Urteil des OLG Düsseldorf vom 30.01.2003
OLG Düsseldorf: druck, behandlungsfehler, geburt, kausalität, behinderung, schmerzensgeld, dokumentation, vollstreckung, anschluss, beweiserleichterung
Oberlandesgericht Düsseldorf, I-8 U 49/02
Datum:
30.01.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-8 U 49/02
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 12.03.2002 verkündete
Grund- und Teilurteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Kleve wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beklagten zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages
abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der Kläger wurde am 09.04.1997 als zweites Kind seiner Mutter M. J. in der Klinik der
Beklagten zu 1) geboren. Die Geburt wurde geleitet von dem Beklagten zu 2), einem
Oberarzt; die Beklagte zu 3), eine Ärztin im Praktikum, assistierte ihm dabei. Bei der
Geburt kam es zu einer Schulterdystokie; postpartal wurde beim Kläger eine komplette
obere und untere Plexusparese mit gleichzeitigem Hornersyndrom diagnostiziert, wofür
der Kläger die Beklagten verantwortlich macht.
2
Die Mutter des Klägers (geb. 1969) war am 09.04.1997 stationär aufgenommen worden;
die von dem Beklagten zu 2) durchgeführte Aufnahmeuntersuchung ergab einen ca. 4
cm geöffneten Muttermund, das Kind lag in II. Schädellage, wobei der vorangehende
Teil des Kopfes noch auf Beckeneingang stand. Um 11.10 Uhr war der Muttermund ca.
5 – 6 cm geöffnet, der Kopf stand bei stehender Fruchtblase noch über Beckeneingang.
Um 12.30 Uhr war der Muttermund vollständig; Pressversuche der Mutter blieben
erfolglos, der Kopf des Kindes stand auch um 12.45 Uhr weiter im Beckeneingang.
3
Ab 12.30 Uhr wies das CTG einen saltatorischen Verlauf aus; ab 13.00 Uhr trat eine
zunehmende Bradycardie auf. Der Beklagte zu 2) entschloss sich zur Vornahme einer
Vakuumextraktion; der diesbezügliche OP-Bericht führt zu dem maßgebliche
Geschehen aus (Hefter V):
4
"VE aus Beckenmitte. Ansetzen der VE-Glocke Nr. 6, Überprüfung des korrekten Sitzes
der Glocke am Köpfchen, langsames Aufbauen des Unterdrucks; (nachträglich
eingefügt: Episiotomie.) Wehensynchroner Zug an der Glocke. Komplikationslose
Entwicklung des Kopfes. (nachträglich eingefügt, schwer lesbar: Hocke oder Hohe,)
Hochgradige Schulterdystokie mit sehr schwerer Entwicklung der Schulter;
Verlängerung der Episiotomie. Entwicklung der linken Schulter nach Hochziehen der
Beine der Pat. (Beine auf den Bauch) (durchgestrichen: + Kristella; nachträglich
eingefügt: bei gleichzeitigem Druck oberhalb der Symphyse und) Kristeller-Handgriff.
(nachträglich eingefügt: Entwicklung der rechten Schulter.) Geburt eines J.en. Das Kind
ist schlapp, Kopf s. gestaut ..."
5
Das Geburtsgewicht des Klägers wurde mit 4.280 g bei einer Körperlänge von 55 cm
und einem Kopfumfang von 38 cm dokumentiert. Die Apgar-Werte lagen bei 5 – 7 – 9,
der postpartale Nabelschnurarterien-pH-Wert lag bei 7,23. Nachgeburtlich zeigte sich
eine Schonhaltung des linken Arms; die durchgeführten Untersuchungen bestätigten die
Diagnose einer kompletten Lähmung des Plexus brachialis mit gleichzeitigem
Hornersyndrom.
6
Der Kläger macht Ersatzansprüche geltend, da er die Plexuslähmung auf ein
unzureichendes Geburtsmanagement und Fehler bei der Durchführung der Geburt
zurückführt. Er hat behauptet, die Beklagten hätten aufgrund verschiedener
Risikofaktoren die Vornahme einer primären Sectio in Betracht ziehen und mit seiner
Mutter erörtern müssen. Beim Auftreten der Schulterdystokie hätten die Beklagten zu 2)
und 3) die Schulterentwicklung fehlerhaft vorgenommen, weil die Beklagte zu 3) hierzu
den Kristeller-Handgriff angewendet habe, was einen groben Behandlungsfehler
darstelle. Es stehe zu vermuten, dass durch die damit verbundene massive traumatische
Einwirkung die Schädigung des Plexus brachialis verursacht worden sei.
7
Der Kläger hat mit der Behauptung, er leide bis heute an einer Plexusparese, ein
Schmerzensgeld von mindestens DM 100.000 für angemessen erachtet; außerdem
entstehe monatlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand von DM 3.000, was bis
Dezember 1999 zu einem Rückstand von DM 96.000 geführt habe.
8
Der Kläger hat beantragt,
9
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes
Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde,
mindestens jedoch DM 100.000 nebst 4 % Zinsen seit dem 16.06.1998 zu zahlen;
10
2. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet seien, ihm allen
weiteren, derzeit nicht absehbaren immateriellen Folgeschaden zu ersetzen, der ihm
durch die fehlerhafte Geburtsbetreuung am 09.04.1997 entstanden sei oder noch
entstehen werde;
11
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihm den im Zeitraum von 04/1997
bis 12/1999 entstandenen personellen und materiellen behinderungsbedingten
Mehraufwand in Höhe von DM 96.000 nebst 4 % Zinsen seit dem 16.06.1998 aus DM
42.000 zu zahlen;
12
4. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn eine drei Monate im voraus
13
zu zahlende monatliche Mehrbedarfsrente ab dem 01.01.2000 in Höhe von DM 3.000 zu
zahlen;
5. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet seien, ihm allen
über die Klageanträge zu 3. und 4. hinausgehenden kongruenten materiellen Schaden
zu ersetzen, der ihm in der Vergangenheit entstanden sei und noch entstehen werde,
soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte
übergegangen seien oder noch übergehen würden.
14
Die Beklagten haben beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16
Sie haben Behandlungsfehler und Aufklärungsversäumnisse bestritten und behauptet,
die Entwicklung der linken Schulter des Klägers habe der Beklagte zu 2) entsprechend
der Lehrmeinung durch eine Kombination des Manövers nach McRoberts mit
suprasymphysären Druck und einer Erweiterung des gelegten Dammschnitts
vorgenommen. Erst danach sei die Kindesentwicklung durch Druck auf den Uterus
fundus (Kristellern) beschleunigt worden. Schließlich sei ihnen bekannt geworden, dass
alle negativen Auswirkungen der Schulterdystokie inzwischen bis auf kaum merkliche
Reste abgeheilt seien, so dass eine Behinderung des Klägers nicht mehr bestehe.
17
Das Landgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens durch Grund-
und Teilurteil die Klageanträge zu 1., 3. und 4. dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt
und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten gemäß den Klageanträgen zu 2.
und 5. ausgesprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei davon auszugehen,
dass die Plexusparese durch die Anwendung des Kristeller-Handgriffs bei Auftreten der
Schulterdystokie entstanden sei. Insoweit komme dem Kläger wegen der mangelhaften
Dokumentation des Geburtsverlaufs eine Beweiserleichterung zugute. Darüber hinaus
ergebe sich die Haftung der Beklagten auch daraus, dass die Mutter des Klägers nicht
wirksam in die vaginale Entbindung eingewilligt habe, da sie nicht – wie geboten – über
die Möglichkeit einer Sectio aufgeklärt worden sei.
18
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie unter Wiederholung und
Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens geltend machen, das Landgericht habe
große Teile ihres Vortrags nicht zur Kenntnis genommen bzw. sich nicht damit
auseinander gesetzt und sei aufgrund einer unzulänglichen Beweiswürdigung und
Verkennung der Beweislast zu einer nicht nachvollziehbaren Entscheidung gelangt.
Entgegen der Vermutung des gerichtlich bestellten Sachverständigen sei der Kristeller-
Handgriff erst angewendet worden, nachdem die linke Schulter des Klägers in den
queren Durchmesser gebracht und entwickelt worden sei. Das Vorgehen zur
Entwicklung der linken Schulter sei entgegen der Auffassung des Sachverständigen
ausreichend dokumentiert. Das Gericht habe schließlich nicht davon ausgehen dürfen,
dass eine Aufklärung der Mutter des Klägers über die Möglichkeit einer Sectio geboten
gewesen sei, ohne die Widersprüche zwischen dem gerichtlich eingeholten
Sachverständigengutachten und einem von ihnen eingeholten Privatgutachten
aufzuklären.
19
Die Beklagten beantragen,
20
das Urteil des Landgerichts Kleve vom 12.03.2002 "aufzuheben" und die Klage
21
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
22
die Berufung zurückzuweisen.
23
Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines
erstinstanzlichen Vorbringens.
24
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen Bezug genommen.
25
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
26
A.
27
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Beklagten sind nach § 847 BGB zur
Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verpflichtet. Darüber hinaus haben
sie aus dem Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung im Sinne der §§ 823, 831 BGB -
die Beklagte zu 1) auch nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung gemäß
den §§ 611, 242, 276, 249 ff. BGB – den behinderungsbedingten Mehraufwand des
Klägers sowie die künftig drohenden materiellen und immateriellen Schäden zu
ersetzen.
28
I.
29
Nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme ist das
Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass den Beklagten zu 2) und 3)
Behandlungsfehler bei der Überwindung der im Geburtsverlauf aufgetretenen
Schulterdystokie vorzuwerfen und dass diese für die eingetretene Schädigung des
Klägers ursächlich geworden sind:
30
1. a) Nach den überzeugenden Ausführungen des vom Landgericht hinzugezogenen
Sachverständigen Prof. Dr. J., an dessen fachlicher Kompetenz als ehemaliger Leiter
der Frauenklinik des Universitätsklinikums A. keine Zweifel bestehen, war es fehlerhaft,
dass die Beklagten zu 2) und 3) zur Entwicklung der Schulter des Klägers den Kristeller-
Handgriff angewendet haben. Ein solches Vorgehen ist nach Entdeckung der
Schulterdystokie absolut kontraindiziert (Bl. 190 GA), weil es durch den dabei von
außen auf den Oberbauch der Gebärenden ausgeübten Druck notgedrungen zu einer
weiteren Verkeilung der kindlichen Schultern im mütterlichen Becken kommt (vgl. auch
Sen., Urt. v. 25.11.1999, OLGR Düsseldorf 2000, 449, 450; Urt. v. 31.01.2000, - 8 U
81/99 -; Urt. v. 10.01.2002, - 8 U 49/01 ). Auch der von den Beklagten beauftragte
Privatgutachter Dr. K. hat trotz seiner vorsichtigen Formulierung ("... sollte generell nicht
ausgeführt werden, solange die verkeilte Schulter nicht sicher gelöst wurde") deutlich
gemacht, dass er die Anwendung des Kristeller-Handgriffs vor einem Lösen der
Schulterdystokie für falsch hält, weil sie zu einer Verschlechterung der kindlichen
Situation führt (Bl. 309 GA).
31
b) Das Landgericht hat auch zutreffend zugrunde gelegt, dass der Kristeller-Handgriff
eingesetzt worden ist, bevor die verkeilte Schulter des Klägers gelöst war. Das ergibt
sich schon aus dem Operationsbericht, in dem es ausdrücklich heißt, die linke Schulter
32
sich schon aus dem Operationsbericht, in dem es ausdrücklich heißt, die linke Schulter
des Klägers sei entwickelt worden nach Hochziehen der Beine der Patientin bei
gleichzeitigem suprasymphysären Druck und Kristeller-Handgriff. Daraus kann schon
sprachlich nicht hergeleitet werden, dass der Kristeller-Handgriff erst angewendet
worden ist, nachdem die linke Schulter des Klägers in den queren Durchmesser
gebracht und entwickelt wurde. Die Dokumentation des Geburtsablaufs ist entgegen der
im nicht nachgelassenen Schriftsatz der Beklagten vom 22.12.2002 vertretenen
Auffassung auch nicht missverständlich in dem Sinne, dass die Eintragungen dahin zu
interpretieren wären, dass zunächst die Entwicklung der linken Schulter erfolgt sei und
dann die Anwendung des Kristeller-Handgriffs. Dagegen spricht schon, dass die
ursprüngliche Eintragung lautete: "Entwicklung der linken Schulter nach Hochziehen
der Beine der Pat. (Beine auf den Bauch) + Kristeller-Handgriff"; das "+"-Zeichen wurde
nachträglich gestrichen und an seiner Stelle eingefügt: "bei gleichzeitigem Druck
oberhalb der Symphyse und". Gerade durch die Einfügung der Worte "bei
gleichzeitigem ... und" wird eindeutig dokumentiert, dass hier der Druck oberhalb der
Symphyse und der Kristeller-Handgriff nebeneinander zur Entwicklung der linken
Schulter angewendet worden sind. In diesem Sinne hat auch der Sachverständige Prof.
Dr. J. den Operationsbericht verstanden (Bl. 190, 208 GA); selbst der Privatgutachter Dr.
K. geht auf Seite 12 seines Gutachtens vom 12.03.2001 davon aus, dass die
Entwicklung der linken Schulter erst "nach Ausführung der beschriebenen Maßnahmen"
(u.a. des Kristeller-Handgriffs) gelang (Bl. 308 GA) und verneint eine Haftung der
Beklagten lediglich deshalb, weil er – ohne nähere Begründung – annimmt, die alleinige
Kausalität der Anwendung des Kristeller-Handgriffs für den eingetretenen Schaden sei
nicht wahrscheinlich (Bl. 309 GA).
Die Voraussetzungen für eine Parteivernehmung der Beklagten zu 2) und 3) nach § 448
ZPO liegen nicht vor. Zwar besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass die
Behandlungsseite noch im Prozess fehlende Angaben zum Behandlungsablauf ergänzt
und dadurch einen Dokumentationsmangel beseitigt (vgl. BGH, NJW 1984, 1408, 1409);
darum geht es hier jedoch nicht. Die Beklagten wollen vielmehr der geschriebenen
Dokumentation einen anderen, für sie günstigen Sinn beilegen. Es spricht jedoch nicht
einmal eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein ordnungsgemäßes Vorgehen der
beteiligten Ärzte. Im Gegenteil: Für die Anwendung des Kristeller-Handgriffs zur
Entwicklung der linken Schulter des Klägers spricht nicht nur der Operationsbericht,
sondern auch die eingetretene Schädigung, die nach den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. Dr. J. ihre Ursache häufig in einem mit zu hoher
Kraftaufwendung verbundenen Versuch hat, die Schulterdystokie zu beheben, (Bl. 375
GA).
33
2. Zugunsten des Klägers ist auch davon auszugehen, dass die Schädigung des Plexus
brachialis durch das fehlerhafte Vorgehen der Beklagten zu 2) und 3) verursacht worden
ist. Die diagnostizierte Plexusparese ist die typische Folge einer Zerrung des
Nervengeflechts im Anschluss an die gewaltsame Lösung einer Schulterdystokie.
Anhaltspunkte für eine anlagebedingte oder eine intrauterin verursache Schädigung
sind nicht ersichtlich; etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Gutachten des
Privatgutachters Dr. K., für den die Gesundheitsschädigungen ebenfalls Folge der
Behandlung der Schulterdystokie sind (Bl. 312 GA).
34
Zwar ist nicht zu verkennen, dass es selbst bei einem optimalen Vorgehen nicht immer
gelingt, das Problem ohne nachteilige Folgen zu bewältigen; nach einer
Schulterdystokie kann es auch dann zu einer bleibenden Schädigung kommen, wenn
das geburtshilfliche Personal in jeder Hinsicht einwandfrei handelt. Dennoch ist die
35
Behinderung letztlich den Beklagten haftungsrechtlich zuzurechnen; dem Kläger sind
nämlich im Anschluss an die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze hinsichtlich des Kausalverlaufs Beweiserleichterungen zuzubilligen, weil
die Anwendung des Kristeller-Handgriffs vor Behebung der Schulterdystokie als grob
fehlerhaft einzustufen ist. Dabei ist unter einem groben Behandlungsfehler ein
eindeutiger Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte
medizinische Erkenntnisse zu verstehen, also ein Fehler, der aus objektiver Sicht nicht
mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf
(vgl. BGH, NJW 1998, 814, 815). Der Sachverständige Prof. Dr. J. hat die Anwendung
des Kristeller-Handgriffs vor Korrektur des hohen Schultergradstandes als "hochgradig
fehlerhaft" (Bl. 208 GA) und (in dieser Situation) verboten bezeichnet (Bl. 205 GA). Der
Senat hat – sachverständig beraten – bereits mehrfach ausgesprochen, dass einem
Facharzt die zur Lösung einer kindlichen Schulter erforderlichen und geeigneten
Maßnahmen bekannt und geläufig sein müssen (vgl. Urt. v. 25.11.1999 – 8 U 126/98 –,
OLGR Düsseldorf 2000, 449, 450; Urt. v. 10.01.2002 – 8 U 49/01 –); dann ist die
Anwendung einer in dieser Situation absolut kontraindizierten Maßnahme
schlechterdings unverständlich (so auch Sen., Urt. v. 19.01.1997 – 8 U 148/95 –).
Das grob fehlerhafte Vorgehen der Beklagten zu 2) und 3) führt hier zu einer
Beweislastumkehr für die Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und der
Plexusschädigung, denn die Anwendung des Kristeller-Handgriffs vor Behebung der
Schulterdystokie war generell geeignet, einen solchen Schaden herbeizuführen. Zwar
hat der Privatgutachter Dr. K. ausgeführt, er halte es nicht für wahrscheinlich, dass die
schwere Plexusschädigung des Klägers allein durch Anwendung des Kristeller-
Handgriffs eingetreten sei; das ist aber auch nicht erforderlich. Eine Beweiserleichterung
scheidet nämlich erst dann aus, wenn jeglicher Ursachenzusammenhang zwischen
(grobem) Behandlungsfehler und Schaden gänzlich unwahrscheinlich ist, wobei
Mitursächlichkeit genügt (vgl. BGH, NJW 1997, 796, 797). Danach haben die Beklagten
zu beweisen, dass es auch ohne das fehlerhafte Vorgehen zu der Schädigung des
Klägers gekommen wäre. Diesen Beweis haben sie nicht geführt (Bl. 209 GA). Gründe
für die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Kausalität haben die
Beklagten nicht dargelegt; insbesondere kann auch der von ihnen eingeschaltete
Privatgutachter Dr. K. die Kausalität im Sinne jedenfalls einer Mitursächlichkeit nicht
ausschließen. Er hält es vielmehr ausdrücklich für möglich, dass die Plexusschädigung
– durch Anwendung des Kristeller-Handgriffs und Zug am Kopf des Klägers – auch vor
Lösung der verkeilten Schulter eingetreten sein kann (Bl. 309 GA).
36
II.
37
Da somit bereits ein haftungsbegründender Fehler bei den Maßnahmen zur Behebung
der Schulterdystokie vorliegt, kommt es nicht mehr darauf an, ob das Landgericht zu
Recht von einem Aufklärungsversäumnis ausgegangen ist, weil die Sectio wegen
verschiedener Risikofaktoren für das Kind jedenfalls eine ernsthafte
Entbindungsalternative darstellte (so Prof. Dr. J.), die mit der Mutter des Klägers zu
besprechen war.
38
III.
39
1. Das Landgericht hat die Ersatzpflicht der Beklagten zu Recht dem Grunde nach
bejaht. Aufgrund der vorgelegten Bescheinigungen (Bl. 54 – 56, 274 - 278 GA) ist davon
auszugehen, dass die Plexusläsion zu einer nach wie vor bestehenden erheblichen
40
Behinderung des Klägers geführt hat. Insbesondere der Privatgutachter Prof. Dr. K. hat
ausgeführt, dass die – hier vorliegende – totale (obere und untere) Plexusparese
prognostisch ungünstig ist (Bl. 38/39 GA). Dies erfordert ein deutliches Schmerzensgeld,
wobei allerdings der angemessene Betrag unter dem vom Kläger angegebenen
Mindestbetrag von DM 100.000 liegen dürfte. Endgültig kann dies jedoch erst beurteilt
werden, wenn – was ohnehin im Rahmen der begehrten Mehrbedarfsrente noch im
einzelnen aufzuklären sein wird – feststeht, wie sich die Schädigung auf den Alltag des
Klägers auswirkt.
2. Dem Feststellungsbegehren hat das Landgericht ebenfalls zu Recht stattgegeben.
Zwar haben die Beklagten geltend gemacht, ihnen sei bekannt geworden, dass alle
negativen Auswirkungen des Schulterdystokie inzwischen abgeheilt seien; dabei
handelt es sich indessen ersichtlich um einen Sachvortrag ins Blaue hinein, da die
zeitlich nachfolgend vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen das Gegenteil besagen.
Hierzu haben die Beklagten keine Stellung genommen; auch sind sie hierauf in der
Berufungsbegründung nicht mehr eingegangen.
41
B.
42
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
43
Die Revisionszulassung ist nicht veranlasst.
44
Die Beschwer der Beklagten liegt über € 20.000.
45
B. S.-B. T.
46