Urteil des OLG Düsseldorf vom 21.11.2002
OLG Düsseldorf: geistige behinderung, geburt, versorgung, schädelfraktur, lege artis, medikamentöse behandlung, schmerzensgeld, zukunft, pflege, alter
Oberlandesgericht Düsseldorf, 8 U 155/00
Datum:
21.11.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 U 155/00
Vorinstanz:
Landgericht Duisburg, 2 O 279/95
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung des
Rechtsmittels im übrigen das am 14. Juni 2000 verkündete Urteil der 2.
Zivilkammer des Landgerichts Duisburg teilweise abgeändert und wie
folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger
70.000 EUR (als Schmerzensgeld) nebst 4 % Zinsen seit dem 12.
September 1995, sowie ab dem 1. Dezember 2002 (als
Schmerzensgeldrente) monatlich 200 EUR zu zahlen.
Die Beklagten werden ferner verurteilt, als Gesamtschuldner an den
Kläger 113.956,73 EUR (an personellem und sachlichem Mehraufwand)
nebst 4 % Zinsen von 43.224,62 EUR seit dem 12. September 1995,
sowie ab dem 1. Dezember 2002 monatlich 715,81 EUR (als Betreu-
ungs- und Pflegeaufwand) zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner ver-
pflichtet sind, dem Kläger allen weiteren materiellen Schaden zu er-
setzen, der ihm in Zukunft als Folge der bei seiner Geburt am 2. Juni
1991 erlittenen Schädelverletzung sowie deren unzureichender Be-
handlung noch entstehen wird, soweit diese Ansprüche nicht auf So-
zialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder
noch übergehen werden.
Von den Kosten des Rechtsstreites in beiden Rechtszügen haben die
Beklagten als Gesamtschuldner 4/5 und der Kläger 1/5 zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages
abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe
Sicherheit leistet.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung wegen der Kosten gleichfalls
in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn
nicht die Beklagten vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit
leisten.
T a t b e s t a n d
1
Bei der damals 29-jährigen Mutter des jetzt 11 Jahre alten Klägers wurde im Oktober
1990 die zweite Schwangerschaft festgestellt. Die Entbindung war auf den 22. Mai 1991
errechnet. Wegen leichter Schmierblutungen suchte sie am Nachmittag des 1. Juni 1991
- gegen 16.00 Uhr - die seinerzeit von dem Beklagten zu 2) geleitete gynäkologische
Ambulanz des unter Trägerschaft der Beklagten zu 1) stehenden St. V. Hospitals in D.
auf. Sowohl die vaginale Untersuchung als auch das angelegte CTG, das alle 6 bis 8
Minuten leichte Kontraktionen zeigte, ergaben keine auffälligen Befunde. Der
Muttermund wurde als zweifingerdick, dickwulstig und sacral beschrieben; der kindliche
Kopf lag gut beweglich über dem Beckeneingang, die Fruchtblase war intakt. Die
Patientin wurde auf ihren Wunsch nochmals nach Hause entlassen. Um 19.45 Uhr
stellte sie sich mit nunmehr kräftigen Wehen erneut vor. Der Muttermund war nunmehr
gut 3 cm weit geöffnet. Um 20.25 Uhr erfolgte eine erste Untersuchung durch den
Beklagten zu 2), der um 20.55 Uhr einen bis auf einen breiten Saum vollständig
eröffneten Muttermund und einen im queren Durchmesser im Becken liegenden Kopf
beschrieb. Nach Anlegung einer Kopfschwartenelektrode (21.04 Uhr) wurde um 21.25
Uhr zur Anregung der Wehentätigkeit eine Infusion mit 6 Einheiten Syntocinon gelegt.
Um 21.41 Uhr war der Muttermund bis auf einen breiten, mitteldicken Saum vollständig,
der Kopf des Klägers war etwas tiefer getreten, befand sich
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aber noch oberhalb der Beckenmitte. Um 22.40 Uhr übernahm die Zeugin H. als
Hebamme die Betreuung der Patientin; der Beklagte zu 2) selbst verließ, nachdem er
um 22.15 Uhr einen unveränderten Zustand festgestellt und die Gabe von "Buscopan"
und "Monzal" verordnet hatte, das Krankenhaus. Wegen starker Schmerzen der
Patientin wurde um 23.15 Uhr eine Periduralanästhesie eingeleitet. Nachdem sie um
23.30 Uhr in den Kreißsaal verlegt worden war, zeigte sich ein pathologisches CTG (Dip
II) bei einem 8 cm weiten Muttermund und einen hoch im Becken stehenden Kopf. Die
Zeugin Heßelmann informierte den bei sich zu Hause befindlichen Beklagten zu 2)
(23.40 Uhr), der die Vorbereitung zu einer Sectio anordnete und selbst um 23.50 Uhr im
Kreißsaal eintraf, wo er die Patientin untersuchte. In der Dokumentation findet sich
hierzu folgender Eintrag:
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"MM nunmehr bis auf einem Saum vollständig. Der Kopf steht unterhalb d. BM.
Große Geburtsgeschwulst. Der MM-Saum lässt sich nicht ganz zurückschieben."
4
Der Beklagte zu 2) entschloss sich zu einer Zangengeburt (Forceps). Nach lateraler
Episiotomie wurde der Kläger nach fünf Traktionen aus zweiter vorderer
Hinterhauptslage um 0.06 Uhr entwickelt. Der Kläger wog 4.000 g, war 53 cm lang und
hatte einen Kopfumfang von 38 cm. Er wird in der kinderärztlichen Dokumentation als
5
reifes, etwas schlaffes Kind mit einem Apgar von 8/9/9 und einem pH-Wert von 7,23
beschrieben, das nach erstem Absaugen rosig aber schlapp wurde und nach ein bis
zwei Minuten kräftig schrie. Hingewiesen wird auf eine ausgeprägte Geburtsgeschwulst
am Hinterkopf mit einer Schwellung bis in den Gesichtsschädel ohne sonstige
Mißbildungs- oder Verletzungszeichen.
Um 0.20 Uhr wurde der Kläger auf der Kinderstation aufgenommen, wo er ab dem 3.
Juni 1991 von der Beklagten zu 3) als damaliger Stationsärztin betreut wurde. Der pH-
Wert bei der Aufnahme des Klägers betrug 7,18; die Eryhrozytenzahl und der Hb-Wert
verminderten sich in den nächsten 16 Stunden von zunächst 5,08 auf 2,92 bzw. von
18,1 auf 10,5, weshalb man eine Bluttransfusion vornahm, was vorübergehend zu einer
Stabilisierung des Hb-Wertes führte. Ab dem 2. Juni 1991 zeigten sich nach einer
Berührungsempfindlichkeit des Klägers mehrfache Krampfanfälle, worauf hin man mit
einer Hirnoedembehandlung mittels "Lasix" und "Fortecortin" (bis 6. Juni) und mit
"Luminal" begann. Eine von der Beklagten zu 3) am 4. Juni veranlasste
Röntgenuntersuchung des Schädels wurde aufgrund einer Aufhellungslinie im Sinne
einer Molding-Impression oder einer Impressionsfraktur bewertet. Am 6. Juni wurde die
Röntgenuntersuchung wiederholt. Die Röntgenaufnahme wurde als stark verkantet
beschrieben und der Verdacht auf Molding bzw. Fraktur geäußert. Eine darauf hin von
der Beklagten zu 3) vorgenommene Sonographie des Schädels wurde wegen der
ausgeprägten subgaleatischen Blutung als erschwert beschrieben. Die Beklagte zu 3)
hielt nunmehr eine computertomographische Untersuchung für erforderlich, wozu der
Kläger in die neurochirurgische Klinik der Städtischen Kliniken D. verlegt wurde. Bereits
bei der klinischen Erstuntersuchung des Kopfes wurden dort Imprimate getastet. Das
vom Schädel gefertigte Computertomogramm bestätigte rechts tempero-parietal eine
aufspießende Impressionsfraktur mit Kontusionen und einer nach links verschoben
Mittellinie. Der Kläger wurde am selben Tag operiert. Dabei wurden die Hirn- und
Duraverletzung versorgt und die Imprimate gehoben und rekonstruiert. Der
postoperative Verlauf war zufriedenstellend. Am 5. Juni 1991 erfolgte die Entlassung
des Klägers in die häusliche Betreuung.
6
Der Kläger macht mit der Behauptung, bei ihm bestehe ein Entwicklungsrückstand und
eine Behinderung, welche auf Fehler der Beklagten zu 2) und 3) zurückzuführen seien,
Ersatzansprüche gegenüber den Beklagten geltend.
7
Dem Beklagten zu 2) hat der Kläger vorgeworfen, die Entbindung angesichts des um
23.30 Uhr pathologischen CTG nicht durch Kaiserschnitt vorgenommen zu haben.
Aufgrund der dokumentierten Befunde sei davon auszugehen, dass der Kopf des
Kindes nicht zangengerecht stand, so dass die Forceps-Entbindung, die die
Schädelverletzung verursacht habe, kontraindiziert war. Ferner hat er dem Beklagten zu
2) zur Last gelegt, dass er unter der Geburt einer hypoxischen Situation ausgesetzt war.
8
Der Beklagten zu 3) hat der Kläger vorgeworfen, wegen einer nur unzureichenden
Diagnostik die Schädelfraktur nicht erkannt zu haben, sodass diese erst am 6. Juni 1991
in den Städtischen Kliniken D. diagnostiziert und versorgt werden konnte. Der Kläger
hat behauptet, die Fehler der Beklagten zu 2) und 3) hätten bei ihm zu einer
Behinderung geführt: Bei Vornahme einer Kaiserschnittgeburt wäre es weder zu einer
Schädelfraktur noch zu einem Sauerstoffmangel gekommen; eine rechtzeitige
Versorgung der Fraktur hätte die eingetretene Hirnschwellung sowie größere Blutungen
verhindert.
9
Der Kläger hat geltend gemacht, er leide nunmehr an einem allgemeinen Rückstand im
Bereich der geistigen, sprachlichen sowie der grob- und feinmotorischen Entwicklung
und in der Wahrnehmung. Ferner habe er einen hypotonen Muskeltonus. Dazu komme
eine linksmotorische Asymmetrie, die Bewegungsstörungen zur Folge habe. Seit
Anfang August 1994 leide er ferner an einem Humpeln des linken Beins.
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Mit der Klage erstrebt der Kläger die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes
von mindestens 150.000 DM, die Entschädigung für einen behinderungsbedingten
personellen und sachlichen Mehrbedarf (bis 31. Mai 1995: 107.947,17 DM) sowie die
Zahlung einer monatlichen Mehrbedarfsrente von 2.282,18 DM.
11
Der Kläger hat beantragt,
12
1.
13
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes
Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt
wird, zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 31. Dezember 1993;
14
2.
15
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für die Zeit vom 6.6.1991
bis zum 31.5.1995 einen Betrag von 107.947,17 DM zu zahlen zuzüglich 4 %
Zinsen seit Klagezustellung.
16
3.
17
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn eine monatliche Rente
von 2.282,18 DM zu zahlen, jeweils für drei Monate im voraus;
18
4.
19
festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner dazu verpflichtet sind, ihm
allen weiteren Schaden zu ersetzen, der ihm aus dem schädigenden Ereignissen
in der Zeit vom 2. Juni 1991 bis zum 6. Juni 1991 in Zukunft noch entstehen wird,
soweit diese Schadenersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder
Dritte übergehen.
20
Die Beklagten haben beantragt,
21
die Klage abzuweisen.
22
Die Beklagten sind den Vorwürfen des Klägers entgegengetreten und haben
Behandlungsfehler in der geburtshilflichen sowie der kinderärztlichen Betreuung
bestritten. Sie haben behauptet, der Beklagte zu 2) habe richtig gehandelt, als er sich
angesichts des ab 23.30 Uhr pathologisch werdenden CTG zu einer Zangengeburt
entschlossen habe. Bei seinem Eintreffen im Kreißsaal habe der Kopf des Kindes tief im
Becken gestanden; eine Kaiserschnittentbindung sei daher nicht mehr möglich
gewesen. Zur Vermeidung einer - nicht eingetretenen - Sauerstoffmangelsituation unter
der Geburt sei die sofortige Zangengeburt indiziert gewesen. Die Beklagten haben im
übrigen geltend gemacht, es sei nicht vorwerfbar, dass die Schädelfraktur nicht früher
23
erkannt worden war. Die gefertigten Röntgenaufnahmen hätten keinen Anhalt für eine
schwere Schädelverletzung ergeben. Weil die Symptome auf ein Hirnödem
hingewiesen hätten, sei die eingeleitete medikamentöse Behandlung indiziert gewesen.
Die Beklagten haben sich im übrigen darauf berufen, dass weitergehende diagnostische
Maßnahmen wegen der Geburtsgeschwulst nicht erfolgversprechend erschienen seien.
Im übrigen haben sie behauptet, dass etwaige Versäumnisse in der Behandlung des
Klägers sich nicht ursächlich auf seinen Gesundheitszustand ausgewirkt hätten. Die
Beschreibungen seiner Behinderung haben sie bestritten.
Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg hat Beweis erhoben durch Vernehmung
der Hebamme H. H. und des Arztes M. K.-S. sowie durch Einholung eines
gynäkologischen Gutachtens (Prof. Dr. F.) und eines neuropädiatrischen Gutachtens
(Dr. Kr.) sowie durch Anhörung beider Gutachter. Durch das am 14. Juni 2000
verkündete Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
24
Gegen die Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Berufung. Der Kläger
wiederholt seinen Vorwurf, der Beklagte zu 2) habe eine Zangengeburt nicht vornehmen
dürfen, weil zum Zeitpunkt der Geburt der Kopf zu hoch - deutlich über Beckenmitte -
gestanden habe. Zum Beleg seiner Darstellung verweist er auf die Bekundungen der
Zeugin H.. Darüber hinaus behauptet der Kläger, angesichts des aufgetretenen
pathologischen Herzfrequenzmusters hätte es einer Mikroblutuntersuchung bedurft. Die
Untersuchung hätte ergeben, dass überhaupt keine intrauterine Notsituation vorlag.
Dann hätte es auch nicht der sofortigen Entbindung bedurft. Der Kläger wiederholt im
übrigen seinen Vorwurf, wonach die Beklagte zu 3) zwingende Diagnosemaßnahmen
unterlassen habe, was auf seiner Seite zur Erleichterung des Kausalitätsnachweises
führen müsse.
25
Der Kläger beantragt,
26
1.
27
die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn ein angemessenes
Schmerzensgeld - hilfsweise auch als Schmerzensgeldrente -, dessen Höhe in das
Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen, nebst 4 % Zinsen seit dem 31.
Dezember 1993;
28
2.
29
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für die Zeit vom 6. Juni
1991 bis zum 31. Mai 1995 einen Betrag in Höhe von 107.947,17 DM zu zahlen,
zuzüglich 4 % Zinsen hieraus seit Klagezustellung;
30
3.
31
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ab dem 1. Juni 1995 eine
monatliche Rente in Höhe von 2.282,18 DM zu zahlen, jeweils für drei Monate im
voraus;
32
4.
33
festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dazu verpflichtet sind, ihm
34
allen weiteren Schaden zu ersetzen, der ihm in Zukunft aus den schädigenden
Ereignissen vom 1. Juni 1991 bis zum 6. Juni 1991 noch entstehen wird, soweit
diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte
übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Der Senat hat zunächst zu der kinderärztlichen Versorgung des Klägers nach seiner
Geburt ergänzend Beweis erhoben durch Einholung eines mündlich erstatteten
Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. B..
35
Daraufhin haben die Beklagten erklärt, dass sie die Haftung dem Grunde nach
anerkennen. Sie bestreiten allerdings weiterhin das Ausmaß der wegen des
geburtshilflichen Vorgehens und der kinderärztlichen Versorgung von ihnen zu
vertretenden Behinderung des Klägers und die von ihm geltend gemachten Schäden.
36
Die Beklagten beantragen,
37
die Berufung zurückzuweisen.
38
Der Senat hat durch Einholung eines Gutachtens des Leiters des kinderneurologischen
Zentrums der Rheinischen Kliniken Bonn Prof. Dr. S. Beweis erhoben zum Umfang der
Behinderung des Klägers und dem sich daraus ergebenden Betreuungs- und
Pflegeaufwand. Insoweit wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen vom
29. Juli 2002 (GA 562-569) sowie den Berichterstattervermerk vom 24. September 2002
(GA 586-591) verwiesen.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
von den Parteien eingereichten Schriftsätze sowie auf die beigezogenen
Behandlungsunterlagen Bezug genommen.
40
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
41
A.
42
Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet. Die Beklagten sind verpflichtet, dem
Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen, das der Senat in Höhe eines Kapitalbetrages
von 70.000 EUR sowie einer ab dem 1. Dezember 2002 zu zahlenden monatlichen
Rente von 200 EUR als angemessen ansieht; darüber hinaus hat der Kläger Anspruch
auf Ersatz von personellem und sachlichem Mehraufwand für die Zeit vom 6. Juli 1991
bis 30. November 2002 in Höhe von insgesamt 113.956,73 EUR; ab dem 1. Dezember
2002 steht ihm wegen zu erbringender Betreuungs- und Pflegeleistungen ein Anspruch
auf Zahlung von monatlich 715,81 EUR zu. Schließlich ist antragsgemäß die
gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten für den dem Kläger zukünftig noch
entstehenden materiellen Schaden festzustellen.
43
I.
44
Die Beklagten haben haftungsrechtlich für die gesundheitlichen Folgen der bei der
Geburt des Klägers entstandenen Schädelfraktur einzustehen.
45
Prof. Dr. B., der als Chefarzt der Neonatologie am Zentrum für Kinderheilkunde an der
R. F.-W.-U. B. über besonders umfangreiche wissenschaftliche und praktische
46
Erfahrung zur Beurteilung des streitgegenständlichen medizinischen Sachverhaltes
verfügt und dessen hervorragende Qualifikation dem Senat aus anderweitigen
Begutachtungen bekannt ist, hat sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei
seiner Anhörung vor dem Senat keinen Zweifel daran gelassen, dass die kinderärztliche
Versorgung des Klägers nach seiner Geburt in erheblichem Maße fehlerhaft war. Prof.
Dr. B. hat es dabei als völlig unverständlich angesehen, dass trotz eindeutiger klinischer
Symptome die Gefahrenlage, in der sich der Kläger aufgrund der bei der Zangengeburt
eingetretenen umfangreichen Schädelfraktur mit einer nachhaltigen Verletzung der
Gehirnsubstanz befand, nicht erkannt wurde und dass deshalb dringend erforderliche
diagnostische und therapeutische Maßnahmen im Sinne einer unverzüglichen
operativen Versorgung unterblieben.
Die Ausführung von Prof. Dr. B., wonach der Umfang der durch die Zangengeburt
verursachten Schädelverletzung als ganz außergewöhnlich anzusehen ist und die von
ihm in seinem schriftlichen Gutachten - erneut - aufgeworfene Frage, ob die Entbindung
- entsprechend der bisherigen gynäkologischen Begutachtung - lege artis erfolgt war,
hätte darüber hinaus Veranlassung gegeben, das Geburtsgeschehen einer erneuten
Begutachtung durch einen gynäkologischen Sachverständigen zu unterziehen.
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Einer solchen ergänzenden Beweiserhebung bedurfte es allerdings nicht, weil die
Beklagten im Hinblick auf die Ausführungen von Prof. Dr. B. erklärt haben, dass sie die
Haftung dem Grunde nach anerkennen (Schriftsatz vom 30. Oktober
48
2001, GA 522). Damit gestehen die Beklagten ein, dass sie für die Beeinträchtigungen
verantwortlich sind und einzustehen haben, die der Kläger aufgrund der bei seiner
Geburt entstandenen Schädelfraktur und der unzureichenden nachgeburtlichen
Versorgung davongetragen hat, ohne dass es einer Klärung der Frage bedarf, in
welchem Umfang sie gegebenenfalls unmittelbar auf die Schädelverletzung oder auf
das Unterbleiben ihrer rechtzeitigen operativen Versorgung zurückzuführen sind.
49
II.
50
Es ist davon auszugehen, dass sowohl die - zwischenzeitlich weitgehend behobenen -
motorischen Einschränkungen des Klägers, unter denen er nach der Geburt litt, als auch
seine als Dauerschaden verbliebene geistige Behinderung, auf die durch die
Zangengeburt eingetretene Schädelfraktur und deren nicht rechtzeitige sachgerechte
Behandlung zurückzuführen sind:
51
Die massive - zunächst unversorgt gebliebene - Schädelfraktur hat nach der
52
überzeugenden Darstellung von Prof. Dr. B. zu einem bleibenden Hirnsubstanzdefekt
mit entsprechenden Kontusionsherden geführt. Der Sachverständige hat deutlich
gemacht, dass sich die motorischen und intellektuellen Störungen bei dem Kläger
diesem Schadenbild ohne weiteres zuordnen lassen, zumal es keinerlei Anhaltspunkte
für angeborene oder sonstige andere Ursachen gibt.
53
Diese Bewertung entspricht der Einschätzung von Prof. Dr. N. und Prof. Dr. S. in ihren
für die Haftpflichtversicherung der Beklagten bzw. für den Kläger erstellten
Privatgutachten. Für beide Gutachter stehen die Verantwortlichkeit der frakturbedingten
Hirnverletzung und ihre Folgen für die Behinderung des Klägers sowohl hinsichtlich der
motorischen Einschränkungen als auch seiner intellektuellen Schwäche außer Frage.
54
Schließlich hat auch der von dem Landgericht mit der neuropädiatrischen Begutachtung
beauftragte Sachverständige Dr. K. deutlich gemacht, dass nicht etwa ein hypoxisches
Ereignis für die verbliebenen Schäden verantwortlich ist, dass diese vielmehr
charakteristisch für das eingetretene Hirntrauma sind.
55
Die Ausführungen des von dem Senat mit der Beurteilung des behinderungsbedingten
Pflegeaufwandes beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. S. rechtfertigen keine andere
Beurteilung: Prof. Dr. S. äußert zwar Zweifel, ob die geburtstraumatische Schädigung
und das nachfolgend entstandene Hirnödem alleinige Ursachen für die geistige
Behinderung des Klägers sind; er weist allerdings darauf hin, dass ein solcher
Ursachenzusammenhang auch seiner Auffassung zufolge nicht auszuschließen ist,
zumal keine konkreten Anhaltspunkte für andere Ursachen vorliegen.
56
Damit steht fest, dass die über mehrere Tage hinweg unversorgt gebliebene
Schädelfraktur sowie die frakturbedingte Hirnverletzung und das eingetretene Hirnödem
die Behinderung des Klägers ohne weiteres erklären und dass es keinerlei
Anhaltspunkte für eine anderweitige Schädigungsursache gibt. Unter diesen
Umständen wäre es Sache der Beklagten gewesen, den Nachweis dafür zu erbringen,
dass nicht die ihnen anzulastende Fehlbehandlung, sondern andere Ursachen zu der
Behinderung des Klägers geführt haben. Insoweit haben die Beklagten weder
alternative Ursachen aufzuzeigen vermocht noch den entsprechenden Beweis geführt.
57
Im übrigen ist es gerechtfertigt, dem Kläger hinsichtlich des Kausalitätsnachweises
Beweiserleichterungen zuzubilligen. Denn die nachgeburtliche Versorgung des Klägers
ist in ihrer Gesamtheit als grob fehlerhaft zu bewerten. Prof. Dr. B. hat keinen Zweifel
daran gelassen, dass es aus ärztlicher Sicht völlig unverständlich und nicht
nachvollziehbar ist, dass angesichts massiver klinischer Auffälligkeiten die spätestens
im Alter des Klägers von 18 Stunden unabdingbar erforderlichen weiterweisenden
diagnostischen Maßnahmen über Tage unterblieben.
58
III.
59
Wegen der von den Beklagten haftungsrechtlich zu verantwortenden gesundheitlichen
Beeinträchtigungen des Klägers erachtet der Senat die Zahlung eines
Schmerzensgeldkapitalbetrages von 70.000 EUR sowie eine künftig zu entrichtende
monatliche Schmerzensgeldrente von 200 EUR als angemessen. Der auf Zahlung
eines höheren Kapitalbetrages gerichtete Antrag ist zurückzuweisen:
60
1.)
61
Die auf die Gehirnkontusion zurückzuführenden ursprünglich vorhandenen motorischen
Ausfälle, die Prof. Dr. N. in seinem Gutachten vom 19. Oktober 1994 als Reste einer
linksseitigen leichten Hemiparese beschreibt, fallen zwischenzeitlich - auch infolge
entsprechender Therapiemaßnahmen - nicht mehr ins Gewicht. Prof. Dr. S. hat aufgrund
einer von ihm am 2. Juli 2002 durchgeführten Untersuchung des Klägers festgestellt,
dass es zu einer fast vollständigen Rückbildung der halbseitigen Bewegungsstörung
der linkeren oberen Extremität gekommen ist. Auch im übrigen gibt es keine ins Gewicht
fallenden körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers: Prof. Dr. S. beschreibt den
Kläger als einen altersentsprechend großen, etwas übergewichtigen Jungen, bei dem
sich neurologisch zwar ein leicht herabgesetzter Muskeltonus mit einer etwas
62
schwerfälligen Spontanmotorik zeigt. Allerdings gibt es keine Symptome einer
spezifisch neurologischen Störung; insbesondere ist der Kläger in körperlicher Hinsicht
ohne Einschränkung in der Lage, die täglichen Verrichtungen eines Kindes in seinem
Alter selbst wahrzunehmen.
2.)
63
Ins Gewicht fällt demgegenüber, dass der Kläger an einer bleibenden geistigen
Behinderung leidet, angesichts derer er im Lebensalter von 11 Jahren der Entwicklung
eines etwa 6-jährigen entspricht. Prof. Dr. S. hat aufgrund seiner eingehenden
Exploration deutlich gemacht, dass dem Kläger aufgrund dieser intellektuellen
Schwäche das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen nahezu unmöglich sein
wird und er keinen Ausbildungsberuf wird ergreifen können. Ferner ist davon
auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderung niemals völlig selbständig
wird leben können und dass er dauerhaft einer Betreuung bedarf. Andererseits ist
festzustellen, dass der Kläger nicht schwerstbehindert ist und dass ihm eine Teilhabe
am täglichen Leben nicht versagt ist: Der Kläger lebt im Haushalt seiner Mutter, besucht
eine Schule für geistig Behinderte und nimmt an altersüblichen Freizeitveranstaltungen
teil.
64
Angesichts dieses Schadenbildes und der mit ihm verbundenen Auswirkungen auf die
Lebensführung hält der Senat zum Ausgleich der Beeinträchtigungen ein
Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 EUR für angemessen. In diesem Betrag ist ein auf
den Zeitraum seit der Geburt des Klägers entfallender Rentenanteil, den der Senat erst
ab 1. Dezember 2002 gesondert festsetzt, enthalten.
65
Weil die geistige Behinderung des Klägers auch in Zukunft zu immer neuen
Beeinträchtigungen seiner Lebensführung führen wird, ist es nach der Auffassung des
Senats geboten, diese künftigen Auswirkungen durch die Zuerkennung einer
monatlichen Schmerzensgeldrente (zu entrichten ab dem 1. Dezember 2002)
auszugleichen. Ausmaß und Auswirkungen der geistigen Behinderung des Klägers
rechtfertigen eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 200 EUR.
66
IV.
67
Der Kläger hat nach § 843 Abs. 1 BGB Anspruch auf Zahlung einer Mehrbedarfsrente
wegen der behinderungsbedingt erforderlichen Betreuungs- und Pflegeleistungen, die -
überwiegend - seine Mutter seit seiner Geburt erbracht hat und die auch zukünftig
anfallen. Der Ersatzanspruch für die Zeit vom 6. Juli 1991 bis zum 31. November 2002
beläuft sich unter Berücksichtigung des von dem Kläger in dieser Zeit von der
Pflegeversicherung bezogenen Pflegegeldes auf insgesamt 112.934,15 EUR (=
220.880 DM). Die von den Beklagten ab 1. Dezember 2002 zu entrichtende
Mehrbedarfsrente beläuft sich unter Berücksichtigung des weiterhin in Höhe von
monatlich 400 DM gezahlten Pflegegeldes auf monatlich 715,81 EUR (= 1.400 DM). Im
übrigen hat der Kläger für die Vergangenheit Anspruch auf Erstattung von sachlichem
Mehraufwand in Höhe von 1.022,58 EUR (= 2.000 DM). Die weitergehenden
Forderungen sind nicht berechtigt.
68
1.)
69
Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass der nach § 843 Abs. 1
70
BGB zum Ersatz des schädigungsbedingt entstandenen Mehrbedarfs Verpflichtete
Pflegeleistungen auch dann angemessen abzugelten hat, wenn sie nicht von fremden
Pflegekräften, sondern - wie hier - von Angehörigen - dem Verletzten gegenüber
unentgeltlich - erbracht werden (BGH VersR 1978, 149; BGHZ 106, 28 = NJW 1989, 766
= VersR 1989, 188). Dabei bestimmt sich die Höhe des Anspruchs nicht etwa stets nach
der aufwendigsten Möglichkeit, sondern danach, wie der Bedarf in der vom
Geschädigten in zumutbarer Weise gewählten Lebensgestaltung tatsächlich anfällt.
Werden dem Verletzten die notwendigen Pflegeleistungen - unentgeltlich - durch seine
Angehörigen erbracht, so ist deren Mühewaltung angemessen auszugleichen, wobei
der nach objektiven Bemessungskriterien zu bestimmende "Marktwert" der Leistungen
einen Betrag ergeben kann, der unterhalb der tariflichen Vergütung für eine fremde
Hilfskraft liegt, weil sich die Pflege in häuslicher Gemeinschaft in der Regel günstiger,
vor allem weniger zeitaufwendig durchführen lässt. Nicht zu übersehen ist auch, dass
behinderte Kinder im allgemeinen ein besonders hohes Maß an elterlicher Zuwendung
erfahren, das notwendigerweise mit erheblichem Zeitaufwand verbunden ist. Dieser
Zeitaufwand, der auf die vermehrte elterliche Zuwendung entfällt, ist indessen nicht
ersatzfähig (Senat, Urteil vom 11.05.95, - 8 U 136/93 - unter Hinweis auf BGHZ 106, 28
= NJW 1989, 766 = VersR 1989, 188).
2.)
71
Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S., der als
Leiter des kinderneurologischen Zentrums der R. K. B. mit der Bemessung eines
behinderungsbedingten Betreuungs- und Pflegeaufwandes besonders vertraut ist,
schätzt der Senat den Umfang des erforderlichen behinderungsbedingten Betreuungs-
und Pflegeaufwandes für die Zeit ab 6. Juli 1991 auf durchschnittlich
3 Stunden
72
Prof. Dr. S. hat nach seiner eingehenden Untersuchung des Klägers und der
Auswertung der die Lebensführung des Klägers betreffenden Unterlagen überzeugend
ausgeführt, dass seine geistige Behinderung einen pflegerischen und betreuerischen
Mehraufwand gegenüber der Versorgung gesunder gleichartiger Kinder erfordert. Dabei
ist davon auszugehen, dass in den ersten Lebensjahren des Klägers das
Schwergewicht der Leistungen im Bereich derjenigen Aufgaben lag, die mit seiner
körperlichen Behinderung verbunden waren. Insbesondere hatte die Mutter des Klägers
Termine zur Krankengymnastik und zur physiotherapeutischen Behandlung
wahrzunehmen. Nach der zwischenzeitlichen Besserung der körperlichen Behinderung
steht die mit der Geistesschwäche des Klägers verbundene Pflege und Betreuung im
Vordergrund. Die dabei notwendigerweise anfallenden behinderungsbedingten
täglichen Hilfeleistungen hat der Sachverständige entsprechend den Angaben der
Mutter als gut nachvollziehbar bewertet und hierfür für den Zeitraum seit der
Einschulung des Klägers einen behinderungsbedingten Mehrbedarf von täglich 90
Minuten errechnet. Die Beurteilung des Sachverständigen überzeugt. Der
abweichenden Berechnung des Sachverständigen M.-B., der in seinem im Auftrag des
Verfahrensbevollmächtigten des Klägers erstatteten Gutachten einen höheren
Pflegeaufwand in Ansatz bringt, ist nicht zu folgen. Er hat nämlich nicht ausreichend
berücksichtigt, dass der Kläger aufgrund seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten
durchaus in der Lage ist, zahlreiche der sich ihm täglich stellenden Aufgaben
weitgehend alleine zu meistern. Dies wird deutlich bestätigt in dem von dem Kläger
eingereichten pädagogischen Gutachten vom 19. September 2001 (GA 516) über
seinen Besuch der Schule für geistig Behinderte; danach ist er in den Bereichen
Ernährung, Sauberkeit und Kleidung sehr selbständig.
73
Hinsichtlich des pflegerischen Mehraufwandes für die ersten vier Lebensjahre des
Klägers erachtet Prof. Dr. S. einen Zeitaufwand von etwa 1 Stunde 40 Minuten - also
geringfügig höher als für die Zeit danach - als erforderlich.
74
Neben diesem "eigentlichen" Pflegebedarf muss bei der Bemessung des
Mehraufwandes berücksichtigt werden, dass die Behinderung des Klägers eine
weitergehende Einsatzbereitschaft erfordert. Prof. Dr. S. hat beschrieben, dass dabei in
erster Linie Beaufsichtigungsaufgaben anfallen, weil der Kläger infolge seiner geistigen
Behinderung nicht ausreichend gefahrenbewusst ist und daher im Haushalt, bei
Freizeitveranstaltungen (z.B. beim Besuch eines Schwimmbades) und - insbesondere -
im Straßenverkehr der besonderen Beobachtung und Beaufsichtigung bedarf. Hinzu
kommen Zeiten, in denen sich seine Mutter wegen seiner Unruhezustände -
insbesondere auch nachts - um ihn kümmern muss.
75
Diese weitergehenden Betreuungsaufgaben sind nicht der - grundsätzlich nicht
ersatzpflichtigen - vermehrten elterlichen Zuwendungen zuzurechnen. Hier handelt es
sich um Leistungen, die aufgrund der Behinderung des Klägers zu erbringen sind und
für die auch eine fremde Pflegekraft eingesetzt werden könnte.
76
Angesichts der Schwierigkeit einer Abgrenzung der einzelnen Pflege- und
Betreuungsaufgaben, die unzweifelhaft anfallen, die andererseits aber im Hinblick auf
die Entwicklung des Klägers und unterschiedliche Tagesabläufe selten gleichbleibend
sein werden, erachtet der Senat es hier als sinnvoll und angemessen, den in der
Vergangenheit erbrachten und zukünftig noch zu erbringenden pflegerischen und
betreuerischen Mehraufwand einheitlich zu bewerten und insgesamt auf durchschnittlich
täglich drei Stunden zu schätzen. Dabei findet Berücksichtigung, dass in der
Vergangenheit pflegerische Leistungen vorwiegend aufgrund der damals vorhandenen
Körperbehinderung des Klägers anfielen. Nunmehr steht seine geistige Behinderung mit
Hilfestellungen im täglichen Leben sowie mit Betreuungsaufgaben im Vordergrund. Die
vorgenommene pauschale Schätzung wird nach Auffassung des Senates diesem
Sachverhalt gerecht, was auch Prof. Dr. S. bei seiner Anhörung deutlich gemacht hat, in
dem er diese Schätzung als in jeder Hinsicht angemessen bewertet hat.
77
3.)
78
Bei der Bemessung des Wertes der auszugleichenden Pflegeleistungen legt der Senat
einen durchschnittlichen Stundensatz von
20 DM
Überlegungen maßgebend:
79
Bei der finanziellen Bewertung der von Angehörigen erbrachten Pflege- und
Betreuungsleistungen ist einerseits deren "Marktwert" zu berücksichtigen; Anhaltspunkt
ist daher auch die Höhe der Vergütung, die für eine entsprechende Pflegekraft entrichtet
werden müsste. Auf der anderen Seite darf nicht außer acht gelassen werden, dass
professionelle Pflegekräfte im Rahmen ihrer Arbeitszeit durchweg eine Mehrzahl von
Patienten versorgen. Darüber hinaus wird die Betreuung eines behinderten Kindes im
häuslichen Umfeld regelmäßig mit einem geringerer Aufwand möglich sein, weil Hilfen
in der Familie zur Verfügung stehen. Im Falle des Klägers kommt hinzu, dass es sich
nicht um besonders schwierige Leistungen handelt, weil die zu erbringenden
Tätigkeiten insbesondere in der Anleitung zu bestimmten alltäglichen Verhaltensweisen
und in der Beaufsichtigung seiner Person bestehen. Unter diesen Umständen erachtet
80
der Senat die Zuerkennung eines - einheitlich zugrundezulegenden - Stundensatzes
von 20 DM als angemessen.
4.)
81
Danach ergibt sich für die Zeit vom 6. Juli 1991 bis 30. November 2002 folgende
Anspruchsberechnung:
82
a) Auf den Zeitraum vom 6. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 entfallen 179 Tage. Bei
täglich drei Stunden (zu ersetzende Betreuungs- und Pflegeleistungen) ergeben sich
insgesamt 537 Stunden. Der Ersatzanspruch wegen der in dieser Zeit erbrachten
Leistungen beläuft sich somit auf 10.740 DM (537 Stunden x 20 DM).
83
b) Auf den Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 2001 entfallen 3.600 Tage.
Bei täglich drei Stunden (zu ersetzende Betreuungs- und Pflegeleistungen) ergeben
sich insgesamt 10.800 Stunden. Der Ersatzanspruch beläuft sich somit auf 216.000 DM
(10.800 Stunden x 20 DM).
84
c) Auf den Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 30. November 2002 entfallen 329 Tage. Bei
täglich drei Stunden (zu ersetzende Betreuungs- und Pflegeleistungen) ergeben sich
insgesamt 987 Stunden. Der Ersatzanspruch beläuft sich somit auf 19.740 DM (987
Stunden x 20 DM).
85
5.)
86
In Höhe von insgesamt 25.600 DM besteht der Anspruch des Klägers allerdings nicht; in
dieser Höhe ist die Forderung gemäß § 116 SGB X wegen der bis 30. November 2002
erbrachten Zahlungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz auf den
Sozialversicherungsträger übergegangen und mindert insoweit die
Forderungsberechtigung des Klägers. Ausweislich des von der Mutter des Klägers
vorgelegten Pflegegeldbescheides vom 28. August 1997 bezieht ihr Sohn ab dem 1.
August 1997 fortlaufend ein monatliches Pflegegeld von 400 DM. Die zu
berücksichtigende Gesamtleistung bis zum 30. November 2002 beträgt demnach 25.600
DM (64 Monate x 400 DM).
87
Der Anspruch des Klägers auf Ersatz von Betreuungs- und Pflegeleistungen für die Zeit
vom 6. Juni 1991 bis 30. November 2002 berechnet sich zusammenfassend damit wie
folgt:
88
6. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 10.740,-- DM
89
1. Januar 1991 bis 31. Dezember 2001 216.000,-- DM
90
1. Januar 2002 bis 30. November 2002 19.740,-- DM
91
246.480,-- DM
92
abzüglich gezahltes Pflegegeld 25.600,-- DM
93
220.880,-- DM
94
1. 112.934,15 EUR.
95
6.)
96
Ab dem 1. Dezember 2002 beläuft sich der Anspruch des Klägers auf Zahlung einer
Mehrbedarfsrente nach der oben dargestellten Berechnung auf monatlich 1.400 DM (=
715,81 EUR). Dabei ist berücksichtigt, dass angesichts der dem Kläger mit monatlich
400 DM weiterhin zukommenden Pflegeleistungen in dieser Höhe ein eigener Schaden,
den er geltend machen könnte, nicht entsteht.
97
V.
98
Den dem Kläger in dem Zeitraum vom 6. Juli 1991 bis 31. Mai 1995 entstandenen
sachlichen Mehraufwand, den er auf insgesamt 12.342,26 DM beziffert, schätzt der
Senat auf 2.000 DM. Die insoweit weiter geltend gemachte Forderung ist nicht
berechtigt.
99
Dass ein dem Kläger zu ersetzender finanzieller Mehraufwand in diesem Zeitraum
aufgrund seiner Behinderung entstanden ist, steht außer Zweifel. Insbesondere ist zu
berücksichtigen, dass Kosten aufgrund zahlreicher Fahrten zu unterschiedlichen von
ihm wahrzunehmenden Behandlungsterminen anfielen. Prof. Dr. S. hat bestätigt, dass
die Entstehung solcher Kosten plausibel erscheint. Allerdings ist ein konkret
entstandener finanzieller Aufwand weder substantiiert dargestellt noch unter Beweis
gestellt worden. Obwohl die Beklagten sowohl die Anzahl der behaupteten Fahrten als
auch die geltend gemachten Entfernungskilometer ausdrücklich bestritten haben, hat
der Kläger hierzu nicht näher vorgetragen und auch keinen Beweis angeboten. Gleiches
gilt für die Berechnung von Kosten für die Betreuung der Schwester des Klägers für
Zeiträume, in denen sich seiner Behauptung zufolge seine Eltern wegen
behandlungsbedingt wahrzunehmender Termine nicht selbst um ihre Tochter kümmern
konnten. Die überreichten Bescheinigungen über die Bezahlung von
Betreuungsleistungen in Höhe von insgesamt 1.400 DM belegen nicht schon einen
Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers.
100
Unberechtigt ist auch der Anspruch auf Ersatz von Kosten für den Erwerb von Windeln
sowie wegen eines behaupteten vermehrten Wäscheanfalls. Der Kläger geht bei dieser
Anspruchsposition davon aus, dass er wegen seiner Behinderung im Alter von zwei
Jahren noch Windeln tragen musste. Dem hat Prof. Dr. S. in seinem Gutachten
nachhaltig widersprochen und deutlich gemacht, dass erst 60 % der Jungen bis zur Mitte
des vierten Lebensjahres trocken sind.
101
Unter diesen Umständen erachtet der Senat es als angemessen, einen nicht näher
feststellbaren aber tatsächlich entstandenen finanziellen Aufwand auf insgesamt 2.000
DM (= 1.022,58 EUR) zu schätzen.
102
VI.
103
Das weitergehende Feststellungsbegehren des Klägers ist begründet. Den
104
vorstehenden Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Beklagten ihm auch den
zukünftig noch entstehenden Schaden zu ersetzen haben, der auf die fehlerhafte
Geburtsleitung zurückzuführen ist. Für die Begründetheit des Antrages reicht dabei die
ernsthafte Möglichkeit aus, dass dem Kläger auch weitere künftige materielle Schäden
entstehen werden. Dass diese Möglichkeit besteht, liegt angesichts des Ausmaßes
seiner Behinderung auf der Hand und bedarf daher keiner näheren Begründung.
VII.
105
Der zuerkannte Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 288 Abs. 1, 291 BGB. Zinsen auf
die für die Zeit ab 1. Juni 1995 geforderte Mehrbedarfsrente sind nicht beantragt.
106
B.
107
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708
Nr. 10, 711 ZPO.
108
Die Beschwer der Klägerin und der Beklagten liegt jeweils über 20.000 EUR.
109