Urteil des OLG Frankfurt vom 27.01.2005

OLG Frankfurt: unterbringung, vollstreckung der strafe, gerichtliche psychiatrie, sicherungsverwahrung, gesamtstrafe, klinik, alkoholmissbrauch, vollzug, schuldfähigkeit, gebüsch

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 1036/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 63 StGB, § 66 Abs 3 S 1 Alt 2
StGB, § 66b Abs 3 StGB, § 67d
Abs 6 StGB
(Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus und Anordnung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung)
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Gießen vom 13.8.2004 wird aufgehoben.
Die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist
erledigt. Der Verurteilte ist in dieser Sache sofort aus der Unterbringung zu
entlassen.
2. Es tritt Führungsaufsicht ein.
a. Die Dauer der Führungsaufsicht beträgt fünf Jahre.
b. Der Verurteilte untersteht für die Dauer der Führungsaufsicht der
Leitung und Aufsicht des für seinen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers.
c. Der Verurteilte wird angewiesen,
- Wohnung in der Einrichtung "X", ...weg ... in O 1 zu nehmen und den
Wohnsitz nicht ohne vorherige Absprache mit dem Bewährungshelfer zu wechseln,
- sich nicht an Kinderspielplätzen und Schulhöfen aufzuhalten,
- sich zu Beginn eines jeden Monats bei dem Bewährungshelfer zu
melden, wobei weitere Einzelheiten der Terminsbestimmung der Aufsichtsstelle
überlassen bleiben, und
- jeden Wechsel des Wohnortes unverzüglich der Aufsichtsstelle
mitzuteilen.
3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich des Beschwerdeverfahrens, sowie die
insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten hat die Staatskasse
zu tragen.
4. Die Belehrung über die Führungsaufsicht, auch über die Folgen eines
Weisungsverstoßes, gem. § 268 a StPO wird der Klinik für forensische Psychiatrie in
O 2 übertragen.
Gründe
Der Verurteilte befindet sich derzeit im Vollzug der Unterbringung nach § 63 StGB
in der Klinik für forensische Psychiatrie in O 2.
Durch den angefochtenen Beschluss hat das Landgericht Gießen die mit Urteil des
Landgerichts Darmstadt vom 18.7.1997 angeordnete Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nicht zur Bewährung ausgesetzt.
Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig und
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Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig und
begründet.
Die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus war
nicht auszusetzen. Vielmehr war sie sogar für erledigt zu erklären, da die
Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen (§ 67 d VI 1 StGB) .
Für die Anordnung der nachträglicher Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b III StGB
sprechen keine dringenden Gründe, so dass ein Erlass eines
Unterbringungsbefehls ausschied .
Die mit der Erledigungsentscheidung eintretende Führungsaufsicht (§ 67 d VI 2
StGB) war vom Senat auszugestalten .
I. Der mittlerweile einundsechzig Jahre alte Beschwerdeführer ist seit 1959 wegen
zahlreicher Straftaten, überwiegend wegen Diebstahlsdelikten, aber auch
verschiedener Verkehrsdelikte und insgesamt sechs Mal auch wegen sexuellen
Missbrauchs von Kindern strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er hat die meiste
Zeit seines Lebens in Gefängnissen zugebracht.
Insgesamt hat er seit 1960 lediglich ca. sechseinhalb Jahre in Freiheit verbracht,
wobei er nach eigenen Schätzungen -eindeutige Feststellungen lassen sich hierzu
auch anhand des Akteninhaltes nicht treffen - nie länger als ein halbes Jahr in
Freiheit gewesen ist und er in diesen Zeiten häufig auf der Flucht war.
Im Zusammenhang mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist der
Verurteilte im Einzelnen wie folgt verurteilt worden:
1. (Nr. 9 im BZR) Durch Urteil des AG Lindau vom 30.5.1967 -D2305-LS 81/67
wurde er wegen Unzucht mit einem Kinde, begangen am 14.10.1966 zu neun
Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte einem sechsjährigen Mädchen den
Schlüpfer heruntergezogen und es an der Scheide geleckt.
2. (Nr. 13 im BZR): Wegen Diebstahls in zwei Fällen, davon einmal in Tateinheit mit
Fahren ohne Fahrerlaubnis, sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
verhängte das Amtsgericht Freiburg im Breisgau am 10.12.1973 -B1204-35 Ls
126/73 - eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren acht Monaten.
Er hatte am 12.10.1973 ein sechsjähriges Mädchen in den Wald gelockt, ihm mit
der Hand unter die Hose gefasst und mit dem Mund dessen bloßes
Geschlechtsteil berührt.
3. (Nr. 15 im BZR): Am 21.12.1977 verurteilte ihn das Landgericht Frankfurt in dem
Verfahren M1200-41 Js 1336/76 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes,
begangen am 28.9.1976 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren.
Einbezogen wurden die Strafen aus einer vorausgegangenen Verurteilung durch
das Amtsgericht Frankfurt vom 7.2.1977, in welcher er wegen schweren Diebstahls
in zwei Fällen, sowie Betruges zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt
worden war.
4. (Nr. 18 im BZR): Das Landgericht Frankfurt am Main verurteilte ihn am
26.11.1984 in dem Verfahren M1200-41 Js 7103/84 wegen Diebstahls in fünf
besonders schweren Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Verurteilte hatte u.a. am
16.12.1983 bei einem neunjährigen Mädchen auf einem Schulhof dessen
entblößten Unterkörper fotografiert und das Kind an der Scheide geleckt.
5. (Nr. 19 im BZR): Durch Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 2.8.1989 -
M1100-26 Js 22721.0/88 3 KLs - wurde gegen ihn wegen Diebstahls in neun Fällen,
sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen eine Freiheitsstrafe von
sechs Jahren verhängt.
Der Verurteilte hatte am 30.4.1988 einer Sechsjährigen im Treppenhaus den
Schlüpfer ausgezogen und an der Scheide des Mädchens geleckt.
Am 4.6.1988 hatte er einem siebenjährigen Mädchen ebenfalls den Schlüpfer
ausgezogen, sein Glied an das entblößte Geschlechtsteil des Kindes gedrückt und
dem Kind einen Zungenkuss gegeben.
Am 4.7.1988 hatte der Verurteilte ein fünfjähriges Mädchen in ein Gebüsch
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Am 4.7.1988 hatte der Verurteilte ein fünfjähriges Mädchen in ein Gebüsch
gelockt, ihm den Schlüpfer ausgezogen, den entblößten Unterkörper des Kindes
fotografiert und das Mädchen an der Scheide geleckt.
Am selben Tag lockte er ein siebenjähriges Mädchen in ein Gebüsch, packte es am
Genick, zog dessen Hose herunter und gab ihm einen Stoß, so dass es hinfiel. Er
fotografierte sodann den entblößten Unterkörper des Mädchens.
Schließlich zog er am 5.7.1988 einer Achtjährigen im Gebüsch die Hose herunter
und leckte sie an der Scheide.
Für diese Taten wurden Einzelstrafen von einem Jahr, einem Jahr und sechs
Monaten, einem Jahr, fünf Monaten und von nochmals einem Jahr festgesetzt.
Die gleichzeitig abgeurteilten Diebstähle wurden mit Einzelstrafen von zwei Mal
einem Jahr und sieben Mal neun Monaten belegt.
Bei keiner der vorgenannten Verurteilungen 1)-5) wurden die Voraussetzungen der
§§ 20; 21 StGB bejaht. Im Rahmen der vorausgegangenen Strafverfahren wurde
der Verurteilte insgesamt drei Mal psychiatrisch begutachtet: 1974 in dem
Verfahren vor dem Landgericht Freiburg durch Dr. A, 1984 in dem Verfahren vor
dem Landgericht Frankfurt durch Prof. Dr. B, sowie 1989 durch Prof. Dr. C
anlässlich des Verfahrens vor dem Landgericht Darmstadt.
Die Ergebnisse dieser Gutachten sind auszugsweise in den Folgegutachten von Dr.
D und Prof. Dr. E, auf die noch einzugehen sein wird, mitgeteilt.
Dem Verurteilten wurde danach ein geringes Selbstwertgefühl (Dr. A) und
Kontaktarmut (Prof. Dr. B) bescheinigt. Die sexuellen Straftaten verliefen nach
dem Prinzip des geringsten Widerstandes, wobei der Angeklagte hier nicht
vordringlich von dem Ziel eines massiven Sexualkontaktes, sondern lediglich von
dem Wunsch eines spärlichen Hautkontaktes geleitet würde (Prof. Dr. B).
Er ziehe sich auf das Einfachste, Schwächste und am wenigsten Belastende zurück
(Dr. A). Nach Auffassung von Prof. Dr. C liegt bei dem Verurteilten eine psycho-
sexuelle Reifungshemmung bei asthenisch-selbstunsicheren und haltschwachen
Charaktermerkmalen vor.
Alle drei genannten Gutachter kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass
der Verurteilte zwar eine auffällige Persönlichkeit sei, meinten jedoch, dass wegen
zu geringer Stärke seiner Störungen und wegen des zu geringen Einflusses des
Alkohols bei den Taten stets Schuldfähigkeit vorgelegen habe.
6. (Nr. 21 BZR): Die letzte Verurteilung wegen einer Sexualstraftat erfolgte am
5.3.1997 durch das Landgericht Darmstadt in dem Verfahren M1100-11 Js
16436.0/96 3 KLs . Gegen den Verurteilten wurde wegen sexuellen Missbrauchs
eines Kindes eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt und die Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Der Verurteilte hatte am 27.10.1995 ein sechsjähriges Mädchen aufgefordert, die
Hose herunter zu ziehen, was diese auch tat. Er fotografierte ihren entblößten
Unterkörper, steckte einen Finger in ihre Scheide, zog diesen jedoch wieder
heraus, als das Kind sagte, dass ihm dies weh tue. Er entblößte dann sein Glied
und steckte es dem Mädchen in den Mund mit der Aufforderung, daran zu
lutschen. Das Kind kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach und bewegte nur
kurz die Lippen.
Das Landgericht Darmstadt ging - sachverständig beraten durch Dr. med. D - in
den Urteilsgründen vom Vorliegen einer depressiven Neurose in Verbindung mit
Alkoholmissbrauch und phasischen Verstimmungen aus, was eine krankhafte
seelische Störung darstelle, welche im Zusammenwirken mit einem festgestellten
leichten hirnorganischen Schaden und der enthemmenden Wirkung des Alkohols
zu einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum
Tatzeitpunkt geführt habe.
Mit Urteil vom 18.7.1997 verhängte das Landgericht Darmstadt gegen den
Verurteilten wegen Diebstahls in sechs besonders schweren Fällen und wegen
versuchten Diebstahls in weiteren drei besonders schweren Fällen unter
Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem bereits genannten Urteil vom 5.3.1997
eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und hielt die Maßregel der
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eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und hielt die Maßregel der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufrecht.
Der Verurteilte befand sich sodann ab dem 3.6.1997- unterbrochen durch eine
Flucht von einhundertachtzig Tagen - zunächst bis zum 7.7.2000 im Vollzug der
Unterbringung in der Klinik für forensische Psychiatrie O 3.
Die Klinik vertrat dabei schon früh die Auffassung, bei dem Verurteilten bestehe
neben einem Alkoholmissbrauch lediglich der Verdacht auf eine antisoziale
Persönlichkeitsstörung, welcher jedoch kein Krankheitswert zukomme, so dass es
sich um eine Fehleinweisung handele.
Mit Beschluss vom 19.6.2000 ordnete die zuständige Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Marburg daraufhin die Begutachtung des Beschwerdeführers,
sowie die Vollstreckung der Strafe vor der weiteren Unterbringung an.
Unter Anrechnung der bereits vollstreckten Unterbringungsdauer gemäß § 67 IV
StGB war das Strafende auf den 29.5.2002 notiert; seit dem 27.5.2002 befindet
sich der Beschwerdeführer wieder im Vollzug der Unterbringung - zunächst in der
Außenstelle in Gießen, mittlerweile in der Einrichtung in O 2.
Prof. Dr. med. E kam in seinem Gutachten vom 26.4.2001 zu dem Schluss, dass
abgesehen von einer dissozialen Fehlprägung über Jahrzehnte hinweg, einer
haltschwachen Persönlichkeitsakzentuierung und einer psychosexuellen
Reifungshemmung mit deutlichen heterosexuell pädophilen Tendenzen kein
psychopathologischer Befund festzustellen sei, der einer der in § 20 StGB
genannten Eingangsvoraussetzungen verminderter oder aufgehobener
Schuldfähigkeit zuzuordnen wäre. Insbesondere hätten sich im Verlauf der
Untersuchungsgespräche keinerlei Hinweise auf hirnorganisch bedingte
Beeinträchtigungen von Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnis
ergeben. Aus den Verlaufsbeobachtungen der Klinik für gerichtliche Psychiatrie sei
zudem deutlich geworden, dass Herr ... auch im längeren Zeitverlauf nicht unter
stärkeren depressiven Verstimmungen leide, so dass sich auch die diesbezügliche
Annahme phasischer Verstimmungen durch den früheren Gutachter Dr. D im
Nachhinein als Irrtum herausgestellt habe.
Auch habe es keine Anzeichen für einen massiven Alkoholmissbrauch gegeben.
Vielmehr sei es dem Verurteilten offensichtlich nicht besonders schwer gefallen,
das in der Klinik und in Haftanstalten geltende Alkoholverbot einzuhalten; es sei zu
keinen Verstößen diesbezüglich gekommen.
Durch Beschluss vom 10.9.2001 hat die 7. Strafkammer -
Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg es aus Rechtsgründen
abgelehnt, die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
für erledigt zu erklären, da bei einer Fehleinweisung die
Strafvollstreckungskammern nicht befugt seien, die Maßregel in Wegfall zu
bringen, sondern dies dem erkennenden Gericht im Rahmen eines
Wiederaufnahmeverfahrens vorbehalten sei, so dass die Frage der Fehleinweisung
auch nicht mehr von der Kammer zu prüfen sei.
Mit Beschluss vom 2.1.2002 hob das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. die
vorgenannte Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf und verwies die
Sache aus verfahrensrechtlichen Gründen zur erneuten Entscheidung an die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg zurück. Die Kammer habe
sehr wohl auch im Falle einer Fehleinweisung die Frage der Erledigung zu prüfen,
wobei allerdings dahinstehen könne, ob die Frage der Fehleinweisung bereits
entscheidungsreif sei, da die Kammer jedenfalls auch eine Entscheidung
hinsichtlich der Frage der Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe hätte treffen
müssen, da bereits mehr als 2/3 der Strafe verbüßt gewesen sei.
Durch Beschluss vom 28.3.2003 lehnte die zuständige Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Marburg erneut die Aussetzung der Unterbringung zur
Bewährung ab, nachdem mittlerweile die Freiheitsstrafe komplett vollstreckt war.
Eine Erledigung der Maßregel komme nicht in Betracht, da das Urteil auf einer
zutreffenden Tatsachengrundlage beruhe, aus welcher das erkennende Gericht
lediglich eine unzutreffende rechtliche Bewertung gezogen habe, welche nur mit
der Revision hätte angefochten werden können. Die Kammer bezog sich insoweit
ersichtlich auf die Entscheidung des OLG Frankfurt vom 22.10.2002 -3 Ws 557/02,
in welcher der Senat grundsätzlich seine Rechtsprechung zur Frage der Erledigung
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in welcher der Senat grundsätzlich seine Rechtsprechung zur Frage der Erledigung
in Fällen der Fehleinweisung bestätigt, jedoch eine Erledigung für den Fall
ausgeschlossen hat, dass das erkennende Gericht auf Grund einer zutreffenden
Tatsachengrundlage und ohne Irrtum im Tatsächlichen allenfalls den psychischen
Zustand des Verurteilten in rechtlicher Hinsicht falsch bewertet habe.
Ein solcher Fall liegt jedoch - anders als von der Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Marburg angenommen - hier nicht vor. Vielmehr ist das Landgericht
Darmstadt von einem Sachverhalt ausgegangen, der (jedenfalls) im Zeitpunkt der
jetzt zu treffenden Entscheidung nicht (mehr) vorliegt. Weder die Annahme von
phasischen Verstimmungen im Rahmen einer depressiven Neurose noch die einer
hirnorganischen Beeinträchtigung haben sich im Rahmen der
Verlaufsbeobachtung über mehrere Jahre hinweg bestätigt. Auf diesen
angenommenen Befunden beruhte jedoch die Unterbringungsentscheidung.
Nach der gesetzlichen Neuregelung des § 67 d VI StGB ist die Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären, wenn feststeht, dass
die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen, oder die weitere
Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre.
Diese Vorschrift ist mit Wirkung zum 29.7.2004 in Kraft getreten und ist - mangels
anders lautender Übergangsvorschriften - ab Inkrafttreten auch für "Altfälle" ohne
weiteres anzuwenden.
Ausweislich der Entwurfsbegründung (vgl. BT-Drucks. 15/2887 S. 10/14) übernimmt
die Regelung dabei lediglich den von den Strafvollstreckungsgerichten bereits
zuvor im Wege der Rechtsfortbildung und in analoger Anwendung des § 67 c II 5
StGB entwickelten Rechtssatz, wonach bei nachträglichem Wegfall oder später
festgestelltem anfänglichem Fehlen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 63
StGB sich die Unterbringung erledigt hat und nicht weiter vollstreckt werden darf,
so dass der Untergebrachte sofort zu entlassen ist, es sei denn, es lägen
dringende Gründe für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
gemäß § 66 b III StGB vor, so dass ein Unterbringungsbefehl vom Senat zu
erlassen wäre.
Grundsätzlich will die gesetzliche Neuregelung damit auch die Fälle der
Fehleinweisung erfassen und den Vorschriften über die Erledigung unterstellen.
Ob dies lediglich für den Fall gelten soll, in dem sich nachträglich herausstellt, dass
die der Unterbringungsentscheidung zugrunde liegende Tatsachengrundlage
unzutreffend war, oder auch die Fehleinweisung aufgrund lediglich rechtlich
unzutreffender Bewertung einbezogen werden soll und damit eine Konstellation,
bei welcher der Senat zuletzt eine Übertragung der Grundsätze zur
Erledigungserklärung abgelehnt hat, bedarf keiner abschließenden Entscheidung,
da im vorliegenden Fall jedenfalls eine im Tatsächlichen geänderte Sachlage
gegeben ist.
Die Voraussetzungen des § 67 d VI StGB liegen auch im Übrigen vor. Der Senat
folgt insoweit den in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des
Sachverständigen Prof. Dr. E, wonach sich bei dem Verurteilten weder
hirnorganisch bedingte Beeinträchtigungen noch stärkere depressive
Verstimmungen oder Anzeichen für einen massiven Alkoholmissbrauch
diagnostizieren lassen.
Der Einholung eines neuen Gutachtens bedurfte es nicht, da hiervon neue
entscheidungserhebliche Erkenntnisse nicht zu erwarten sind. Die dem Gutachten
zugrunde liegenden Erkenntnisse basieren auf mehrjährigen Beobachtungen des
Verurteilten im Rahmen der Unterbringung und decken sich zudem mit dem
Ergebnis früherer Begutachtungen, die ebenfalls sämtlich die Voraussetzungen
der §§ 20; 21 StGB verneint haben und auch bezüglich der Beschreibung der
Persönlichkeit des Verurteilten große Übereinstimmung aufweisen.
II. Nach alledem war die Unterbringung für erledigt zu erklären und die Entlassung
des Verurteilten anzuordnen. Denn es fehlen dringende Gründe für die Annahme,
dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird, so dass
kein Unterbringungsbefehl zu erlassen ist.
Für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b III
StGB fehlen bereits die formellen Voraussetzungen.
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Hiernach kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
nachträglich anordnen, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus nach § 67 d VI StGB für erledigt erklärt worden ist, weil der die
Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die
Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht
bestanden hat und
1. (a) die Unterbringung des Verurteilten nach § 63 StGB wegen mehrerer
der in § 66 III 1 StGB genannten Taten angeordnet wurde oder
(b) wenn der Verurteilte wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er
vor der zur Unterbringung nach § 63 StGB führenden Tat begangen hat,
(b1) schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren
verurteilt oder
(b2) in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und
2. die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend
seiner Entwicklung während des Vollzuges der Maßregel ergibt, dass er mit hoher
Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer
seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Der in Bezug genommene § 66 III 1 StGB beinhaltet seinerseits eine Liste so
genannter "Katalogtaten", zu denen neben Verbrechen auch die folgenden
Straftaten zählen: §§ 174 bis 174 c, 176, 179 I-III, 180, 182, 224, 225 I oder II oder §
323 a StGB, soweit die im Rausch begangene Tat ihrerseits ein Verbrechen oder
eine der übrigen vorstehend genannten Straftaten ist.
Da die Unterbringung des Verurteilten "lediglich" wegen einer Straftat nach § 66 III
1 StGB, nämlich eines sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 I StGB
angeordnet worden war und der Verurteilte vor der aktuell vollzogenen
Unterbringung nach § 63 StGB noch nie in einem psychiatrischen Krankenhaus
untergebracht war, scheiden die Varianten (a) oder (b2) von vorneherein aus.
Auch die Voraussetzungen der Alternative (b1) liegen nicht vor, da der Verurteilte
vor der aktuellen Unterbringung noch nie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
drei Jahren wegen einer oder mehrerer Katalogtaten im Sinne des § 66 III 1 StGB
verurteilt worden ist.
Dabei kann die Freiheitsstrafe von drei Jahren als Gesamtstrafe verhängt worden
sein. Erforderlich ist dann jedoch, dass mindestens drei Jahre der Gesamtstrafe auf
Katalogtaten zurückgehen (Münchener Kommentar, StGB, § 66 b Rn 130 unter
Verweis auf § 66 Rn 225 ff). Ist die Gesamtstrafe aus Katalog- und
Nichtkatalogtaten gebildet, so ist eine fiktive Gesamtstrafe allein unter
Zugrundelegung der gemeinsam abgeurteilten Katalogtaten zu bilden (BGH StV
1996, 541 (542) mit Anmerkung Dölling, StV a.a.O., (544)).
Dies ist für § 66 II und III StGB, die insoweit eine vergleichbare Formulierung
enthalten, anerkannt (vgl. z.B. Tröndle-Fischer, StGB, 52. Auflage, § 66 Rn 10;
Lackner/Kühl, StGB, 25. Auflage, § 66 Rn 10; Münchener Kommentar a.a.O. § 66 Rn
180 ff; BGH NJW 1995, 3263 (3264); BGHSt 48, 101 (103); Dölling, a.a.O.) und
muss deshalb nach Auffassung des Senates auch für § 66 b III StGB gelten.
Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. In Betracht käme insoweit allein das Urteil
des Landgerichts Darmstadt vom 2.8.1989, durch das gegen den Verurteilten
wegen Diebstahls in neun Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in
fünf Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt worden ist.
Bei Zugrundelegung nur der für die fünf Fälle des sexuellen Missbrauchs
verhängten Einzelstrafen von einem Jahr sechs Monaten, drei Mal einem Jahr und
ein Mal fünf Monaten, wäre die fiktive Gesamtstrafe durch angemessene Erhöhung
der höchsten Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten zu bilden. Bei
Berücksichtigung der gleichförmigen Begehungsweise, sowie des engen zeitlichen
und situativen Zusammenhangs der Taten, von denen die letzten drei binnen zwei
Tagen begangen worden sind, wäre hierbei - auch bei Berücksichtigung der
einschlägigen Vorstrafen des Verurteilten - eine Gesamtstrafe von deutlich unter
drei Jahren zu bilden.
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Dies entspricht auch der Gewichtung durch das erkennende Gericht.
So summieren sich die für die begangenen Diebstähle verhängten Einzelstrafen
auf insgesamt sieben Jahre drei Monate, während die Summe der für die
Sexualdelikte verhängten Einzelstrafen sich auf vier Jahre elf Monate beläuft.
Zwar ist die Gesamtstrafe gemäß § 54 I S. 2 StGB durch Erhöhung der verwirkten
höchsten Einzelstrafe gebildet, so dass eine Addition der Einzelstrafen bei der
Gesamtstrafenbildung nicht stattfindet, dennoch lässt ein Vergleich der für die
jeweiligen Deliktsbereiche verhängten Einzelstrafen eher ein "Übergewicht" im
Bereich der Eigentumsdelinquenz erkennen.
Da es bereits an den formellen Voraussetzungen für die Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung fehlt, bedarf es keiner abschließenden
Erörterung der weiteren materiellen Voraussetzungen der Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b III Ziffer 2 StGB, wonach die
Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner
Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel ergeben muss, dass er mit hoher
Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer
seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Ohne die Bedeutung der Straftaten für die kindliche Entwicklung zu unterschätzen,
wäre insoweit jedenfalls zu würdigen, dass in keinem Fall entsprechende Folgen in
der Vergangenheit positiv festgestellt worden sind.
Mit einer Steigerung in der Begehungsweise wäre nicht zu rechnen wie Prof. Dr. E
zutreffend festgestellt hat. Das Aggressionspotential des Betroffenen wurde als
eher unterdurchschnittlich (Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 2.8.1989 S.10
unter Bezugnahme auf das Gutachten von Prof. Dr. C) bzw. als „gering“
(Gutachten Dr. D S.37) eingeschätzt.
III. Mit der Erledigung der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein (§ 67 d VI 2
StGB).
Im Hinblick auf die langjährige Delinquenz des Verurteilten erschien es sinnvoll,
jedenfalls zunächst die Dauer der Führungsaufsicht auf den gemäß § 68 c I StGB
maximal zulässigen Zeitraum von fünf Jahren zu erstrecken.
Die Bestellung des Bewährungshelfers folgt aus § 68 a I StGB. Die Weisung, sich
nicht an Kinderspielplätzen und Schulhöfen aufzuhalten, sich zu Beginn eines
jeden Monats bei dem Bewährungshelfer zu melden und jeden Wechsel des
Wohnortes unverzüglich der Aufsichtsstelle mitzuteilen, beruht auf § 68 b I Nr. 2, 7
und 8 StGB und war angesichts der sich aus den Urteilen ergebenden Tat- und
Lebensumständen des Verurteilten unabdingbar.
Die Weisung, Wohnsitz in der Einrichtung "X" zu nehmen und diesen nicht ohne
vorherige Absprache mit dem Bewährungshelfer zu wechseln, folgt aus § 68 b II
StGB. Diese erschien erforderlich, um die Einbindung des Betroffenen in die
Einrichtung möglichst zu fördern und so die Gefahr erneuter Delinquenz zu
minimieren.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der
§§ 467 I, 473 III StPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.