
zurückverwiesen.
Gründe
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die
bedingte Entlassung des Verurteilten gemäß § 57 I StGB abgelehnt. Hiergegen
richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des
Verurteilten, der auch - ein zumindest vorläufiger - Erfolg nicht versagt werden
kann. Die Staatsanwaltschaft beim OLG, die der sofortigen Beschwerde
beigetreten ist, hat zur Begründung folgendes ausgeführt:
"Nachdem der Beschwerdeführer durch Urteil des Amtsgerichts Darmstadt vom
10.12.1997 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war,
wobei wegen des Verbrechens des erpresserischen Menschenraubs eine
Einsatzstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt wurde, war die Kammer
gehalten, gem. §§ 454 Abs. 2 Ziff. 2 StPO, 66 Abs. 3 StGB ein
Sachverständigengutachten zur Gefahrenprognose einzuholen. Diesem
Erfordernis genügte das Gericht durch Beschluss vom 2.8.2002 (Blatt 1314 in der
Akten Bd. VII). Nachdem am 13.11.2002 in das Gutachten in durch den
Diplompsychologen J. C. erstellt und am 13.11.2002 der Kammer zugegangen war,
fragte die Kammer unter dem 19.11.2002 beim Verurteilten und bei der
Staatsanwaltschaft an, ob ein Verzicht auf die mündliche Anhörung des
Gutachters in Betracht komme (Blatt 1317 Rückseite der Akten Bd. VII). Ein
Verzicht wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft erklärt (Blatt 1329 der Akten
Bd. VII), während der Verurteilte ausdrücklich mündliche Anhörung beantragte
(Blatt1330 der Akten Bd. VII). Die mündliche Anhörung des Gutachters wurde
sodann am 30.1.2003 im Beisein des Verurteilten und des Verteidigers
durchgeführt (Blatt 1333 der Akten Bd. VII). Der Sachverständige gab im Zuge der
Anhörung an, er halte eine vorherige Abklärung der psychosenahen an
Symptomatik des Verurteilten für notwendig. Das Gericht schlug daraufhin vor, ein
Ergänzungsgutachten durch einen Psychiater durchführen zu lassen, wozu sich der
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Ergänzungsgutachten durch einen Psychiater durchführen zu lassen, wozu sich der
Verurteilte und sein Verteidiger einverstanden erklärten. Das
Ergänzungsgutachten wurde mit Beschluss vom 31.1.2003 (Blatt 1333 Rückseite
der Akten Bd. VII ) in Auftrag gegeben. Unter dem 10.2.2003 erstattete der
Sachverständige Dr. G. ein psychiatrisches Zusatzgutachten, das der Kammer am
11.2.2003 zuging (Blatt 1337 ff. der Akten Bd. VII). Der Kammervorsitzende stellte
es dem Verurteilten, der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft am 12.2.2003
zur Verfügung und gab Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zweier Wochen
(Blatt 1355 der Akten Bd. VII). Am selben Tage beauftragte er den
Sachverständigen C. mit einer ergänzenden sachverständigen Stellungnahme
unter Berücksichtigung der gutachterlichen Feststellungen durch Dr. G.. Diese
Stellungnahme fertigte der Diplompsychologe am 10.3.2003. Sie ging der Kammer
am 12.3.2003 zu (Blatt 1357 der Akten Bd. VII). Auch die ergänzenden
Stellungnahme stellte das Gericht der Verteidigung, dem Verurteilten und der
Staatsanwaltschaft am 13.3.2003 zur Verfügung mit einer Gelegenheit zur
Stellungnahme binnen einer Woche (Blatt 1358 Rückseite der Akten Bd. VII).
Sodann traf die Vollstreckungskammer ihre jetzt angefochtene Entscheidung,
ohne eine mündliche Anhörung des Sachverständigen Dr. G. und eine erneute
mündliche Anhörung des Sachverständigen C. durchzuführen. Damit hat sie nach
hiesiger Auffassung der Verfahrensvorschrift des §§ 454 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht
genügt. Diese sieht zwingend eine mündliche Anhörung des Sachverständigen vor.
Eine Ausnahmegrund nach § 454 Abs. 2 Satz 7 StPO durch allseitigen Verzicht
durch den Verurteilten, seinen Verteidiger und Staatsanwaltschaft war nicht
gegeben. Auch eine Fallkonstellation, bei der die Strafvollstreckungskammer
generell von der Einholung eines Sachverständigengutachtens und daher auch von
der zugehörigen Anhörung absehen konnte, weil eine Aussetzung offensichtlich
nicht verantwortet werden kann und das Gericht deshalb die Strafaussetzung erst
gar nicht in Betracht zieht (vgl. dazu BGH NJW 2000, 1663, 1664 ) lag nicht vor.
Gegen den hier vertretenen Lösungsvorschlag kann meines Erachtens nicht
eingewandt werden, dass immerhin die mündliche Anhörung des einen Gutachters
vom 30.1.2003 stattgefunden habe. Denn die zwingend vorgeschriebene
mündliche Anhörung des Sachverständigen hat den Zweck, dass dessen Votum
eingehend diskutiert und hinterfragt werden kann (OLG Bamberg, NStZ-RR 1999,
122; OLG Koblenz NStZ-RR 1999, 345; OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom
28.7.1999 - 3 Ws 689/99, vom 5.4.2000 - 3 Ws 356/00 sowie vom 29.1.2003 - 3 Ws
102/03). Wie sich aus § 454 Abs. 2 Satz 6 StPO ergibt, ist den Beteiligten,
namentlich dem Verurteilten und seinem Verteidiger, bei dieser Gelegenheit die
Möglichkeit zu geben, Fragen an den Gutachter zu stellen und Erklärungen
abzugeben. Dieser Gesetzeszweck bleibt ebenso wie schon der Wortlaut des §§
454 Abs. 2 Satz 3 StPO ersichtlich nicht nur auf die Anhörung eines ersten
Gutachters beschränkt. Es gilt vielmehr vor allem dann, wenn- wie vorliegend- seit
der Erstattung des Prognosegutachtens bereits ein deutlicher Zeitraum
verstrichen ist und ausweislich des Protokolls der Anhörung nicht nur der
Verteidiger und der Verurteilte, sondern auch der Gutachter und das Gericht selbst
Zweifel an der Tag Fähigkeit der ersten Begutachtung hatten. Diese Zweifel waren
so durchgreifender Natur, dass sie das Gericht zum Auftrag an einen zweiten
Gutachter und zur Herbeiführung einer ergänzenden Stellungnahme des ersten
Gutachters veranlasst hatten. Es handelte sich demnach bei den beiden
nachfolgenden gutachterlichen Stellungnahmen nicht lediglich um unwesentliche
oder klarstellende Ergänzungen, sondern um eigenständige, bedeutsame
Aussagen fundamentaler Art. Dies wird schon dadurch deutlich, dass ein
Gutachter einer neuen Fachrichtung beigezogen worden war. In der unterbliebenen
mündliche Anhörung des Sachverständigen liegt daher meines Erachtens ein
Verfahrensfehler, der zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur
Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer zwingt (vgl. etwa
zur gleich gelagerten Problematik des §§ 453 Abs. 1 Satz 3 StPO OLG Frankfurt am
Main NStZ-RR 1996,91 m.w.N )."
Diesen überzeugenden Ausführungen erschließt sich der Senat an. Durch das
zwischenzeitlich seitens der Staatsanwaltschaft verfügte Absehen von der weiteren
Vollstreckung (§ 456 StPO) und die erfolgte Abschiebung des Verurteilten in die
Türkei hat sich sein Aussetzungsantrag auch nicht etwa erledigt ( vgl.
Senatsbeschluss vom 27.6.1996 - 3 Ws 491-492/96 ). Denn der Verurteilte muss
auf Grund der ergangenen Anordnung der Staatsanwaltschaft gem. § 456 a II 3
StPO damit rechnen, dass er bei einer Rückkehr nach Deutschland verhaftet und
die Strafvollstreckung fortgesetzt wird (vgl. OLG Oldenburg, StV 1993,2 105).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.