Urteil des OLG Düsseldorf vom 20.06.2006
OLG Düsseldorf: höchstgeschwindigkeit, geschwindigkeitsbeschränkung, fahrzeugführer, geschwindigkeitsüberschreitung, angemessenheit, aufmerksamkeit, nebenstrafe, nachlässigkeit, datum, persönlichkeit
Oberlandesgericht Düsseldorf, IV-2 Ss (OWi) 93/06-(OWi) 58/06 II
Datum:
20.06.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
Bußgeldsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
IV-2 Ss (OWi) 93/06-(OWi) 58/06 II
Tenor:
1.
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht
Grevenbroich zurückver-wiesen.
2.
Im übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Soweit der Schuldspruch betroffen ist, ist die Rechtsbeschwerde unbegründet, weil die
Überprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerderechtfertigung insoweit keinen
Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen ergeben hat (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349
Abs. 2 und 3 StPO).
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II.
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Im Rechtsfolgenausspruch hat das Rechtsmittel Erfolg.
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1.
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Soweit die Verhängung eines Regelfahrverbots bei Vorliegen der Voraussetzungen der
BKatV angezeigt ist, sind nähere Ausführungen dazu, ob ein Betroffener unter grober
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Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StVG)
gehandelt hat, in der Regel zwar nicht erforderlich. Denn schon das Vorliegen der
betreffenden Voraussetzungen nach der BKatV indiziert auch das Vorliegen solcher
Umstände, so dass es in diesen Fällen neben der Verhängung einer Geldbuße
regelmäßig der Anordnung eines Fahrverbots als Warnungs- und
Besinnungsmaßnahme bedarf. Für eine Einzelfallprüfung, ob trotz Vorliegens des
Regelfalls eine grobe Pflichtverletzung ausgeschlossen ist, bleibt nur ein
eingeschränkter Prüfungsspielraum. Die in der BKatV erwähnten Regelbeispiele
entheben das Gericht der bei
Anwendung von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG sonst bestehenden Verpflichtung, die
Angemessenheit und Notwendigkeit der verhängten Nebenstrafe besonders zu
begründen, jedenfalls dann, wenn keine greifbaren Anhaltspunkte für ein Abweichen
ersichtlich sind. Nur soweit besondere Ausnahmeumstände in der Tat oder der
Persönlichkeit des Täters offensichtlich gegeben sind und deshalb erkennbar nicht der
von der BKatV erfasste Normalfall vorliegt, kommt ein Abweichen von der sonst
regelmäßigen Verhängung eines Fahrverbots in Betracht.
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Bei einer im Sinne der Regeltatbestände der BKatV qualifizierten Überschreitung der
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durch Zeichen 274 gemäß § 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO beschränkten Geschwindigkeit kommt
die indizielle Wirkung der Verwirklichung des Regelbeispiels nur mit Einschränkungen
zum Tragen. Dem Fahrer kann das für ein Fahrverbot erforderliche grob pflichtwidrige
Verhalten nicht vorgeworfen werden, wenn der Grund für die begangene erhebliche
Geschwindigkeitsüberschreitung darin liegt, dass er das die Höchstgeschwindigkeit
begrenzende Vorschriftszeichen nicht wahrgenommen hat, es sei denn, gerade diese
Fehlleistung beruht ihrerseits auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit. Das Maß
der Pflichtverletzung hängt nur davon ab, in welchem Umfang dem Fahrzeugführer das
Übersehen des Verkehrsschildes als Vorwurf anzulasten ist. Das Ausmaß der
Geschwindigkeitsüberschreitung an sich, auf das die Regelbeispiele der BKatV
abstellen, lässt aber keinen Rückschluss darauf zu, ob der Fahrer das Vorschriftzeichen
wahrgenommen oder grob pflichtwidrig nicht wahrgenommen hat. Zwar kann der
Bußgeldrichter in der Regel davon ausgehen, dass der Betroffene die Anordnung einer
Geschwindigkeitsbegrenzung auch erkannt hat. Die Möglichkeit, dass der
Verkehrsteilnehmer das die Beschränkung anordnende Verkehrszeichen übersehen
hat, muss der Tatrichter aber dann in Rechnung stellen, wenn sich hierfür Anhaltspunkte
ergeben oder der Betroffene dies im Bußgeldverfahren einwendet. Soweit der
Betroffene geltend macht, infolge eines entschuldbaren Augenblicksversagens das die
Geschwindigkeit begrenzende Verkehrszeichen an der Messstelle übersehen zu haben,
ist das Amtsgericht gehalten, nähere Feststellungen zur Art und Weise der
Geschwindigkeitsbeschränkung und zu den örtlichen Gegebenheiten zu treffen, damit
dem Rechtsbeschwerdegericht die Möglich-
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keit zur Prüfung der Frage eröffnet ist, ob der Wahrnehmungsfehler vorwerfbar ist.
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Beruft sich der Fahrzeugführer darauf, das Zeichen 274 schlicht übersehen zu haben,
und kann ihm diese Einlassung nicht widerlegt werden, so scheidet die Verhängung
eines Fahrverbots gleichwohl nicht zwingend aus. Ist das gleiche Zeichen im Verlauf
der vor der Messstelle befahrenen Strecke mehrfach wiederholt worden oder geht der
Messstelle ein sog. Geschwindigkeitstrichter voraus, durch den die zulässige
Höchstgeschwindigkeit stufenweise mittels mehrerer nacheinander aufgestellter
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Vorschriftszeichen herabgesetzt wird, so hat der betroffene Verkehrsteilnehmer die
gebotene Aufmerksamkeit in grob pflichtwidriger Weise außer Acht gelassen.
Das gleiche gilt, wenn sich die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung durch
Zeichen 274 in Verbindung mit anderen – ohne weiteres erkennbaren – äußeren
Umständen (Ortschild, Bebauung) jedermann aufdrängt (vgl. zu alledem BGHSt 43, 241
ff mwN).
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2.
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Das Amtsgericht hat im vorliegenden Fall lediglich festgestellt, dass die zulässige
Geschwindigkeit auf dem Gierather Weg in Grevenbroich durch Verkehrszeichen auf 30
km/h beschränkt ist, und die Ordnungsbehörde im dortigen Verkehrsbereich eine
Radarmessung durchführte. Es fehlen indessen nähere Angaben dazu, wie viele
Verkehrschilder aufgestellt und wie diese angeordnet waren. Das Urteil enthält auch
keine weiteren Feststellungen zu der konkreten Art der Bebauung, zur Länge der
eingeschränkten Strecke, sowie keine exakte örtliche Bezeichnung der Messstelle. Dem
Senat ist daher die Prüfung verwehrt, ob der behauptete Wahrnehmungsfehler
vorwerfbar ist.
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3.
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Im übrigen hat das Amtsgericht auch keine Feststellungen zur Art des konkret
angewendeten Messverfahrens getroffen, so dass nicht überprüfbar ist, ob es sich um
ein sog. standardisiertes Messverfahren gehandelt hat. Derartige Feststellungen sind
indessen unabdingbar, da kein Erfahrungssatz dahingehend besteht, dass Ver-
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kehrsradargeräte unter allen Umständen zuverlässige Messergebnisse liefern (vgl. OLG
Düsseldorf, 1. Senat für Bußgeldsachen, NZV 1994, 41, 42; DAR 1988, 103; 3. Senat für
Bußgeldsachen, VRS 78, 130 mwN = VM 1990, 13, 14 mwN; VRS 78, 142 mwN; VRS
78, 308, 309 mwN = JMBl NW 1990, 45 mwN).
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III.
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Der Senat sieht keinen Anlass für eine Verweisung an ein anderes Amtsgericht oder
eine andere Abteilung des Amtsgerichts Grevenbroich.
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