Urteil des OLG Düsseldorf vom 17.07.2003

OLG Düsseldorf: sofern sie das Stromnetz der Antragstellerin betreibe, und inzwischen am 24.5.2003 erfolgte, um auch deren Interessen Rechnung zu tragen

Oberlandesgericht Düsseldorf, VI-Kart 18/03 (V)
Datum:
17.07.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
Kartellsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
VI-Kart 18/03 (V)
Tenor:
Auf den Antrag der Antragstellerin wird die aufschiebende Wirkung der
sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Bundeskartellamts
vom 17. April 2003 (B 11 - 40 100 - T 38/01) wieder hergestellt.
G r ü n d e :
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I. Durch die angefochtene Verfügung hat das Bundeskartellamt der Antragstellerin,
einem städtischen Energie- und insbesondere Elektrizitätsversorgungsunternehmen,
untersagt, in den Netzebenen Mittelspannung, Umspannung Mittel- zu Niederspannung
und Niederspannung Netznutzungsentgelte zu erheben, die zu einem den Betrag von
40.800.000,00 Euro (zuzüglich Umsatzsteuer, Konzessionsabgabe, Mehrbelastungen
aus dem KWK-Gesetz und Erlösen aus Messentgelten) übersteigenden Erlös führen.
Die Entscheidung hat das Bundeskartellamt damit begründet, die von der Antragstellerin
in ihrem Netzgebiet (dem Gebiet der Stadt M... und angrenzenden Teilen des Landes
H...) erhobenen und - wie außer Streit steht - nach Maßgabe der VV Strom II plus
kalkulierten Netznutzungsentgelte seien missbräuchlich überhöht und demnach gemäß
§ 32 GWB in Verbindung mit § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 GWB, § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 4
GWB und § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1, § 20 Abs. 1 GWB zu untersagen. Hierbei hat sich
das Bundeskartellamt auf den Vergleichsmaßstab der "Erlöse pro Kilometer Leitung"
gestützt und als Vergleichsunternehmen die R... AG, D..., herangezogen. Wegen
bestimmter struktureller Unterschiede zwischen den Unternehmen der Antragstellerin
und der R... AG hat das Bundeskartellamt Korrekturzu- und abschläge angebracht. Im
Ergebnis hat es angenommen, die R... AG könne, - sofern sie das Stromnetz der
Antragstellerin betreibe - Netznutzungsleistungen zu weitaus niedrigeren
Netznutzungsentgelten erbringen, als dies derzeit durch die Antragstellerin geschehe.
Die der Antragstellerin auferlegte Erlössenkung, die erforderlich sei, um in den
genannten Netzebenen zu missbrauchsfreien Gesamterlösen zu kommen, hat das
Bundeskartellamt auf 19,9 % (entsprechend aufgerundet 10.153.000 Euro) beziffert.
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Gemäß § 65 Abs. 1 GWB hat das Bundeskartellamt die sofortige Vollziehung seiner
Verfügung angeordnet. Es hat im gesetzlichen Ziel des EnWG - einer
Wettbewerbsöffnung u.a. der Strommärkte -, dem durch die vorliegende Verfügung mit
Rücksicht darauf, dass wettbewerbliche Strukturen auf einem früher abgeschotteten
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Markt erstmals herzustellen seien, möglichst rasch und ohne dass die betroffenen
Netzbetreiber die Möglichkeit erhielten, Wettbewerber durch langwierige
Rechtsstreitigkeiten von einem Marktauftreten abzuhalten, zur Durchsetzung zu
verhelfen sei, ein das Interesse der Antragstellerin an einer vorläufigen
Aufrechterhaltung ihrer Netznutzungsentgelte überwiegendes öffentliches Interesse
gesehen. Hierzu hat das Bundeskartellamt auch auf das im Zeitpunkt des Erlasses der
Verfügung bevorstehende - und inzwischen am 24.5.2003 erfolgte - Inkrafttreten des
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des
Energiewirtschaftsrechts (Gesetz v. 20.5.2003, BGBl. I S. 686) verwiesen, wonach (und
zwar im Wege der Einfügung eines zweiten Halbsatzes in § 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB) die
Beschwerde gegen eine Verfügung der Kartellbehörde nach § 32 in Verbindung mit §
19 Abs. 4 GWB, die die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden
Stellung bei Elektrizitäts- oder Gasversorgungsnetzen betrifft, eine aufschiebende
Wirkung grundsätzlich nicht (mehr) zuzumessen sei.
Das Bundeskartellamt hat die Anordnung des Sofortvollzugs aber auch anhand der im
Verfügungszeitpunkt geltenden Rechtslage damit gerechtfertigt, dass sich ohne eine
sofortige Ermäßigung missbräuchlich überhöhter Netznutzungsentgelte ein wirksamer
Preiswettbewerb auf den nachgelagerten Märkten der Strombelieferung an Endkunden
nicht entfalten könne. Die Netznutzungsentgelte bestimmten als der größte Kostenfaktor
(im Umfang von etwa 80 %) unmittelbar die Preiskalkulation und die Marktchancen der
netznutzenden Stromlieferanten. Von diesen seit 1998 in großer Zahl aufgetretenen
Unternehmen seien inzwischen viele nach Anmeldung von Insolvenz auf den
Stromliefermärkten nicht mehr tätig. Mit der Intention einer Schaffung wettbewerblicher
Strukturen sei eine Verweisung dritter Stromlieferanten auf die Möglichkeit einer
späteren Geltendmachung von Schadensersatzforderungen gegen die Antragstellerin
wegen überhöhter Netznutzungsentgelte nicht zu vereinbaren, da zu dem genannten
Zweck die Marktchancen jener Unternehmen sofort verbessert werden sollten.
Demgegenüber sei - um auch deren Interessen Rechnung zu tragen - die Antragstellerin
nicht gehindert, nach einer erfolgreichen Anfechtung der Verfügung nicht erhobene
Teile von Netznutzungsentgelten nachzufordern oder diese bei einer Neukalkulation
ihrer Netznutzungsentgelte zu berücksichtigen. Durch den Sofortvollzug sei ausweislich
ihrer Geschäftsergebnisse in den vergangenen Jahren überdies weder die Liquidität der
Antragstellerin noch die Erfüllung der ihr obliegenden Versorgungsaufgabe ernsthaft
bedroht.
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Die Antragstellerin hat gegen die Verfügung des Bundeskartellamts Beschwerde
erhoben. Darüber hinaus beantragt sie, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde
wieder herzustellen. Die Antragstellerin macht hierzu geltend, die Voraussetzungen
einer Anordnung der sofortigen Vollziehung lägen nicht vor, da diese zur Sicherung
eines wirksamen Wettbewerbs auf den Strombelieferungsmärkten nicht geboten sei,
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung bestünden und
deren Vollzug für sie, die Antragstellerin, zu unbilligen Härten führe. Sie ist der Meinung,
die Anordnung des Sofortvollzugs sei an der bis zum 23.5.2003 geltenden
Gesetzeslage zu messen.
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II. Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihrer Beschwerde gegen
die Verfügung des Bundeskartellamt wiederherzustellen, ist begründet. Die
Entscheidung über diesen Antrag richtet sich nach § 65 Abs. 3 Satz 1 GWB. Danach
kann das Beschwerdegericht die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
wiederherstellen, wenn
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1. die Voraussetzungen für die Anordnung nach § 65 Abs. 1 GWB nicht vorgelegen
haben oder nicht mehr vorliegen oder
2. ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen
oder
3. die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende
öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
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Im vorliegenden Fall sind die Anordnungsgründe der Nr. 1 und Nr. 2 von § 65 Abs. 3
Satz 1 GWB gegeben, da die Voraussetzungen, unter denen die Kartellbehörde gemäß
§ 65 Abs. 1 GWB die sofortige Vollziehung anordnen kann, nicht vorgelegen haben und
zudem ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung
bestehen.
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A) Vorab ist festzustellen, dass die Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin auf
der Grundlage der bis zum 23.5.2003 geltenden Gesetzeslage zu treffen ist, der zufolge
die Beschwerde gegen eine Verfügung der Kartellbehörde kraft Gesetzes eine
aufschiebende Wirkung hatte (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB). Die angefochtene Verfügung ist
am 17.4.2003, also noch unter der Geltung des bisherigen Rechts, ergangen und
zugestellt worden. Nur wenn die sofortige Durchsetzung der Verfügung im öffentlichen
Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten geboten war, konnte die
Kartellbehörde hiernach ihre sofortige Vollziehung anordnen (§ 65 Abs. 1 GWB). Diese
Anordnung setzte eine auf den Einzelfall bezogene Abwägung der an einer sofortigen
Vollziehung der Verfügung bestehenden Interessen gegen das Interesse des
Verfügungsadressaten an der Wahrung der aufschiebenden Wirkung seines
Rechtsmittels voraus. Entsprechend der im Gesetz selbst zum Ausdruck gelangten
Wertung, dass die aufschiebende Wirkung der Beschwerde den Regelfall, die
Anordnung der sofortigen Vollziehung hingegen die Ausnahme bildete, unterlag die
Anordnung eines Sofortvollzuges hohen Anforderungen, die dahin zusammenzufassen
sind, dass die gebotene Interessenabwägung über das bloße Interesse am Erlass der
Verfügung hinausreichende Gründe, welche für eine sofortige Vollziehung der
Verfügung sprachen, ergeben musste (vgl. KG WuW/E OLG 5132, 5133 - Empfehlung
Ersatzwagenkostenerstattung; WuW/E OLG 1465, 1466 - Kalkulationsklausel; K.
Schmidt in Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., § 65 Rn. 6 f.; Bechtold, 3. Aufl., § 65 Rn. 2;
Langen/Kollmorgen, 9. Aufl., § 65 Rn. 5 jeweils m.w.N.). Die bis zum 23.5.2003
bestehende Gesetzeslage und ihre im Wesentlichen übereinstimmende Interpretation
durch Rechtsprechung und Schrifttum verliehen dem Verfügungsadressaten mit Blick
auf das anerkannte Regel-Ausnahme-Verhältnis, die Abhängigkeit der Anordnung eines
Sofortvollzuges von einer Interessenabwägung und das geforderte klare Ergebnis
dieser Interessenabwägung in verfahrensrechtlicher Hinsicht eine vergleichsweise
starke Position.
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Dies hat sich mit dem Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts (Gesetz v. 20.5.2003, BGBl. I S. 686) am
24.5.2003 insofern geändert, als nach § 64 Abs. 1 Nr. 2, 2. Halbsatz GWB n.F. die
Beschwerde gegen Verfügungen der Kartellbehörde nach § 32 GWB in Verbindung mit
§ 19 Abs. 4 GWB, die die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden
Stellung bei Elektrizitäts- oder Gasversorgungsnetzen zum Gegenstand haben, keine
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aufschiebende Wirkung mehr entfaltet. Die angefochtene Verfügung gründet sich unter
anderem auf § 19 Abs. 4 GWB. Die Gesetzesänderung ist nach Erlass der Verfügung
und ihrer Zustellung, nach Einlegung der Beschwerde durch die Antragstellerin und
nach Eingang ihres Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres
Rechtsmittels, aber vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts über den
letztgenannten Antrag eingetreten. An diesen Befund knüpfen die Beteiligten
unterschiedliche verfahrensrechtliche Auffassungen. Während die Antragstellerin der
Meinung ist, ihr Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde sei nach dem bis zum 23.5.2003 geltenden Verfahrensrecht zu behandeln,
will das Bundeskartellamt die seit dem 24.5.2003 geltende Gesetzeslage angewandt
sehen.
Dem Bundeskartellamt ist zuzugeben, dass der Grundsatz des intertemporalen
Prozessrechts, wonach eine Änderung des Verfahrensrechts auch die anhängigen
Rechtsstreitigkeiten erfasst (vgl. BverfGE 65, 76, 98), im Allgemeinen die Anwendung
des im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Verfahrensrechts gebietet
(vgl. auch Kopp/Schenke, 13. Aufl., § 80 VwGO Rn. 147; Eyermann/J. Schmidt, 10. Aufl.,
§ 80 VwGO Rn. 83). Da der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 64 Abs. 1 Nr. 2
GWB während des vorliegenden Verfahrens auf die bislang gegebene
verfahrensrechtliche Lage eingewirkt hat, kann die durch die Beteiligten aufgeworfene
Streitfrage jedoch nicht ohne Rücksicht auf den im Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3
GG verankerten Grundsatz des verfahrensrechtlichen Vertrauensschutzes entschieden
werden. Es ist eine Ausprägung dieses Grundsatzes, dass die dem Beteiligten an einem
gerichtlichen Verfahren kraft Gesetzes eingeräumte verfahrensrechtliche Stellung durch
eine nachträgliche Gesetzesänderung nur beseitigt wird, sofern das die Änderung
verfügende Gesetz selbst den Entzug dieser Verfahrensposition eindeutig ausspricht
(BVerwGE 106, 237, 239 f.; vgl. auch BVerfG NVwZ 1992, 1182, 1183; NJW 1983,
2757, 2759). Eine dahingehende Anordnung trifft das Erste Gesetz zur Änderung des
Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 20.5.2003 - auch im Sinne
einer Übergangsregelung - nicht. Auch die Gesetzesmaterialien geben hierfür nichts her
(BT-Drucks. 15/197).
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Die Verfahrensposition, die die Antragstellerin auf Grund der bisherigen Gesetzeslage
hatte, ist nicht von so geringem Gewicht, dass der Gesichtspunkt des
Vertrauensschutzes zurückzutreten hat. Nach der bis zum 23.5.2003 geltenden
Rechtslage war die in einem Einzelfall getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung
in dem dem Beschwerdeverfahren vorgeschalteten Eilverfahren daraufhin überprüfbar,
ob die Voraussetzungen für die Anordnung nach § 65 Abs. 1 GWB vorgelegen haben (§
65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB). Dies war anhand einer fallbezogenen
Interessenabwägung zu ermitteln, die zu dem eindeutigen Ergebnis führen musste, dass
dem Interesse an einer sofortigen Durchsetzung der Verfügung aus Gründen, die über
dasjenige Interesse, welches die Verfügung selbst rechtfertigte, hinausgingen, der
Vorzug zu geben war. Diese Prüfung entfällt nach der am 24.5.2003 in Kraft getretenen
Änderung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB, da - ohne dass für eine Überprüfung und
Interessenabwägung weiterhin noch Raum bleibt - die Beschwerde gegen die
genannten Verfügungen der Kartellbehörde kraft Gesetzes keine aufschiebende
Wirkung mehr hat. Der Beschwerdeführer, der erreichen will, dass sein Rechtsmittel
aufschiebende Wirkung erlangt, ist nach der neuen Gesetzeslage infolge dessen auf die
Möglichkeit eines an das Beschwerdegericht zu richtenden Antrages gemäß § 65 Abs. 3
Satz 3 GWB beschränkt. Auf einen solchen Antrag kann das Beschwerdegericht die
aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise nur anordnen, wenn die Voraussetzungen
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des Satzes 1 Nr. 2 oder 3 von § 65 Abs. 3 GWB gegeben sind, wenn also ernstliche
Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen oder ihre
Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte bedeutet. Die durch die
Gesetzesänderung eingetretene Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des
Beschwerdeführers gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung ist von Gewicht.
Von daher kommt der nach dem bisherigen Rechtszustand begründeten Position der
Antragstellerin und Beschwerdeführerin, mit ihrem Antrag auf Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung der Beschwerde auch die - von dem Ergebnis einer
Interessenabwägung abhängigen - Voraussetzungen für die Anordnung des
Sofortvollzuges überprüfen zu lassen (§ 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 65
Abs. 1 GWB), ein verfahrensrechtlicher Vertrauensschutz zu, der eine Behandlung ihres
Antrags nach der bis zum 23.5.2003 geltenden Gesetzeslage erfordert.
B) Im Streitfall liegen die Voraussetzungen, unter denen die angefochtene Verfügung
gemäß § 65 Abs. 1 GWB mit sofortiger Vollziehbarkeit ausgestattet werden kann, nicht
vor. Hieraus folgt, dass die aufschiebende Wirkung der Beschwerde der Antragstellerin
wiederherzustellen ist (§ 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB). Der Wortlaut des Gesetzes
("kann") weist dem Beschwerdegericht lediglich die Zuständigkeit für diese
Entscheidung zu, ohne ihm insofern einen Ermessensspielraum einzuräumen.
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1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung lässt sich nicht allein mit dem Hinweis
darauf begründen, für die Allgemeinheit träten ohne eine sofortige Absenkung der von
der Antragstellerin erhobenen Netznutzungsentgelte nicht wiedergutzumachende
Nachteile ein. Das Bundeskartellamt verweist in diesem Zusammenhang zu Unrecht auf
die Rechtsprechung des Kammergerichts, das bei Preismissbräuchen ohne Weiteres
die sofortige Vollziehbarkeit einer auf Untersagung gerichteten Missbrauchsverfügung
bejaht habe (vgl. KG WuW/E OLG 1465, 1466 - Kalkulationsklausel; WuW/E OLG 1467,
1468 - BP). Vom hier zu beurteilenden Sachverhalt hebt sich jene Rechtsprechung
dadurch ab, dass in den vom Kammergericht entschiedenen Fällen Preismissbräuche
marktbeherrschender Unternehmen jeweils gegenüber Endverbrauchern vorlagen, und
das Kammergericht ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung einer
Missbrauchsverfügung bei sich rasch ändernden Marktverhältnissen und der dadurch
erzeugten Gefahr eines Leerlaufens der Verfügung angenommen hat. Das ist im
vorliegenden Fall anders, denn es steht hier nicht ein Preismissbrauch gegenüber
Endkunden, sondern eine missbräuchliche Überhöhung der von gewerblichen
Stromhändlern an die Antragstellerin entrichteten Netznutzungsentgelte in Frage. Es ist
auch mit Rücksicht auf die vom Bundeskartellamt in seiner Antragserwiderung vom
28.5.2003 aufgezeigten Umstände zwar im Einzelfall möglich, aber weder überwiegend
wahrscheinlich noch erst recht notwendig anzunehmen, überhöhte und von
zwischengeschalteten Stromhändlern erhobene Netznutzungsentgelte hätten sich auf
die Höhe der Endverbraucherpreise ausgewirkt. Vielmehr spricht - worauf die
Antragstellerin sich auch beruft - eine gleich hohe tatsächliche Wahrscheinlichkeit dafür,
dass gewerbliche Stromhändler - und zwar mit Rücksicht auf den mit der Antragstellerin
bestehenden Wettbewerb um Endkunden und aus Gründen der Erhaltung ihrer eigenen
Wettbewerbsfähigkeit - bisher darauf verzichtet haben, ihre Kunden in vollem oder auch
nur in teilweisem und dementsprechend nachteiligem Umfang mit überhöhten
Netznutzungsentgelten zu belasten, und dass sie hiervon auch künftig absehen werden.
Der Sachverhalt ist insofern unaufgeklärt. Er trägt ohne willkürliche Bewertung nicht die
Annahme, das eine oder andere sei überwiegend wahrscheinlich. Hierauf hat der Senat
bereits in seinem in einer vergleichbaren Sache ergangenen Beschluss vom 30.4.2003
(Az. Kart 4/03 (V)) hingewiesen (Beschlussabdruck S. 7). Genauso wenig ist zu
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erwarten, die angefochtene Verfügung könne auf Grund sich wandelnder
Marktverhältnisse ohne die Anordnung eines Sofortvollzuges alsbald gegenstands- oder
wirkungslos werden. Eine dahingehende Besorgnis ist nach den Umständen nicht
gerechtfertigt; sie wird vom Bundeskartellamt auch nicht geltend gemacht. Keinen Grund
für die Anordnung einer sofortigen Vollziehung bildet demgegenüber die Tatsache, dass
bei Erlass der angefochtenen Verfügung mit dem baldigen Inkrafttreten des Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts zu
rechnen war, wonach - und zwar gemäß dem neu eingefügten und seit dem 24.5.2003
geltenden § 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG - bei Einhaltung der Verbändevereinbarung über
Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektrische Energie und über
Prinzipien der Netznutzung vom 13.12.2001 (Verbändevereinbarung [VV] Strom II plus)
bis zum 31.12.2003 die Erfüllung guter fachlicher Praxis im Sinne des § 6 Abs. 1 EnWG
zu vermuten ist. Sollte der Gesetzgeber der angefochtenen Verfügung hierdurch die
rechtliche Grundlage entzogen haben, so ist dies hinzunehmen.
2. Im Ergebnis setzt die Anordnung der sofortigen Vollziehung demnach eine
fallbezogene Abwägung der gegenläufigen Interessen, namentlich des öffentlichen
Interesses und der Interessen dritter Beteiligter sowie der Belange der Antragstellerin
als Adressatin der angefochtenen Verfügung, voraus (§ 65 Abs. 1 GWB). Das Resultat
dieser Interessenabwägung gebietet im vorliegenden Fall nicht die Anordnung eines
Sofortvollzuges.
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Allerdings ist dem Bundeskartellamt in seinem rechtlichen Ansatz beizupflichten, dass
die Anordnung einer sofortigen Vollziehung vor allem in solchen Fällen erforderlich sein
kann, in denen der Erlass einer Missbrauchsverfügung nicht nur der Erhaltung eines
schutzwürdigen Wettbewerbs, sondern einer überhaupt erstmaligen Herstellung
wettbewerblicher Strukturen auf einem zuvor durch ein Monopol abgeschotteten Markt
dient. Indes hat das Bundeskartellamt diesen zutreffenden Ansatz in der angefochtenen
Untersagungsverfügung und in den zum vorliegenden Verfahren eingereichten weiteren
Schriftsätzen durch feststellbare oder jedenfalls überwiegend wahrscheinliche
Tatsachen nicht in einer Weise ausgefüllt, die belegt, dass ein Sofortvollzug der
Verfügung aus einem höher als die Belange der Antragstellerin einzustufenden
öffentlichen Interesse geboten ist, und dass dieser Sofortvollzug geeignet und
erforderlich ist, die Verhältnisse auf den relevanten Märkten einschneidend zu
verändern und den angestrebten Wettbewerb entstehen zu lassen.
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Das Bundeskartellamt hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung unter anderem
darauf gestützt, die Netznutzungsentgelte beeinflussten unmittelbar die
Kostenkalkulation und die Marktchancen der netznutzenden freien Stromlieferanten.
Deren Stromabgabepreise seien zu etwa 80 % durch die abzuführenden
Netznutzungsentgelte bestimmt. In diesem Sinn sei es als ein Indiz sowohl für
überhöhte Netznutzungsentgelte der Antragstellerin als auch für deren
marktabschottende Wirkung zu bewerten, dass im Jahr 2001 in ihrem Netzgebiet
lediglich etwa 6,7 % der Stromkunden (nur etwa 3 % hiervon seien sog. Kleinkunden
ohne Leistungsmessung) von dritten Stromlieferanten beliefert würden. Diese
Tatsachen sind im Verlauf des bisherigen Verfahrens jedoch erheblich relativiert
worden. Denn das Bundeskartellamt hat seine Darstellung, wonach die
Netznutzungsentgelte zu etwa 80 % auf die Kalkulation der Strompreise von
Drittlieferanten durchschlügen, nicht mehr aufrechterhalten; es macht nurmehr einen
Einfluss von durchschnittlich etwa 40 % auf die Brutto-Endpreise geltend (in nicht näher
beschriebenen und belegten Einzelfällen allerdings von bis zu 72 %). Dem Vortrag der
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Antragstellerin zufolge soll sich der Anteil der Netznutzungsentgelte an den
Strompreisen zwischen einem Drittel und etwa 37 % bewegen. Trotz verbleibender
Unklarheiten steht hiernach fest, dass von dem anfangs anzunehmenden
außerordentlich hohen Einfluss der Netznutzungsentgelte auf die Preiskalkulation der
freien Stromlieferanten nicht mehr ausgegangen werden kann, sondern dass sich diese
Abhängigkeit bei einer auf den Durchschnitt zu beziehenden Betrachtungsweise
jedenfalls auf etwa die Hälfte der ursprünglich anzunehmenden Größenordnung
reduziert. Ähnliches gilt für den vom Bundeskartellamt genannten Marktanteil dritter
Stromlieferanten im Netzgebiet der Antragstellerin. Die Antragstellerin macht (zuletzt)
geltend, dieser Anteil habe sich im Jahr 2002 auf geringfügig mehr als 15 % erhöht. Für
das Jahr 2003 (in dem die Verbotsverfügung ergangen ist) sei eine weitere Zunahme
auf mehr als 17 % zu erwarten. Das Bundeskartellamt ist diesem Vortrag ausdrücklich
nicht entgegen getreten. Die von der Antragstellerin behaupteten Zuwächse der
Marktanteile sind der Entscheidung folglich zugrundezulegen. In Verbindung mit dem
unstreitigen Vorbringen der Antragstellerin, sie zähle in ihrem Netzgebiet insgesamt 35
fremde Stromlieferanten, stellt dies die Annahme des Bundeskartellamts in Frage, das
Versorgungsgebiet der Antragstellerin sei durch überhöhte Netznutzungsentgelte gegen
einen Wettbewerb abgeschottet, und es könnten sich ohne einen Sofortvollzug der
angefochtenen Verfügung wettbewerbliche Strukturen auch nicht ansatzweise
entwickeln. Dagegen spricht die unstreitige tatsächliche Entwicklung allein während des
vom Bundeskartellamt eingeleiteten Missbrauchsverfahrens. Dagegen spricht auch der
unwidersprochene Vortrag der Antragstellerin, sie habe - um einem aufkommenden
Wettbewerb Rechnung zu tragen - während des Amtsverfahrens ihre
Stromabgabepreise um bis zu 6 % gesenkt. Die Behauptung der Antragstellerin, auch in
den Versorgungsgebieten der von ihr benannten günstigsten Stromnetzbetreiber seien
die Anteile der durch dritte Zwischenhändler belieferten Endkunden nicht höher als in
ihrem, der Antragstellerin, eigenen Netzgebiet, bedarf entgegen der Annahme des
Bundeskartellamts keiner von der Antragstellerin beizubringenden statistischen
Untersuchung einer repräsentativen Gruppe von Netzbetreibern. Die Darlegung und der
Nachweis (mindestens aber die Glaubhaftmachung) der tatsächlichen Gründe, die die
sofortige Vollziehung der angefochtenen Verfügung gebieten, obliegt prozessual dem
Bundeskartellamt.
Die Auswirkungen, die von der mit sofortiger Durchsetzbarkeit verfügten Absenkung der
Netznutzungsentgelte voraussichtlich ausgehen, rechtfertigen nach derzeitigem
Erkenntnisstand nicht einen Sofortvollzug der angefochtenen Verfügung. Die
Antragstellerin hat an den Beispielsfällen der Beigeladenen Y... GmbH und L... GmbH
aufgezeigt, durch die ihr aufgegebene Ermäßigung der Netznutzungsentgelte
verminderten sich die von jenen Stromhandelsunternehmen insgesamt
aufzuwendenden Netznutzungsentgelte um weniger als 0,05 %. Ob dies mit Rücksicht
darauf, dass das Bundeskartellamt den Berechnungen der Antragstellerin nicht
widersprochen hat, so hinzunehmen ist, kann auf sich beruhen. Es kennzeichnet
jedenfalls die Größenordnung, in der die verfügte Senkung der Netznutzungsentgelte
geeignet ist, die Preiskalkulation der netznutzenden Stromhändler zu beeinflussen.
Aufgrund der Größenordnung können die Stromhändler nach dem gegenwärtigen Sach-
und Streitstand voraussichtlich nur mit einer geringfügigen Kostenentlastung und mit
einer geringen Verbesserung ihrer Wettbewerbsbedingungen rechnen, die für sich allein
genommen die Anordnung einer sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung
nicht rechtfertigt. Die Größenordnung lässt auch nicht erwarten, dass sich der Anteil der
durchleitenden Stromhändler im Netzgebiet der Antragstellerin oder darüber hinaus in
einem weitergehenden Umfang, als dies bisher bereits geschehen ist, in Kürze fühlbar
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erhöht. Wie der Senat in seinem Beschluss vom 30.4. 2003 (Az. Kart 4/03 (V))
ausgeführt hat, hängt die Berechtigung der Anordnung eines Sofortvollzuges namentlich
auch von den vorauszusehenden Wirkungen ab, die die Verfügung der Kartellbehörde
und ihre sofortige Durchsetzung auf die Wettbewerbsverhältnisse entfaltet
(Beschlussabdruck S. 11). Denn gerade die von der Durchsetzung der Verfügung zu
erwartenden Auswirkungen können als ein über das an ihrem Erlass selbst bestehende
öffentliche Interesse hinausgehender Grund die Anordnung eines Sofortvollzuges
rechtfertigen. Die Gegenrechnung des Bundeskartellamts, wonach die von der
Antragstellerin verlangte Herabsetzung der Netznutzungsentgelte um 19,9 % den in
ihrem Netzgebiet tätigen Stromhändlern ihrerseits einen - möglicherweise als erheblich
zu bewertenden - Preissenkungsspielraum von bis zu 8 % eröffne, berücksichtigt nicht,
dass für die Händler auch außerhalb des Versorgungsgebiets der Antragstellerin - und
zwar in einem betragsmäßig bedeutend höheren Maß - Netznutzungsentgelte anfallen.
Die Relationen reduzieren den vom Bundeskartellamt angenommenen Freiraum zur
Preisgestaltung erheblich. Infolge dessen ist nicht wahrscheinlich, eine sofortige
Vollziehung der angefochtenen Verfügung wirke sich auf die Wettbewerbsbedingungen
der durchleitenden Stromhändler, insbesondere in der Form einer fühlbaren
Kostenentlastung, nennenswert aus. In diesem Punkt unterscheidet sich der im
Eilverfahren nach § 65 Abs. 3 GWB anzulegende rechtliche Prüfungsmaßstab auch von
jenen Überprüfungsgrundsätzen, die im Beschwerdeverfahren anzuwenden sind. Im
Beschwerdeverfahren kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß der Wettbewerb
auf dem relevanten Markt durch einen festgestellten Preismissbrauch beeinträchtigt ist.
In jenem Verfahren ist auch nicht entscheidend, welche Wirkungen das beanstandete
Verhalten auf benachbarte Märkte äußert. Es ist - sofern sie festzustellen ist - vielmehr
jede missbräuchliche Preisüberhöhung zu untersagen. Im Eilverfahren bilden - wenn die
Verfügung der Kartellbehörde (wie nunmehr nach § 64 Abs. 1 Nr. 2, 2. Halbsatz GWB)
nicht kraft Gesetzes mit sofortiger Vollziehbarkeit ausgestattet ist - die von einem
Sofortvollzug wahrscheinlich ausgehenden wettbewerblichen Auswirkungen hingegen
einen besonders zu prüfenden Grund, bei dessen Vorliegen die sofortige Durchsetzung
der Missbrauchsverfügung geboten sein kann.
Die angefochtene Verfügung und die mit ihr verbundene Anordnung einer sofortigen
Vollziehung entfaltet auf den betroffenen Märkten ebenso wenig dadurch eine breitere
Wirkung, dass andere Netzbetreiber sie zum Anlass genommen haben oder nehmen
werden, ihre Netznutzungsentgelte von sich aus ebenfalls zu ermäßigen. Für eine
dahingehende Annahme gibt es keinen erkennbaren Grund. Missbrauchsverfügungen
der vorliegenden Art sind - wie die Antragstellerin unbestritten behauptet und soweit
dies für den Senat nachzuvollziehen ist - gegen Stromnetzbetreiber bisher außerdem
lediglich vereinzelt ergangen (siehe hierzu auch den Senatsbeschluss vom 30.4.2003,
Az. Kart 4/03 (V), Beschlussabdruck S. 12). Es wird also auch durch die
Verfügungspraxis des Bundeskartellamts keine Breitenwirkung erzielt.
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Die Erwartung, die sofortige Vollziehung der angefochtenen Verfügung wirke sich auf
die Kostenkalkulation von Stromhändlern entlastend aus und führe alsbald zu einer
merklichen Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen, ist nicht zuletzt überdies
deswegen eingeschränkt, weil ein Sofortvollzug bis zu einer rechtskräftigen
Entscheidung über die Beschwerde der Antragstellerin gegen die angefochtene
Verfügung lediglich eine einstweilige Besserstellung der Stromhändler bewirkt. Die
Antragstellerin hat angekündigt, eine von ihr im Wege sofortiger Vollziehung verlangte
Herabsetzung der Netznutzungsentgelte unter den Vorbehalt einer Nachforderung der
Entgeltsenkungsbeträge für den Fall zu stellen, dass die Verfügung des
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Bundeskartellamts durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung aufgehoben wird.
Stromhandelsunternehmen, die - vorläufig - in den Genuss ermäßigter
Netznutzungsentgelte kommen, haben deshalb nach den für die Wertansätze in ihren
Jahresabschlüssen geltenden gesetzlichen Vorschriften mit Rücksicht auf den ungewiss
eintretenden Fall einer Nachzahlung von Netznutzungsentgelten in bestimmter Höhe
Rückstellungen zu bilden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB). Das Erfordernis solcher
Rückstellungen ist vom Bundeskartellamt nicht entkräftet worden. Sein Hinweis auf die
Bewertungsvorschrift des § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB enthält nur Selbstverständliches.
Denn es versteht sich bei sachgerechter Würdigung von selbst, dass - wie die genannte
Vorschrift besagt - Rückstellungen nur in Höhe desjenigen Betrages (oder einer
Mehrheit von Beträgen) anzusetzen sind, die nach vernünftiger kaufmännischer
Beurteilung notwendig ist. Damit ist es der kaufmännischen Beurteilung des einzelnen
Stromhandelsunternehmens überlassen, in welcher Höhe Rückstellungen im Einzelfall
festgesetzt werden. Da im gegenwärtigen Stadium der rechtlichen Überprüfung
ungewiss ist, ob die Verfügung des Bundeskartellamt Bestand haben wird, widerspricht
es jedenfalls nicht kaufmännischer Sorgfalt, wenn Rückstellungen in Höhe zumindest
namhafter Teilbeträge der unter den Vorbehalt einer Nachforderung gestellten
Netznutzungsentgelte gebildet werden.
Die Darstellung des Bundeskartellamts, die angeblich überhöhten
Netznutzungsentgelte der Antragstellerin bedrohten die Liquidität der auf den Märkten
bereits tätigen Stromhandelsunternehmen und sie hätten in einer beachtlichen Anzahl
von Fällen bereits zum Eintritt in Insolvenzverfahren geführt, veranlasst nicht, dem im
rechtlichen Rahmen von § 65 Abs. 3 GWB abzuwägenden öffentlichen Interesse an
einer sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung den Vorzug vor den
Belangen der Antragstellerin zu geben. Denn das Bundeskartellamt hat die von ihm
behauptete Kausalität missbräuchlich überhöhter Netznutzungsentgelte für solche
Liquiditätsschwierigkeiten und Insolvenzen weder in der angefochtenen Verfügung noch
sonst näher begründet, wahrscheinlich gemacht oder erst recht nachgewiesen. Liquide
Beweismittel sind hierfür nicht vorhanden. Von seiner anfänglichen Darstellung, wonach
die Netznutzungsentgelte zu etwa 80 % die Preiskalkulation dritter Stromlieferanten
bestimmten, ist das Bundeskartellamt im Laufe des Verfahrens auch deutlich abgerückt.
Ansonsten sind nach allgemeiner wirtschaftlicher Erfahrung zahlreiche Gründe denkbar
(unter Umständen auch ein Zusammentreffen mehrerer Gründe), die einen finanziellen
Verfall der betroffenen Handelsunternehmen verursacht haben können.
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Hieran gemessen sind keine zureichend wahrscheinlich gemachten Gründe zu
erkennen, die gegen die Antragstellerin ergangene Untersagungsverfügung mit der
Anordnung eines sofortigen Vollzuges zu belegen. Gemäß der bis zum 23.5.2003
bestehenden Gesetzeslage hat es daher bei der grundsätzlich aufschiebenden Wirkung
der Beschwerde gegen die angefochtene Verfügung zu bleiben.
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C) Zu keinem anderen Ergebnis führt es, wenn man den Antrag als Antrag, die
aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels gemäß § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB anzuordnen,
behandelt und unter dem Gesichtpunkt der durch das Erste Gesetz zur Änderung des
Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts zum 24.5.2003 bewirkten
neuen Rechtslage prüft. Mit diesem Gesetz hat § 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB durch Einfügen
eines zweiten Halbsatzes die Fassung erhalten, dass die Beschwerde bei Verfügungen
der Kartellbehörde nach § 32 in Verbindung mit § 19 Abs. 4 GWB, die die
missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung bei Elektrizitäts- und
Gasversorgungsnetzen betreffen, keine aufschiebende Wirkung (mehr) hat. Als Folge
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dessen kann der Beschwerdeführer gemäß § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB die Anordnung
einer aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels nur unter den Voraussetzungen
des Satzes 1 Nr. 2 oder 2 dieser Vorschrift erreichen, mithin dann, wenn ernstliche
Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen oder die
Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (siehe oben unter A) S. 7, 8).
Im vorliegenden Fall erfordern ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Verfügung die Anordnung einer aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde. Solche Zweifel können in tatsächlicher (so bei nicht zureichender
Sachaufklärung) oder in rechtlicher (in verfahrens- oder in materiell-rechtlicher) Hinsicht
begründet sein. Die Voraussetzungen einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung
der Beschwerde nach § 65 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GWB sind grundsätzlich zwar nicht schon
dann gegeben, wenn die Rechtslage allein als offen zu bewerten ist (vgl. KG WuW/E
OLG 1497, 1498 - AGIP I). Eine insoweit an den Umständen des einzelnen Falles
orientierte Handhabung ist starren Regelungen jedoch vorzuziehen. Ungewissheiten
bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung können danach
ins Gewicht fallen, je stärker das betroffene Unternehmen durch einen Sofortvollzug der
Verfügung belastet ist (vgl. KG WuW/E OLG 5263, 5266 - Krupp-Hoesch-Brüninghaus -
m.w.N.). Im vorliegenden Fall wirken sich im Wesentlichen folgende Gesichtspunkte auf
die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung aus:
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1. Das Bundeskartellamt hat mit einem Vergleich der Umsatzerlöse aus der
Netznutzung, bezogen auf die jeweilige Leitungslänge, einen Vergleichsmaßstab für die
Missbrauchsaufsicht gewählt, durch den die herkömmlich angewandte Methode einer
Gegenüberstellung von Vergleichspreisen aufgegeben wird. Die hierfür vom
Bundeskartellamt herangezogene Begründung ist allerdings beachtlich und jedenfalls
nicht ohne Weiteres zu verwerfen. Denn für eine auf Leitungseinheiten bezogene
erlösorientierte Betrachtungsweise spricht, dass - wie außer Streit steht - dadurch
ermöglicht wird, im Rahmen einer vergleichsweisen Betrachtung und Bewertung nicht
nur den wesentlichen, die Netzkosten bestimmenden Kostenfaktor (bezogen auf die
Einheit "Kilometer Leitungslänge"), sondern auch die Abnahmestruktur eines
Netzgebiets (und nicht nur einzelne Abnahmefälle) zu erfassen. In diesem Sinn hat der
Senat in seinem Beschluss vom 22.1.2003 (Az. Kart 39/02 (V) = WuW/E DE-R 1067)
ausgeführt, der Vergleichsgröße "Netznutzungserlöse pro km Leitungslänge" sei nicht
von vorneherein eine Eignung als erster Ansatz für einen Missbrauchsverdacht
abzusprechen. Ebenso wenig erweckt die vom Bundeskartellamt nunmehr angewandte
Vergleichsmethode bereits im Ansatz rechtliche Bedenken insofern, als sie nicht
anknüpft an die in § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB genannte Größe der "Entgelte". Sofern ein
Netzbetreiber Netznutzungsentgelte in einer Höhe erhebt, die zur Deckung seiner
Betriebskosten nicht erforderlich ist, kann unter Umständen anzunehmen sein, er habe
bei wirksamem Wettbewerb von dieser Möglichkeit wahrscheinlich keinen Gebrauch
machen können. Wären bei wirksamem Wettbewerb seine Umsatzerlöse geringer,
wären es im Übrigen auch die Netznutzungsentgelte (siehe den genannten
Senatsbeschluss, Beschlussabdruck S. 7, 8). Im Ergebnis hat der Senat die Frage einer
generellen Eignung des Vergleichsmaßstabs "Netznutzungserlöse pro Kilometer
Leitungslänge" in seiner damaligen Entscheidung indes offen gelassen, da es hierauf
nicht ankam. Es ging damals nur darum, ob das Bundeskartellamt im Rahmen der
gerichtlichen Überprüfung eines Auskunftsverlangens nach § 59 GWB einen
Anfangsverdacht vertretbar begründet hatte. In jenen Verfahren ist ein großzügigerer
Prüfungsmaßstab angebracht als bei der Rechtmäßigkeitskontrolle einer
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Untersagungsverfügung nach § 32 GWB. Das Bundeskartellamt überdehnt mithin die
Tragweite und den rechtlichen Aussagewert des Senatsbeschlusses vom 22.1.2003
(Az. Kart 39/02 (V)), soweit es den Gründen entnimmt, der Senat habe die
Vergleichsgröße "Netznutzungserlöse pro Kilometer Leitungslänge" generell, und zwar
auch für den Fall, dass eine Untersagungsverfügung hierauf gestützt ist, gutgeheißen.
Genauso wenig hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 21.2.1995 (Az.
KVR 4/94 = WuW/E BGH 2967, 2975 f.) die rechtliche Unbedenklichkeit eines
Vergleichs von Umsatzerlösen im Rahmen einer Missbrauchsaufsicht bestätigt. Diese
zu § 103 GWB a.F. ergangene Entscheidung befasst sich entgegen der Ansicht des
Bundeskartellamts nicht mit dieser Frage und beantwortet sie dementsprechend auch
nicht.
Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit des der angefochtenen Verfügung zugrunde
liegenden Vergleichsansatzes ist im Streitfall von grundlegender Bedeutung; sie ist
gerichtlich bislang nicht geklärt. Ihre Beantwortung bedarf einer vertiefenden Ausein-
andersetzung mit den widerstreitenden Standpunkten der Beteiligten, die eine der
Hauptaufgaben im Beschwerdeverfahren bilden wird. Gleiches trifft auf die fallbezogene
Anwendung des Vergleichsmaßstabes der Netznutzungserlöse pro Kilometer
Leitungslänge sowie auch auf die Heranziehung der R... AG (an Stelle eines mit der
Antragstellerin strukturell ähnlicheren Unternehmens) als Vergleichsunternehmen zu.
Hinzu kommt, dass nahezu die gesamte die Untersagungsverfügung weiter tragende
Begründung zwischen den Hauptbeteiligten des Verfahrens umstritten ist. Dieser Streit
umfasst die der Verfügung zugrunde gelegten Tatsachen, ihre sachgerechte und
vollständige Ermittlung sowie die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Nicht
zuletzt sind die vom Bundeskartellamt im Laufe seiner Vergleichsberechnungen
mehrfach angebrachten Korrekturzu- und abschläge sowie die Begründungen, mit
denen es solche Zuschläge (einschließlich eines sog. Erheblichkeitszuschlags) zum
Teil abgelehnt hat, nach Grund und Höhe streitig. Bei der derzeit allein gebotenen
summarischen Prüfung sind die sachliche Berechtigung der angefochtenen Verfügung
und der Ausgang des Beschwerdeverfahrens hiernach auch nicht annähernd
zuverlässig abzuschätzen. Die dazu erforderlichen Klärungen können allein im
Hauptverfahren vorgenommen werden. Der vom Bundeskartellamt insofern
angestrengte Vergleich zu der in anderer Sache, aber ebenfalls in einem Eilverfahren
ergangenen Entscheidung des Senats vom 27.3.2002 (Az. Kart 7/02 (V) = WuW/E DE-R
867 - Germania) passt nicht auf den vorliegenden Fall. In jenem Verfahren waren die in
einem Flugtarif inbegriffenen Mehrleistungen monetär zu bewerten. Den dagegen
gerichteten Einwand einer Verfahrensbeteiligten, eine derartige Bewertung sei praktisch
unmöglich und führe zu willkürlichen Entscheidungen, hat der Senat als eine
Kapitulation vor der Aufgabe ohne sachlichen Argumentationswert beschieden (a.a.O.
874). Die im vorliegenden Verfahren vorzunehmenden Bewertungen übertreffen die in
jenem anderen Verfahren gefällte Entscheidung an Schwierigkeit und Komplexität indes
so deutlich, dass die dortige Begründung hier nicht zählt. Bei dieser Sachlage fällt ins
Gewicht, dass die sofortige Vollziehung der angefochtenen Verfügung die
Antragstellerin in der Form eines Verzichts auf nahezu 20 % ihrer bisherigen
Umsatzerlöse in einem ungewöhnlich starken Maß wirtschaftlich belastet. Dies kann
unabhängig davon festgestellt werden, ob die verfügte Erlösreduktion die Antragstellerin
- wie sie behauptet - tatsächlich zu erheblichen Einschränkungen bei fälligen
Erneuerungen ihres Stromnetzes sowie zu einem spürbaren Personalabbau zwingt. Die
der Antragstellerin durch einen Sofortvollzug auferlegten Umsatzeinbußen können
unwiederbringlich sein. Eine Nachforderung von Netznutzungsentgelten ist für die
Antragstellerin mindestens mit großen Schwierigkeiten verbunden, da sie sich dazu an
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insgesamt 35 durchleitende Stromlieferanten halten muss. Die bisherige Höhe von
Netznutzungsentgelten hat diese Stromlieferanten von einem gewerblichen Auftreten im
Netzgebiet der Antragstellerin jedoch weder abgehalten, noch haben die
Netznutzungsentgelte zu einer Stagnation oder erst recht zu einem Rückgang des
Marktanteils durchleitender Stromhändler geführt. Es ist bei diesen Marktanteilen
vielmehr eine stetige, wenn auch maßvolle, Aufwärtsentwicklung festzustellen. Bei
zusammenfassender Würdigung dieser Umstände, namentlich des ungewissen
Ausgangs des Beschwerdeverfahrens und der Nachteile, die für die Antragstellerin
durch eine sofortige Durchsetzung zu besorgen sind, bedarf es einer Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
2. Bei der im vorliegenden Eilverfahren vorzunehmenden summarischen
Rechtmäßigkeitskontrolle der angefochtenen Untersagungsverfügung ist ferner die
durch das am 24.5.2003 in Kraft getretene Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur
Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 20.5.2003 (BGBl. I S. 686) bewirkte
Änderung der materiellen Rechtslage zu beachten. Dadurch hat § 6 Abs. 1 EnWG in
den Sätzen 4 und 5 folgende neue Regelung erhalten, wohingegen der bisherige Satz 4
nunmehr als Satz 6 unverändert geblieben ist:
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4Die Bedingungen guter fachlicher Praxis im Sinne des Satzes 1 dienen der Erreichung
der Ziele des § 1 und der Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs. 5Bei Einhaltung der
Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für
elektrische Energie und über Prinzipien der Netznutzung vom 13. Dezember 2001 wird
bis zum 31. Dezember 2003 die Erfüllung der Bedingungen guter fachlicher Praxis
vermutet, es sei denn, dass die Anwendung der Vereinbarung insgesamt oder die
Anwendung einzelner Regelungen der Vereinbarung nicht geeignet ist, wirksamen
Wettbewerb zu gewährleisten. 6§ 19 Abs. 4 und § 20 Abs. 1 und 2 des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen bleiben unberührt.
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Die angefochtene Verfügung ist materiell-rechtlich an § 6 EnWG n.F. zu messen, da sie
Rechtswirkungen für die Zukunft entfalten soll und die gesetzgeberische Wertung, die in
§ 6 EnWG Ausdruck gefunden hat, auch im Rahmen einer parallelen Anwendung der §§
19 und 20 GWB zu berücksichtigen ist. Dies entspricht nicht zuletzt dem Grundsatz,
dass bei der Anfechtung von Maßnahmen der Verwaltung, die - wie hier - einen auf die
Zukunft gerichteten Inhalt haben, die rechtliche Bewertung die bis zum Schluss der
mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz - oder, soweit eine mündliche
Verhandlung nicht vorgeschrieben ist, dem ihr gleich stehenden Zeitpunkt der
Entscheidungsfindung - eingetretenen Änderungen der Sach- und Rechtslage zu
beachten hat (BVerwGE 78, 243). Die am 24.5.2003 in Kraft getretene Neufassung des
EnWG hat die Verbändevereinbarung Strom vom 13.12.2001 (VV Strom II plus) in der
Weise verrechtlicht, dass - sofern insbesondere die Netznutzungsentgelte nach den
darin niedergelegten Grundsätzen kalkuliert worden sind - befristet bis zum 31.12.2003
eine Einhaltung "der Bedingungen guter fachlicher Praxis" zu vermuten ist. Der durch
die Änderung in das Gesetz aufgenommene Begriff "guter fachlicher Praxis" bildet nach
§ 6 Abs. 1 Satz 1 EnWG n.F. einen rechtlichen Maßstab für die Bedingungen einer
gesetzmäßigen Stromdurchleitung und soll gemäß Satz 4 derselben Vorschrift zugleich
einen wirksamen Wettbewerb auf dem Strommärkten sicher stellen. Die Neufassung
des EnWG hat zur Folge, dass in solchen Fällen, in denen für die preislichen
Bedingungen einer Durchleitung die Vermutung guter fachlicher Praxis streitet, der
Vorwurf eines Preismissbrauchs und einer kartellrechtswidrigen Behinderung (oder
Ungleichbehandlung) im Sinne von § 19 Abs. 1, Abs. 4, § 20 Abs. 1 GWB in der Regel
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ungerechtfertigt ist (vgl. dazu auch die ausdrückliche Gesetzesbegründung in BT-
Drucks. 15/197, S. 7). Der Vermutungstatbestand ist erfüllt, wenn - dies ist im
vorliegenden Fall von Belang - der Netzbetreiber die von ihm erhobenen
Netznutzungsentgelte nach den Vorgaben der VV Strom II plus berechnet hat. Mit der
Vermutungsfolge einer guten fachlichen Praxis ist die Annahme einer missbräuchlichen
Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung oder eines Verstoßes gegen das
Behinderungsverbot ohne Friktion mit der gesetzlichen Wertung des EnWG nicht zu
vereinbaren. Die Vermutung kann nach § 6 Abs. 1 Satz 5, 2. Halbsatz EnWG allerdings
widerlegt oder entkräftet werden, mit der Folge, dass die Anwendung von § 19 Abs. 4
und § 20 GWB eröffnet ist. Dies setzt freilich den Nachweis voraus, die Anwendung der
VV Strom II plus insgesamt oder die Anwendung einzelner Regelungen zur Bestimmung
der Netznutzungsentgelte sei ungeeignet, einen wirksamen Wettbewerb zu
gewährleisten. Den Nachweis hat im gerichtlichen Verfahren derjenige zu führen, der
sich - gegen die im Gesetz angeordnete Vermutung - darauf beruft, die Anwendung der
VV Strom II plus oder einzelner Bestimmungen sei zur Gewährleistung eines wirksamen
Wettbewerbs nicht geeignet. Im vorliegenden Fall obliegt dieser Nachweis dem
Bundeskartellamt, denn es steht außer Streit, dass die Antragstellerin die mit der
angefochtenen Verfügung beanstandeten Netznutzungsentgelte nach Maßgabe der VV
Strom II plus kalkuliert hat.
Demgegenüber vertritt das Bundeskartellamt den Standpunkt, solche
Kalkulationsansätze der VV Strom II plus, die zu überhöhten Netznutzungsentgelten
führen und (damit) nicht geeignet sind, wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten,
nähmen von vornherein an den mit einer entsprechenden Vermutungswirkung
ausgestatteten "Bedingungen guter fachlicher Praxis" nicht teil (Antragserwiderung vom
28.5.2003, S. 20 f. = GA 112 f. und Schriftsatz vom 30.6.2003, S. 3 f. = GA 211 f.). Dem
scheint die Auffassung zugrunde zu liegen, die Missbrauchsaufsicht habe sich nach den
von der Arbeitsgruppe Netznutzung der Kartellbehörden des Bundes und der Länder
entwickelten Vergleichsmarktkonzepten sowie nach den im Bericht der Arbeitsgruppe
vom 19.4.2001 zusammengefassten Kriterien für eine missbrauchsfreie Kalkulation von
Netznutzungsentgelten zu richten. Solche nach Maßgabe der VV Strom II plus
vorgenommenen Kalkulationen, die zu höheren Netznutzungsentgelten führten als eine
Berechnung nach den von der Arbeitsgruppe Netznutzung erarbeiteten Kriterien, seien
missbräuchlich überhöht und folglich zu untersagen. Dieser Einschätzung ist
entgegenzutreten. Die Verhandlungsergebnisse der Arbeitsgruppe Netznutzung sind im
Rechtssinn unverbindlich. Gemäß dem oben dargestellten rechtlichen Befund bleibt für
eine Anwendung von § 19 Abs. 1, Abs. 4, § 20 Abs. 1 GWB und im Rahmen dessen für
eine Anwendung der von der Arbeitsgruppe Netznutzung für ein
Vergleichsmarktkonzept entwickelten Kriterien (selbstverständlich erst nach einer
Auseinandersetzung damit, ob diese einer rechtlichen Beurteilung sachgerecht
zugrunde gelegt werden können) nur Raum, sofern die in § 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG
angeordnete Vermutung entkräftet ist. Zwar beruft sich das Bundeskartellamt auf eine
derartige Entkräftung, die es freilich ausschließlich damit begründet hat, nach dem
rechtlich maßgeblichen und der angefochtenen Verfügung zugrunde gelegten
Vergleichsmarktkonzept seien die von der Antragstellerin erhobenen
Netznutzungsentgelte missbräuchlich überhöht. Damit hat das Bundeskartellamt den
prozessual ihm obliegenden Beweis freilich nicht erbracht. Denn es stehen sich, da die
Antragstellerin dem Vortrag des Bundeskartellamts widerspricht, bloße
Rechtsfolgenbehauptungen gegenüber, durch die - für die eine oder andere Sichtweise
- keinesfalls ein Beweis erbracht ist. Im Grunde hat das Bundeskartellamt - und zwar
bevor zur Entkräftung der Vermutung in eine Beweiswürdigung überhaupt eingetreten
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werden kann - schon die ihm insoweit zunächst obliegende nachvollziehbare
Darlegung, die die Berechnung von Netznutzungsentgelten betreffenden Bestimmungen
der VV Strom II plus garantierten hier keinen wirksamen Wettbewerb, nicht erbracht.
Anhand der Aktenlage und des dadurch vermittelten derzeitigen Kenntnisstandes ist
solches nicht ohne Weiteres anzunehmen. Dazu ist auf die vorstehenden Ausführungen
unter B) 2. (S. 10 bis 15) zu verweisen. Es verhindern namentlich die im Netzgebiet der
Antragstellerin zu beobachtenden Zuwächse der Marktanteile von Stromhändlern und
die tatsächlich vorgenommenen mehrfachen Senkungen der Netznutzungsentgelte der
Antragstellerin eine Feststellung durch den Senat, auf dem sachlich und räumlich
relevanten Markt sei ein wirksamer Wettbewerb weder vorhanden noch könne sich ein
Wettbewerb ohne ein kartellbehördliches Eingreifen künftig nachhaltig entwickeln. Es ist
folglich auch aus diesen Gründen die aufschiebende Wirkung der Beschwerde
anzuordnen.
Die an der Rechtsmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehenden Zweifel
gebieten im Übrigen auch eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde, wenn - wie der Senat oben im Abschnitt A) (S. 5 ff.) ausgeführt hat - der
Entscheidung über diesen Antrag die bis zum 23.5.2003 geltende Gesetzeslage
zugrunde zu legen ist.
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Soweit der Senat in diesem Beschluss auf weitere namentlich durch die Antragstellerin
aufgeworfene Streitpunkte nicht eingegangen ist, ist daraus nicht zu folgern, diese
könnten im anschließenden Beschwerdeverfahren keine (unter Umständen)
streitentscheidende Bedeutung mehr gewinnen. Der Senat hat sich im Eilverfahren
allein aus verfahrensökonomischen Gründen auf eine Auseinandersetzung mit den
angesprochenen Gesichtspunkten beschränkt.
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a. D... K...
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