Urteil des OLG Düsseldorf vom 25.05.2009

OLG Düsseldorf: grad des verschuldens, psychiatrische untersuchung, stationäre behandlung, persönlichkeit, entschädigung, zerstörung, schmerzensgeld, klinik, tod, zustand

Oberlandesgericht Düsseldorf, I-1 U 130/08
Datum:
25.05.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
1. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-1 U 130/08
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung ihres
weitergehenden Rechtsmittels das am 16. Juli 2008 verkündete Grund-
und Teilurteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg teilweise
abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger
4.846,06 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem
28.09.2007 zu zahlen.
3. In Höhe von 1.000 € wird die Klage abgewiesen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger
45.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 27.11.2006 zu zahlen.
5. Die Kosten des Berufungsrechtszuges fallen zu 53 % den Klägern
und zu 47 % der Beklagten zur Last; im übrigen bleibt die
Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die zulässige Berufung des Klägers, die sich ausschließlich gegen das
Schmerzensgelderkenntnis des Landgerichts richtet, hat in der Sache teilweise Erfolg.
Damit ergibt sich für den Senat die Notwendigkeit einer teilweisen Abänderung des
Tenors zu Ziffer 4 des angefochtenen Urteils, da die Entscheidungen zu den
vorangehenden Ziffern in Rechtskraft erwachsen sind. Anstelle des den Klägern durch
das Landgericht in Höhe von 30.000 € zuerkannten Schmerzensgeldes steht ihnen aus
übergegangenem Recht ein solches in Höhe von insgesamt 45.000 € zu. Unter
Berücksichtigung der vorprozessualen Zahlung der Beklagten von 30.000 € stellt sich
die Leistungsverpflichtung der Beklagten auf der Rechtsgrundlage der §§ 7 Abs. 1
StVG, 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 428, 1922 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 3 Nr. 1 PflVG
insgesamt auf die Summe von 75.000 €.
1
Hingegen ist der Entschädigungsbetrag von insgesamt 92.000 €, welche die Kläger für
die unfallbedingten immateriellen Beeinträchtigungen ihrer Mutter, der Geschädigten H.,
geltend machen, unter Berücksichtigung der nach § 253 Abs. 2 BGB einschlägigen
Zumessungsfaktoren nicht gerechtfertigt. Ihnen steht deshalb nicht der mit ihrem
Rechtsmittelantrag verlangte weitere Schmerzensgeldbetrag zu, dessen konkrete
Festsetzung in das Ermessen des Senats gestellt ist, der jedoch nach ihrer Vorstellung
einen Betrag von 32.000 € nicht unterschreiten sollte.
2
Im einzelnen ist folgendes auszuführen:
3
I.
4
1)
5
Der Senat teilt nicht die seitens der Kläger geäußerte Kritik, das Landgericht habe bei
der Schmerzensgeldbemessung die im vorliegenden Fall einschlägigen
Rechtsprechungsgrundsätze des Bundesgerichtshofs außer Acht gelassen. Allerdings
wird das den Klägern mit weiteren 30.000 € zuerkannte Schmerzensgeld dem Umfang
der gravierenden unfallbedingten immateriellen Beeinträchtigungen der Geschädigten
nicht in dem gebotenen Maße gerecht. Die Tatsache, dass die Mutter der Kläger nach
Eintritt der lebensgefährlichen Unfallverletzungen, die sie als Fußgängerin anlässlich
des Zusammenstoßes mit dem bei der Beklagten versicherten Fahrzeug des Fahrers K.
erlitten hat, einen fast zweijährigen, anfänglich bewusst miterlebten, Leidensweg mit
wiederholter Todesgefahr, zahlreichen Folgeerkrankungen und –komplikationen
erleiden musste, erforderte die Festsetzung eines Schmerzensgeldes im Umfang von 50
% über den durch das Landgericht zuerkannten Restbetrag hinaus. Insgesamt erreicht
der Umfang der Verpflichtung der Beklagten zum Ausgleich der immateriellen
Beeinträchtigungen nicht die durch das Landgericht in Ansatz gebrachte Summe von
60.000 €, sondern eine solche von 75.000 €. Eine solche Entschädigung steht in einem
angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der eingetretenen Unfallverletzungen und
deren weitreichenden Folgen. Entgegen der seitens der Kläger vertretenen Ansicht ist
allerdings nicht ein von ihnen gerügtes verzögerliches Regulierungsverhalten der
Beklagten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen.
6
2)
7
Die Überprüfung des angefochtenen Schmerzensgelderkenntnisses beschränkt sich
nicht auf die durch das Landgericht vorgenommene Ermessensausübung. Das
Berufungsgericht muss ohne Bindung an die Ermessensausübung des erstinstanzlichen
Gerichts, allerdings im Rahmen seiner Bindung an die Tatsachenfeststellungen gemäß
§ 529 Abs. 1 ZPO, selbst über die Zumessung des im Einzelfall angemessenen
Schmerzensgeldes befinden. Auch nach der Reform des Rechtsmittelsrechts hat das
Berufungsgericht das erstinstanzliche Schmerzensgelderkenntnis auf der Grundlage der
nach § 529 ZPO maßgeblichen Tatsachen gemäß §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO in vollem
Umfang darauf zu überprüfen, ob es überzeugt. Hält das Berufungsgericht – wie hier –
die Entscheidung zwar für vertretbar, letztlich aber bei Berücksichtigung aller
Gesichtspunkte nicht für sachlich überzeugend, so darf und muss es nach eigenem
Ermessen einen eigenen, dem Einzelfall angemessenen Schmerzensgeldbetrag finden.
Das Berufungsgericht darf es nicht dabei belassen zu prüfen, ob die Bemessung
Rechtsfehler enthält, insbesondere, ob das Gericht sich mit allen maßgeblichen
Umständen ausreichend auseinandergesetzt und ob es sich um eine angemessene
8
Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen bemüht hat (BGH
VersR 2006, 710).
3)
9
Rechtsfehler lässt das angefochtene Schmerzensgelderkenntnis nicht erkennen. Das
Landgericht war weder gehindert, im Grundsatz das Lebensalter der am 18. Januar
1921 geborenen Geschädigten H. zum Unfallzeitpunkt zu berücksichtigen, noch gibt die
Feststellung des Landgerichts in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Anlass zu
Beanstandungen, dass ihr Leidensweg knapp zwei Jahre nach dem Schadensereignis
sein Ende fand.
10
4)
11
Allerdings lässt die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht erkennen, dass
der relativ gute Gesundheits- und Allgemeinzustand der Mutter der Kläger vor dem
Unfallereignis bei der Schmerzensgeldbemessung in dem Sinne die gebotene
Berücksichtigung gefunden hat, dass sie die leidvolle Erfahrung machen musste, aus
einem weitgehend aktiv und sozial ausgefüllt geführten Lebensabend herausgerissen
und schlagartig zu einem Schwerstpflegefall mit immer weiter abnehmenden
Vitalfunktionen und wiederholter konkreter Todesgefahr zu werden. Auf der anderen
Seite ist es entgegen dem Begründungsansatz der Kläger nicht angängig, ein
Schmerzensgelderkenntnis eines anderen Instanzgerichtes auf den vorliegenden Fall
zu übertragen und darauf gestützt die begründete Ersatzforderung auf der Grundlage der
mutmaßlichen Lebensdauer der Geschädigten H. ohne das Unfallereignis arithmetisch
zu ermitteln.
12
II.
13
1)
14
Im Ansatz zutreffend weisen die Kläger darauf hin, dass sich die Höhe des
angemessenen Schmerzensgeldes nach dem Ausmaß und der Schwere der
psychischen und physischen Störungen, dem Maß der Lebensbeeinträchtigung, der
Größe, Dauer und Heftigkeit der Schmerzen, Leiden und Entstellungen, der Dauer der
stationären Behandlung, der Arbeitsunfähigkeit und der Trennung von der Familie, der
Unübersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufs, der Fraglichkeit der endgültigen
Heilung, dem Alter und den persönlichen Lebensverhältnissen des Verletzten und des
Schädigers sowie dem Grad des Mitverschuldens des Verletzten sowie dem Grad des
Verschuldens und des Verhaltens des Schädigers nach der Verletzungshandlung richtet
(vgl. BGH NJW 1993, 1531).
15
2)
16
Im vorliegenden Fall ist die Mutter der Kläger in der Nähe ihrer damaligen Wohnung als
eine in einer Garagenzufahrt wartende Fußgängerin zu Sturz gekommen, als der Fahrer
des bei der Beklagten versicherten Pkw XXX, ihr damaliger Nachbar K., unachtsam
rückwärts setzte und sie erfasste. Infolge des Zusammenstoßes schlug die Klägerin mit
dem Hinterkopf auf das Steinpflaster auf. Wegen eines Schädel-Hirn-Traumas dritten
Grades ergab sich die Notwendigkeit einer sofortigen Notoperation in einem XXX
Krankenhaus.
17
3)
18
Bei Straßenverkehrsunfällen tritt die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes
weitgehend gegenüber der Ausgleichsfunktion in den Hintergrund, da in aller Regel
dem Schädiger – so auch hier – nur ein fahrlässiges Fehlverhalten zur Last zu legen ist
(Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 9. Aufl., Rdnr. 274 mit
zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). Bei Bestehen einer Haftpflichtversicherung
kommt es auf die Vermögensverhältnisse des Schädigers nicht an (Küppersbusch
a.a.O., Rdnr. 278 mit Hinweis auf BGH VersR 1962, 622). Allerdings sind bei Existenz
einer Haftpflichtversicherung, insbesondere der Pflichthaftpflichtversicherung im
Straßenverkehr, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen durch die Belastungen der
Gemeinschaft aller Versicherten zu beachten (Küppersbusch a.a.O., Rdnr. 280 mit
Hinweis auf BGH VersR 1976, 967 sowie BGH VersR 1986, 59).
19
4)
20
Im Vordergrund der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes stehen im vorliegenden
Fall die unfallbedingt eingetretenen Körperverletzungen der Mutter der Kläger in
Verbindung mit den gravierenden Folgebeeinträchtigungen und -komplikationen, die
sich in der Folgezeit eingestellt haben, bis sie am 25. April 2007 verstarb. Seit ihrer
Krankenhauseinlieferung am Unfalltag ist sie bis zum Schluss eine bettlägerige
Krankenhaus- und Pflegeheimpatientin geblieben. Auch nach ihrer Aufnahme als
Schwerstpflegefall im XXXHeim in XXX Anfang Juli 2005 musste sie in den
Folgemonaten dreimal als Notfallpatientin wieder in ein Krankenhaus eingewiesen
werden.
21
a)
22
Neben dem bereits erwähnten drittgradigen Schädel-Hirn-Trauma hat die Klägerin
unfallbedingt Blutergüsse und Schwellungen im Gesicht davongetragen. Es ergab sich
die Notwendigkeit eines Luftröhrenschnitts mit künstlicher Beatmung und künstlicher
Ernährung. Zudem musste ein Katheter gelegt werden und wegen der außer Kraft
gesetzten Schluckreflexe stellte sich eine starke Verschleimung ein, die eine ständige
Absaugung erforderlich machte.
23
b)
24
Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt auf der Intensivstation des XXX Krankenhauses
XXX befand sich die Mutter der Kläger vom 27. Mai bis zum 21. Juni 2005 in stationärer
Behandlung im XXXKrankenhaus XXX. An einen Zwischenaufenthalt in einer Reha-
Klinik schloss sich in der Zeit ab dem 7. Juli 2005 die Aufnahme in das bezeichnete
XXXHeim an. Der dortige Aufenthalt wurde u.a. durch eine stationäre Behandlung in der
geriatischen Klinik des XXXhospitals XXX in der Zeit vom 29. August 2005 bis zum 30.
September 2005 unterbrochen. Im Dezember des Jahres 2005 war ein weiterer
Klinikaufenthalt wegen einer akuten Erstickungsgefahr erforderlich.
25
c)
26
Aufgrund der langen Bettlägerigkeit der Geschädigten traten verschiedene Dekubitus-
Wunden an Kopf, Gesäß, Armen und Beinen auf. Eine künstliche Ernährung erfolgte
27
mittels einer PEG-Sonde am Bauch.
Bei der bewegungsunfähigen Mutter der Klägerin stellten sich verletzungsbedingt die
nachbenannten Folgebeeinträchtigungen ein: Eine fokal-motorische Epilepsie, eine
Atemnot durch Verschleimung, ein regelmäßiges Aufstoßen des Mageninhaltes, eine
Lungenentzündung durch Eindringen von Mageninhalt in die Atemwege, eine
Wundrose, eine inadäquate ADH-Sekretion, ein verminderter Natriumspiegel, eine
Niereninsuffizienz, überhöhte Serumkalzium-Werte, ein Austrocknungsekzem, eine
Pankreaslipomase, regelmäßiges Erbrechen, ein Wechsel zwischen Verstopfung und
Durchfall sowie Stuhl- und Harninkontinenz.
28
5)
29
Die unfallbedingten körperlichen Beeinträchtigungen und ihre Folgewirkungen sind
zwischen den Parteien unstreitig. Darüber hinaus steht außer Streit, dass die
Geschädigte XXX vor dem Unfallereignis körperlich und gesundheitlich in einem relativ
guten Allgemeinzustand war, was die Beklagte in ihrem vorprozessualen Schreiben
vom 12. Juli 2006 unter Hinweis auf einen Arztbereich des Dr. XXX vom 6. März 2006
eingeräumt hat (Bl. 55 d.A.). Einschränkend ist auf die Notwendigkeit der
Inanspruchnahme eines Rollators für die Bewältigung längerer Gehstrecken sowie auf
eine gewisse Altersvergesslichkeit hinzuweisen. Die Notwendigkeit einer zeitlich
begrenzten Inanspruchnahme eines Pflegedienstes ergab sich nach dem insoweit
unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Kläger in ihrem Schriftsatz vom 21.
November 2007 allein aus einer Sturzverletzung mit Rippenbruchfolge (Bl. 41 d.A.).
Nach dem ebenfalls insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Kläger war
die Klägerin vor dem Unfallereignis vom 13. Mai 2005 in der Lage, ihren Lebensabend
vielgestaltig und mit zahlreichen sozialen Aktivitäten ausgefüllt zu führen. Sie war
rühriges Mitglied in ihrer Kirchengemeinde, in einem Turnverein, in einem Heimatverein,
in einer Landfrauengruppe sowie in einem Kegelclub. Unstreitig war die Geschädigte
darüber hinaus in der Lage, ihren umfangreichen Immobilienbesitz mit 70 Mietobjekten,
davon 55 Garagen, ohne fremde Hilfe zu verwalten.
30
6)
31
Es bedarf keiner näheren Ausführung dazu, dass sie den Eintritt der unfallbedingten
gravierenden Kopfverletzung und den anschließenden Absturz in ein fast zweijähriges
Siechtum mit Bettlägerigkeit als eine vollständige Zerstörung ihrer Persönlichkeit mit
einem entsprechenden Leidensdruck empfinden musste. Es ist davon auszugehen,
dass die Mutter der Kläger jedenfalls in den ersten 1 ½ bis 2 Monaten nach dem
Unfallereignis sich ihres immer hoffnungsloser werdenden Zustandes ohne jede
Besserungsaussicht bewusst war. Denn nach den von den Parteien nicht
angefochtenen Feststelllungen des Landgerichts vermochte sie in den ersten Monaten
noch direkt mit der Außenwelt zu kommunizieren und erst im Lauf der Zeit ließ ihre
Reaktionsfähigkeit merklich nach (Bl. 110 d.A.). Unwidersprochen geblieben ist darüber
hinaus das Vorbringen der Kläger, ihre Mutter habe sie Anfang Juli 2005 noch erkennen
und ansprechen können, nachdem man sie u.a. durch Berührung aus einem Zustand
der Somnolenz habe aufwecken können (Bl. 5 d.A.).
32
7)
33
Nach den zu den Akten gelangten ärztlichen Unterlagen (Bericht der geriatrischen Klinik
34
des XXXhospitals XXX vom 30. September 2005) ergab eine am 31. August 2005
durchgeführte psychiatrische Untersuchung die Diagnose einer aufgehobenen
Hirnleistung und einer stuporösen Patientin, die bei einem ausgeprägten
neuropsychologischem Syndrom nur auf Schmerzreize reagiert. Bei dieser Sachlage ist
jedenfalls für die Zeit ab Ende August 2005 von einer vollständigen Zerstörung der
Persönlichkeit sowie von einem fast vollständigen Verlust der Empfindungsfähigkeit der
Geschädigten XXX auszugehen, ehe ihr Leidensweg am 25. April 2007 durch den
Todeseintritt beendet wurde. Soweit die Kläger streitig und ohne Beweisantritt
vorbringen, ihre Mutter habe bis zu ihrem Tod – und damit fast zwei Jahre lang –
möglicherweise die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkennen können (Bl. 18 d.A.) ergibt
sich für die Richtigkeit dieses Vortrages nichts. In Anbetracht der eindeutigen ärztlichen
Diagnose einer aufgehobenen Hirnleistung in einem stuporösen Zustand bei einem
ausgeprägten neuropsychologischen Syndrom lässt sich für die Zeit ab Ende August
2005 nicht – auch nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – das Verbleiben einer
intellektuellen und kognitiven Restfähigkeit feststellen, aufgrund der der Geschädigten
die Hoffnungslosigkeit ihres sich permanent verschlechternden Körper- und
Gesundheitszustandes immer wieder hätte bewusst werden können. Vielmehr spricht
nach Lage der Dinge alles für die Annahme, dass die Geschädigte in der Zeit ab
September 2005 permanent in einer Art Dämmerzustand ohne intellektuelles und
kognitives Leistungsvermögen war.
III.
35
1)
36
Die Höhe des durch das Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldes von immerhin
insgesamt 60.000 € lässt entgegen dem Berufungsvorbringen nicht den Rückschluss
darauf zu, dass in der angefochtenen Entscheidung die durch die Kläger
angesprochene sogenannte "Würdefunktion" des Schmerzensgeldes unberücksichtigt
geblieben ist, auch wenn diese in den Entscheidungsgründen keine ausdrückliche
Erwähnung gefunden hat.
37
a)
38
Unter Aufgabe seiner früheren Rechtspraxis (BGH NJW 1976, 1147; NJW 1982, 2123)
rechtfertigt nach der jüngeren Rechsprechung des Bundesgerichtshofs die Einbuße der
Persönlichkeit des Unfallopfers infolge einer schweren Hirnschädigung nicht nur eine
symbolhafte Entschädigung, weil der Verletzte wegen der Zerstörung seiner
psychischen Funktion weder einen Ausgleich noch eine Genugtuung empfinden kann.
Vielmehr stellt die Einbuße der Persönlichkeit, der Verlust an personaler Qualität infolge
schwerer Hirnschädigung im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Wertentscheidung
in Artikel 1 GG schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar – und
zwar unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfindet. Es handelt
sich bei Schäden dieser Art um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Zerstörung
der Persönlichkeit durch den Fortfall der Empfindungsfähigkeit im Mittelpunkt steht und
deshalb auch bei der Bemessung der Entschädigung nach § 847 (nunmehr § 253 Abs. 2
BGB) einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muss. Dabei kann der Richter
je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten
verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen. Es ist ihm
aber nicht erlaubt, ein nur gedachtes Schadensbild, das von einer ungeschmälerten
Empfindungs- und Leidensfähigkeit gekennzeichnet ist, zugrunde zu legen und sodann
39
mit Rücksicht auf den vollständigen oder weitgehenden Wegfall der
Empfindungsfähigkeit Abstriche vorzunehmen (BGH NJW 1993, 1531, 1532 mit Hinweis
auf BGH NJW 1993, 781; so auch Senat, Urteil vom 30. Juni 2003, AZ: 1 U 186/01).
b)
40
Auf der Grundlage der vorgenannten Rechtsprechung ist im vorliegenden Fall eine
Abstufung nach dem Ausmaß der durch die Mutter der Kläger erlittenen
Beeinträchtigungen und der ihr verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit
vorzunehmen. Nach der vorstehend wiedergegebenen Chronologie hat sich eine
kontinuierliche Verschlechterung der Psyche sowie des Körper- und
Gesundheitszustandes der Mutter der Klägerin bis hin zur
Notfallbehandlungsmaßnahmen wegen akuter Erstickungsgefahr eingestellt. Unstreitig
sah sich die zuständige Stationsschwester anlässlich eines Klinikaufenthaltes im Juli
2006 veranlasst, wegen eines seinerzeit erwarteten Lebensendes der Geschädigten die
Kläger anzurufen und diese zu fragen, ob geistlicher Beistand gewünscht werde (Bl. 8
d.A.).
41
2a)
42
Andererseits kann entgegen der Mutmaßung der Kläger aus den oben dargelegten
Gründen nicht davon ausgegangen werden, dass ihrer Mutter bis zu ihrem Lebensende
ihr physisches Leid und die Zerstörung ihrer Persönlichkeit immer wieder bewusst
geworden ist. Es ist vielmehr eine Differenzierung in zeitlicher Hinsicht in dem Sinne
vorzunehmen, dass die Geschädigte eine nur in einem Zeitraum von etwa 1 ½ bis 2
Monaten nach dem Unfallereignis ihr Schicksal bewusst miterlebt hat und einem
entsprechendem Leidensdruck ausgesetzt war. Die damit verbunden gewesenen
immateriellen Beeinträchtigungen, vor allem die deprimierende Wahrnehmung des
Absturzes aus einer – abgesehen von den üblichen alterstypischen Beeinträchtigungen
– unproblematischen Seniorenexistenz in einen Zustand des Siechtums, rechtfertigen
nach Ansicht des Senats eine Anhebung des Schmerzensgeldbetrages über den durch
das Landgericht zuerkannten Umfang hinaus um 15.000 €.
43
b)
44
Hingegen begegnet es weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Bedenken,
dass das Landgericht bei der Schmerzensgeldbemessung das fortgeschrittene Alter der
Mutter der Kläger nicht unberücksichtigt gelassen hat. Sie war zum Unfallzeitpunkt 84
Jahre alt. Die Kläger machen geltend, nach der durch sie herangezogenen aktuelle
Sterbetafel hätte die voraussichtliche Lebenserwartung ihrer Mutter noch 6,42 Jahre
betragen (Bl. 152 d.A.). Grundsätzlich ist das Lebensalters des Verletzten bei der
Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen (Küppersbusch a.a.O., Rdnr.
293). Ein jüngerer Mensch – dies versteht sich von selbst – leidet unter Dauerschäden
mehr als ein älterer (Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., Rdnr. 14).
Verstirbt der Verletzte an den Unfallfolgen, ist die Dauer der Leidenszeit ein
wesentlicher Bemessensfaktor (Greger a.a.O., § 30, Rdnr. 4 sowie Greger a.a.O., § 30,
Rdnr. 25 jeweils mit Hinweis auf BGHZ 138, 388; Küppersbusch a.a.O., Rdnr. 289).
45
c)
46
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das bewusste Miterleben der Folgen des
47
unfallbedingten Schicksalschlages für die Geschädigte XXX auf die Dauer von 1 ½ bis
2 Monaten begrenzt war, ehe wegen aufgehobener Hirnleistung und eines
ausgeprägten neuropsychologischen Syndroms eine vollständige Zerstörung ihrer
Persönlichkeit eintrat und sie am 25. April 2007 verstarb. Allein schon aus diesen
Gründen sieht sich der Senat außerstande, schematisch die durch die Kläger in ihrer
Rechtsmittelbegründung hervorgehobene Schmerzensgeldentscheidung des
Landgerichts Frankfurt vom 30. November 2000 (Az.: 215 O 6/98) mit der damaligen
Zuerkennung einer Entschädigung i.H.v. 245.000 DM auf den vorliegenden Fall zu
übertragen. Die seinerzeit Geschädigte, die das Unfallereignis mit körperlichen,
intellektuellen und kognitiven Restfähigkeiten überlebte, war zum Zeitpunkt des
Schadenseintritts 72 Jahre alt. Erst recht geht es nicht an, unter Berücksichtigung der
mutmaßlichen Lebensdauer der Mutter der Kläger ohne das Kollisionsereignis die
auszuurteilende Entschädigung auf der Grundlage des vorgenannten Urteils
hochzurechnen und auf diese Weise arithmetisch ein Schmerzensgeld von aufgerundet
92.000 € in Ansatz zu bringen (Bl. 152 d.A.).
3)
48
Wenn auch der Tod als solcher kein entschädigungsfähiger Umstand ist, wirkt es sich
andererseits schmerzensgelderhöhend aus, wenn der Verletzte bei Bewusstsein war
und entweder Todesängste ausstehen musste oder mit dem baldigen Tod rechnen
musste (Küppersbusch a.a.O., Rdnr. 290 mit Hinweis auf OLG Karlsruhe NZV 1999,
210). Abgesehen davon, dass die Geschädigte XXX schon unmittelbar durch die
Unfalleinwirkung eine lebensgefährliche Verletzung davongetragen hatte, die eine
sofortige Notoperation erforderlich machte, waren die verletzungsbedingten
Folgekomplikationen geeignet, bei ihr – solange sie jedenfalls noch einigermaßen bei
wachem Verstand war – den Eindruck einer lebensbedrohlichen Lage mit konkreter
Todesgefahr entstehen zu lassen. Im Bericht des mit der Erstbehandlung befasst
gewesenen Krankenhauses XXX vom 16. September 2005 ist u.a. ausgeführt, dass die
Mutter der Kläger u.a. an einer akuten respiratorischen Insuffizienz und an einem für das
Verletzungsbild symptomatischen Krampfanfallleiden litt. Wie bereits ausgeführt, ergab
sich wiederholt die Notwendigkeit einer Notfallbehandlung wegen akuter
Erstickungsgefahr. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Geschädigte XXX in den
Wochen nach dem Unfallereignis für sie erkennbar aus verschiedenen medizinischen
Gründen in akuter Lebensgefahr schwebte, lässt eine Erhöhung des ihr durch das
Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldbetrages geboten erscheinen.
49
4)
50
In Übereinstimmung mit der Würdigung des Landgerichts sieht sich allerdings auch der
Senat daran gehindert, das vorprozessuale Regulierungsverhalten der Beklagten
schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen. Insbesondere vermag sich der Senat
nicht der seitens der Kläger geäußerten Ansicht anzuschließen, dieses Verhalten sei
unangemessen verzögerlich gewesen und die Gegenseite habe versucht, "um jeden
einzelnen Euro zu feilschen" (Bl. 154, 155 d.A.).
51
a)
52
Es kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass allein schon die
Tatsache einer verzögerlichen Schadensregulierung oder einer langjährigen
Prozessführung zwangsläufig zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes führen muss.
53
Denn das Schmerzensgeld dient dem Ausgleich der immateriellen Schäden des Opfers
und nicht der Disziplinierung des Ersatzpflichtigen (Küppersbusch a.a.O., Rdnr. 277 mit
Hinweis auf Huber NZV 2005, 620, 623). In der Rechsprechung der Instanzgerichte
besteht allerdings die Tendenz, das Schmerzensgeld aufzustocken etwa in Fällen der
Nichtzahlung von Vorschüssen trotz unstreitiger Haftung, des langen Wartens auf
Entschädigung infolge eines langwierigen Rechtsstreits bei eindeutiger Haftungslage –
es sei denn, dass der Geschädigte unrealistisch hohe Forderungen stellt (vgl. die
Rechtsprechungsübersicht bei Küppersbusch a.a.O. Fußnoten 28 bis 31). Solche
Umstände lassen sich im vorliegenden Fall zum Nachteil der Beklagten nicht feststellen.
Immerhin hat sie vorprozessual auf die klagegegenständliche
Schmerzensgeldforderung 30.000 € bezahlt. Festzustellen ist, dass die Kläger
vorprozessual unter Hinweis auf die bezeichnete Entscheidung des Landgerichts
Frankfurt eine unrealistische hohe Schmerzensgeldvorstellung geäußert haben.
Allerdings vermag sich der Senat nicht der Feststellung des Landgerichts
anzuschließen, den Klägern sei vorprozessual daran gelegen gewesen, den Unfall ihrer
Mutter finanziell bestmöglich im Verhandlungsweg zu verwerten. Darüber hinaus hat die
Beklagte bis zum Scheitern der Verhandlung ihre Bereitschaft geäußert, im
Vergleichswege eine Schmerzensgeldzahlung i.H.v. 40.000 € - also mehr als die Hälfte
ihrer Leistungsverpflichtung aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB – zu erbringen.
Zutreffend ist die Darlegung im angefochtenen Urteil, es sei nicht Sinn und Zweck des
Schmerzensgeldes, den Angehörigen der Geschädigten zu deren Lebzeiten eine
Genugtuung zu verschaffen. Der Senat sieht deshalb davon ab, näher auf die Rüge der
Kläger einzugehen, es hätten sich teilweise monatliche Rückstände von 350 € bei den
vergleichsweise vereinbarten monatlichen Zahlungen in Höhe von je 2.100 € auf die
materiellen Schadenspositionen ergeben und im Übrigen seien noch Einzelbeträge in
den Größenordnungen von 400 € und 800 € offen.
b)
54
Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Geschädigte XXX spätestens in der Zeit ab
Ende August 2005 ohnehin nicht mehr in der Lage war, das Regulierungsverhalten der
Beklagten zu erfassen und zu bewerten.
55
5)
56
Unter Berücksichtigung aller nach § 253 Abs. 2 ZPO maßgeblichen
Zumessungsfaktoren hält der Senat deshalb im Ergebnis ein Schmerzensgeld in Höhe
von insgesamt 75.000 € für angemessen. Dabei hat sich der Senat grob an den
Entscheidungen des Landgerichts Lüneburg vom 26. Januar 2005 (Schaden Praxis
2005, 159; Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 25. Aufl., lfdNr. 2778) sowie des
Landgerichts Trier vom 20. Juli 2005 (lfdNr. 2846) jeweils unter Berücksichtigung des
fortgeschrittenen Lebensalters der Geschädigten und ihres auf zwei Jahre begrenzten
Leidensweges orientiert.
57
IV.
58
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative ZPO.
59
Die Anordnung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hat ihre Grundlage in §§
708 Nr. 10, 713 ZPO.
60
Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug beträgt 32.000 €. Die Beschwer der
Kläger stellt sich auf 12.000 €, diejenige der Beklagten auf 15.000 €.
61
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 543
Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.
62