Urteil des OLG Düsseldorf vom 06.12.2007

OLG Düsseldorf: drohende gefahr, höchstgeschwindigkeit, notstand, ausfahrt, fahrzeug, beschränkung, fahrlässigkeit, anhalten, geschwindigkeitsüberschreitung, behandlung

Oberlandesgericht Düsseldorf, IV-5 Ss (OWi) 218/07 – (OWi) 150/07 I
Datum:
06.12.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
1. Senat für Straf, - und Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
IV-5 Ss (OWi) 218/07 – (OWi) 150/07 I
Leitsätze:
§ 16 OWiG – Notstand infolge Durchfalls,
Geschwindigkeitsüberschreitung, Feststel-lungen zur inneren Tatseite,
Berücksichtigung von Voreintragungen
1. Ein Verkehrsverstoß kann im Einzelfall durch einen Notstand, § 16
OWiG, gerecht-fertigt sein, wenn der oder die Betroffene ihn begangen
hat, um einem plötzlich auf-getretenen und "unabweisbaren" Stuhldrang
(Durchfall) nachzukommen.
2. Wird der Betroffene verurteilt, weil er die zulässige Geschwindigkeit
überschritten habe, müssen die Feststellungen belegen, dass er
vorwerfbar schneller als erlaubt gefahren ist.
3. Voreintragungen, die zum Nachteil des Betroffenen berücksichtigt
werden, sind im Urteil festzustellen.
OLG Düsseldorf, IV-5 Ss-OWi 218/07 – (OWi) 150/07 I vom 6. Dezember
2007, rechtskräftig.
Tenor:
beschlossen:
Der Antrag der Betroffenen, die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des
Amtsgerichts Düsseldorf vom 22. Mai 2007 zuzulassen, wird als
unbegründet verworfen.
Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden der Betroffenen
aufer-legt.
Gründe
1
Das Amtsgericht hat die Betroffene zu 120 Euro Geldbuße verurteilt, weil sie auf der
hiesigen Brüsseler Straße mit ihrem Pkw die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80
km/h fahrlässig um 34 km/h überschritten habe. Der Antrag der Betroffenen, die
Rechtsbeschwerde zuzulassen, hat keinen Erfolg.
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1. Bei Geldbußen von nicht mehr als 250 Euro wird die Rechtsbeschwerde nach §§ 79
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, 80 Abs. 1 OWiG nur zugelassen, wenn es geboten ist,
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– die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder
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– das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
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Keine dieser Voraussetzungen liegt vor:
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a) Der Fall wirft keine ungeklärten Rechtsfragen auf. Dass ein Verkehrsverstoß im
Einzelfall durch einen Notstand, § 16 OWiG, gerechtfertigt sein kann, wenn der oder die
Betroffene ihn begangen hat, um einem plötzlich aufgetretenen und "unabweisbaren"
Stuhldrang (Durchfall) nachzukommen, ist allgemein anerkannt (OLG Zweibrücken
NStZ-RR 1997, 379; KG, 2 Ss 263/98 vom 26. Oktober 1998 ; Zabel, Blutalkohol
36 [1999], 22; Rengier, in: KK-OWiG, 3. Aufl. [2006], § 16 Rdnr. 5 aE; Göhler, OWiG,
14. Aufl. [2006], § 16 Rdnr. 4).
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b) Die Behandlung der Sache bietet auch keinen Anlass, zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung einzugreifen. Die Amtsrichterin hat den Notstand erörtert
und ihn nicht aus rechtlichen, sondern aus tatsächlichen Gründen verneint. Ob sie das
tragfähig damit begründet hat, die Betroffene hätte auf dem Seitenstreifen anhalten und
dort ihre Notdurft verrichten können, ist fraglich, denn sie hat nicht festgestellt, dass die
Brüsseler Straße in dem Abschnitt, in dem der plötzliche Stuhldrang aufgetreten sein
soll, einen Seitenstreifen (unmittelbar neben der Fahrbahn liegender Teil der Straße,
VwV-StVO zu § 2 Abs. 4 Satz 4) hat, der für diesen Zweck geeignet war. Eher dürfte der
zweite im Urteil angesprochene Gesichtspunkt zutreffen, dass der Verkehrsverstoß nicht
geeignet war, die drohende Gefahr abzuwehren, weil die nächste Ausfahrt – der
wiederholten Verwendung dieses Begriffs entnimmt der Senat, dass die Brüsseler
Straße eine autobahnähnliche Kraftfahrstraße ist – so nah lag, dass die Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keinen nennens-werten Zeitgewinn erbracht hat
(vgl. Senat VRS 88 [1995], 454; OLG Hamm 1 Ss OWi 824/01 vom 30. Oktober 2001
; Rengier, aaO, Rdnr. 17 mwN). Beides ist jedenfalls eine Frage der
Feststellungen im Einzelfall und damit kein Anlass, die Rechtsbeschwerde zuzulassen.
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c) Zwar ist rechtsfehlerhaft, dass die Amtsrichterin "Voreintragungen" zum Nachteil der
Betroffenen berücksichtigt hat, ohne diese im Urteil festzustellen; von Fotos und
sonstigen Abbildungen (§ 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO)
abgesehen sind Bezugnahmen auf den Akteninhalt unzulässig (vgl. Senat VRS 91
[1996], 152 = DAR 1996, 65; Mitsch, in: KK-OWiG, § 17 Rdnr. 78;
Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, 3. Aufl., § 17 Rdnr. 22; Göhler, aaO, § 17 Rdnr. 20 f;
jeweils mwN). Das ist aber nur ein Fehler im Einzelfall und kein Zulassungsgrund.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 1 OWiG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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3. Die Sache gibt Anlass zu dem Hinweis, dass die Urteilsgründe auch in
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Bußgeldsachen gemäß § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO die für erwiesen erachteten
Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Tat gefunden
werden. Das gilt nicht nur für die äußere, sondern auch für die innere Tatseite. Wird der
Betroffene verurteilt, weil er die zulässige Geschwindigkeit überschritten habe, müssen
die Feststellungen belegen, dass er vorwerfbar schneller als erlaubt gefahren ist. Das
mag sich aufdrängen, wenn sich aus dem Urteil ergibt, dass die Tat an einem Ort oder
mit einem Fahrzeug begangen worden ist, an dem oder bei dem die festgestellte
Geschwindigkeit eine Höchstgeschwindigkeit überstieg, die durch Gesetz, etwa durch §
3 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 StVO oder durch § 18 Abs. 5 Satz 2 StVO, festgelegt ist. Auf
autobahnähnlichen Kraftfahrstraßen gilt für Personenkraftwagen keine gesetzliche
Beschränkung der Geschwindigkeit, §§ 3 Abs. 3 Satz 2, 18 Abs. 5 Satz 2 StVO. Die
"zulässige Höchstgeschwindigkeit " kann demnach nur durch Verkehrszeichen (Zeichen
274, § 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO) auf 80 km/h beschränkt gewesen sein. Gerade mit Blick auf
die innere Tatseite sind in einem solchen Fall konkrete Feststellungen zur
Beschilderung im Messbereich geboten. Das gilt nicht erst bei Vorsatz, sondern
regelmäßig schon für den Vorwurf der Fahrlässigkeit.