Urteil des OLG Düsseldorf vom 11.09.2003
OLG Düsseldorf (vernehmung von zeugen, sturz, pfleger, unfall, patient, verhalten, klinik, zpo, zustand, anwesenheit)
Oberlandesgericht Düsseldorf, I-8 U 17/03
Datum:
11.09.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-8 U 17/03
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 19. Dezember 2002
verkündete Ur-teil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Zwangsvollstreckung der Beklagten wegen der
Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des
Urteils voll-streckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor
der Vollstre-ckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
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Der bei der AOK krankenversicherte Patient L. S. - geboren am 14. April 1953 - wurde
am 10. Dezember 1997 mit einer beidseitigen Pneumonie in der internistisch-
kardiologischen Intensivstation des L.-K. in N., dessen Träger die Beklagte ist,
aufgenommen. Aufgrund eines akuten Lungenversagens wurde der Patient vom
nächsten Tag an auf der anästhesiologischen Intensivstation per Intubation unter
Sedierung künstlich beatmet. Nachdem sich am 19. Dezember 1997 die Lungenfunktion
deutlich gebessert hatte, wurde mit der Entwöhnung (weaning) von dem
Beatmungsgerät begonnen. Am Abend des 19. Dezember 1997 war ab 20.00 Uhr eine
assistierte Spontanatmung (ASB) möglich; der Patient war wach. Vom Morgen des
nächsten Tages an - 20. Dezember 1997 - wurde die sedierende Medikation reduziert;
Herr S. wurde aus dem Spezialbett in ein normales Krankenhausbett umgelagert und
um 13.30 Uhr extubiert. Danach wurde er mit einer Sauerstoffmaske versorgt; die
apparative Überwachung des arteriellen Blutdrucks, der Herztätigkeit durch EKG sowie
der Sauerstoffsättigung des Blutes über Sensoren und Monitore wurde fortgeführt. 15 -
20 Minuten vor 18.00 begab sich der für den Patienten zuständige Pfleger in seine
Pause und ließ Herrn S. unbeobachtet zurück. Gegen 18.00 Uhr wurde der Patient nach
einem Sturz aus dem Bett auf dem Rücken am Boden liegend aufgefunden; als Ursache
hierfür wurde von den Ärzten der chirurgischen Klinik der Beklagten in einem im März
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hierfür wurde von den Ärzten der chirurgischen Klinik der Beklagten in einem im März
des darauffolgenden Jahres ausgefüllten Fragebogen der Klägerin "Agitation"
angegeben.
Die sogleich nach dem Unfall durchgeführte Röntgenuntersuchung des Patienten ergab
eine rechtsparetiale Fraktur des Schädels; das Schädel-CT zeigte eine linksfrontale und
rechtsparetiale Kontusionsblutung sowie eine Subarachnoidalblutung. Herr S. wurde in
die neurochirurgische Klinik der Universität D. verlegt; dort wurde am 21. Dezember
1997 eine externe Ventrikeldrainage angelegt; am 27. Dezember 1997 erfolgte eine
osteoklastische Trepanation. In der Zeit vom 29. Januar bis zum 13. März 1998
absolvierte Herr S. eine Rehabilitation in der Klinik B. in K.; später wurde ihm während
eines stationären Aufenthaltes vom 13. bis zum 28. August 1998 im Städtischen
Krankenhaus D.-N. ein Kalottenfragment links fronto-parietio-temporal replantiert.
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Die Klägerin macht aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X Ersatzansprüche
geltend und trägt vor, da die Behandlung des Patienten wegen seiner
Ursprungsbeschwerden auf Kosten der A. R. durchgeführt worden sei, sei er bei ihr
unfallversichert gewesen; sie habe die unfallbedingten Kosten der
Krankenhausbehandlung, der Operation und der Rehabilitation tragen sowie das
Verletztengeld und die Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen. Die Klägerin wirft
der Beklagten vor, der Sturz des Patienten sei darauf zurückzuführen, dass ihre
Bediensteten die ihnen obliegenden Obhutspflichten verletzt hätten. Sie hätten es
pflichtwidrig unterlassen, die in Anbetracht des Krankheitsbildes und des Zustandes des
Patienten erforderlichen Sicherungsmaßnahmen - Anbringung eines Bettgitters,
Fixierung oder dauernde Überwachung durch das Pflegepersonal - zu ergreifen.
Hinsichtlich der Schadensberechnung wird auf die Aufstellung in der Klageschrift (Bl. 6
bis 9 GA) Bezug genommen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie 55.529,20 EUR nebst 5 % Zinsen über dem
Basiszinssatz gemäß § 1 des Diskont-Überleitungsgesetzes seit dem 3. Juli 2001
zu zahlen;
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festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr für alle weiteren
übergangsfähigen Aufwendungen aufzukommen, die sie für den Patienten Lothar
S., geboren am 14. April 1953 aufgrund des im Krankenhaus der Beklagten am 20.
Dezember 1997 erlittenen Unfalls weiterhin erbracht oder in Zukunft noch zu
erbringen habe.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat geltend gemacht, nach der Extubation sei Herr S. ansprechbar und zu seiner
Person vollständig orientiert gewesen; auf Fragen zu seinem Befinden habe er
adäquate Antworten gegeben. Er sei in keiner Weise agitiert gewesen; Anzeichen für
Unruhe oder eine aggressive Verwirrtheit hätten nicht vorgelegen. Mit Blick hierauf sei
eine Sicherung durch Anbringung eines Bettgitters oder eine Fixierung des Patienten
nicht erforderlich gewesen. Überdies habe Herr S. sich bei der regelmäßigen
Beobachtung seiner Vitalfunktionen durch das Pflegepersonal unter ständiger
Beobachtung befunden. Den geltend gemachten Schaden hat die Beklagte nach Grund
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und Höhe bestritten.
Das Landgericht hat durch Vernehmung von Zeugen und Einholung eines
medizinischen Sachverständigengutachtens Beweis erhoben und sodann die Klage
abgewiesen. In den Gründen hat die Kammer ausgeführt, dem Personal der Beklagten
sei zwar eine Pflichtwidrigkeit anzulasten, weil der für den Patienten zuständige Pfleger
ihn vor dem Sturz unbeobachtet in seinem Zimmer zurückgelassen habe; es lasse sich
jedoch nicht feststellen, dass eine Anwesenheit des Pflegepersonals den Sturz
verhindert hätte.
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie macht geltend,
der Sturz wäre nur dann nicht vermeidbar gewesen, wenn der Patient ohne jegliche
vorherige Bewegung, sozusagen urplötzlich, aus dem Bett gefallen wäre; hiervon könne
jedoch angesichts der Angaben der Beklagten, dass der Unfall durch "Agitation"
herbeigeführt worden sei, nicht ausgegangen werden. Da die Pflichtwidrigkeit des
Pflegepersonals zur Herbeiführung des Sturzes geeignet gewesen sei, sei es Sache der
Beklagten, die fehlende Kausalität zu beweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung
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I. die Beklagte zu verurteilen, an sie 55.529,20 EUR nebst 5 %
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Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagezustellen zu zahlen;
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I. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr über die
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Zahlung gemäß Ziffer I. hinaus alle übergangsfähigen Aufwen-
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dungen zu ersetzen, welche sie für Herrn Lothar S., geboren
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am 14. April 1953, aufgrund des im Lukas-Krankenhauses Neuss
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am 20. Dezember 1997 erlittenen Unfalls weiterhin erbracht oder
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in Zukunft noch zu erbringen habe.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt unter Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens die Entscheidung des
Landgerichts.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den
Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
29
A.
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Die Berufung ist zulässig; sie hat in der Sache aber keinen Erfolg.
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Der Klägerin steht aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) des bei ihr versicherten
Herrn S. weder nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung (§§ 611, 242,
249 ff. BGB a.F.) noch aus dem Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung (§§ 823 ff.
BGB a.F.) ein Anspruch auf Ausgleich der aufgrund des Sturzes des Patienten bereits
entstandenen oder zukünftig drohenden materiellen Schäden zu.
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I.
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1.
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Grundsätzlich übernimmt das Krankenhaus mit der stationären Aufnahme eines
Patienten nicht nur die Aufgabe der einwandfreien Diagnose und Therapie, sondern
auch Obhuts- und Schutzpflichten dergestalt, ihn im Rahmen des Möglichen und
Zumutbaren vor Schäden und Gefahren zu schützen, wenn sein körperlicher oder
geistiger Zustand dies gebietet. Maßgebend ist, ob im Einzelfall wegen der Verfassung
des Patienten aus der Sicht ex ante ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er
sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte.
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2.
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Das Landgericht ist unter Anwendung dieser Grundsätze zu dem Ergebnis gelangt, dass
der Zustand des Versicherten am 20. Dezember 1997 Sicherungsvorkehrungen in Form
eines Bettgitters, einer Fixierung des Patienten oder einer Sitzwache am Bett nicht
erforderte; nach den Feststellungen der Kammer war es vielmehr ausreichend, dass der
für Herrn S. zuständige Pfleger ihn aus dem Dienstzimmer heraus, das durch eine
Glastür mit dem Krankenzimmer verbunden war, im Wege des Sichtkontaktes jederzeit
überwachen konnte. Dies hat auch der Senat gemäß § 529 Abs. 1 ZPO seiner
Entscheidung zugrunde zu legen; die Klägerin hat diese Bewertung der Kammer, die
auf einer fehlerfreien Würdigung der erstinstanzlichen Zeugenaussagen sowie der
sachverständigen Beurteilung des Direktors des Zentrums für Anästhesie,
anästhesiologische Intensivmedizin und Schmerztherapie des Klinikums W., Prof. Dr. B.
beruht, nicht angegriffen.
37
3.
38
Zu Recht ist das Landgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon
ausgegangen, dass die - notwendige - Überwachung nicht in jeder Hinsicht
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ordnungsgemäß erfolgt ist, weil der zuständige Pfleger S. sich ca. 15 - 20 Minuten vor
dem Sturz aus dem Dienstzimmer entfernte und Herr S. eine Zeitlang unbeobachtet
blieb. Der Sachverständige Prof. Dr. B. hat dieses Verhalten des Pflegers als
"problematisch" bezeichnet und deutlich gemacht, dass ein völlig einwandfreies
pflegerisches Vorgehen eine Übergabe der Beobachtung des Patienten an ein anderes
Mitglied des Pflegepersonals erfordert hätte.
4.
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Gleichwohl scheidet eine Haftung der Beklagten aus, weil sich nicht feststellen lässt,
dass der Unfall bei einer fehlerfreien Beobachtung des Patienten aus dem
Dienstzimmer heraus vermieden worden wäre:
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a)
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Der Sturz des Herrn S. hätte von dem Pfleger nur unterbunden werden können, wenn er
sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Dienst- sondern im Krankenzimmer am Bett des
Patienten und in dessen unmittelbarer Nähe aufgehalten hätte. Da die
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Überwachung des Versicherten eine solche Maßnahme indes grundsätzlich nicht gebot,
sondern eine Beobachtung aus dem Nebenzimmer heraus solange ausreichend war,
als keine kritische Änderung seines Zustandes eintrat, hätte für den Pfleger auch bei
einer ständigen Anwesenheit im Dienstzimmer nur dann Anlass bestanden, den
Patienten einer unmittelbaren Beobachtung in dessen Nähe zu unterziehen, wenn sich -
beispielsweise durch unruhige Bewegungen - Anzeichen für eine Gefährdung
bemerkbar gemacht hätten. Dass dem Unfall derartige Anzeichen vorausgingen, lässt
sich nach dem Ergebnis der von dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme
nicht feststellen: Nach der Schilderung des Zeugen S. hatte Herr S. während seiner, des
Pflegers, Anwesenheit im Dienstzimmer keinerlei körperliche Unruhe gezeigt; gemäß
den Erläuterungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. war auch die dauernde
Überwachung der Vitalparameter (arterieller Blutdruck, Herzfrequenz und
Sauerstoffsättigung des Blutes) über Sensoren und Monitore - die bei unruhigen
Bewegungen des Patienten ein Alarmsignal auslösen - völlig unauffällig. Dafür, dass
sich bei dem Versicherten während des Zeitraumes, in dem er vor dem Sturz
unbeobachtet war, bereits eine körperliche Unruhe eingestellt hatte, bestehen ebenfalls
keine hinreichenden Anhaltspunkte; weil durch das Monitorsystem, das auf eine
gesteigerte Motorik des Patienten reagiert hätte, nach der Aussage des Zeugen L.
zunächst kein Alarm ausgelöst wurde. Nach seiner Darstellung ertönte das Alarmsignal
gleichzeitig mit dem Sturz, der durch das Aufschlagen des Patienten auf den Boden
hörbar war.
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Mit Blick auf diesen Ablauf spricht vieles dafür, dass der Sturz des Herrn S. durch eine
plötzliche unvermutete und nicht vorhersehbare Reaktion - wie beispielsweise eine
unglückliche oder heftige Bewegung an den Bettrand - verursacht worden ist; auf ein
derartiges unerwartetes Geschehen hätte auch bei einer ständigen Beobachtung aus
dem Dienstzimmer heraus wegen der räumlichen Entfernung nicht so schnell reagiert
werden können, dass der Sturz aus dem Bett verhindert worden wäre.
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Dass die Chirurgen des Lukaskrankenhausse mehrere Monate nach dem Unfall im März
1998 in einem Fragebogen als Ursache des Sturzes "Agitation" vermerkt haben, steht
dieser Wertung nicht entgegen. Der Begriff "Agitation" besagt nur, dass der Unfall durch
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eine plötzliche Reaktion des Versicherten hervorgerufen wurde; Hinweise darauf, dass
Herr S. vorher ein auffälliges Verhalten gezeigt hätte, ergeben sich daraus indessen
nicht.
b)
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Die Zweifel hinsichtlich der Vermeidbarkeit des Sturzes gehen zu Lasten der Klägerin,
weil sie als Anspruchstellerin grundsätzlich auch die Kausalität des Behandlungsfehlers
für den Primärschaden zu beweisen hat; dies gilt auch dann, wenn der Fehler in einem
Unterlassen - hier der gebotenen Beobachtung - besteht.
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Beweiserleichterungen hinsichtlich des Nachweises der Ursächlichkeit können der
Klägerin nicht zugebilligt werden:
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Da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zustand des Versicherten zu dem
Zeitpunkt, als der Pfleger sich aus dem Dienstzimmer entfernte, in irgendeiner Weise
kritisch war, und der Pfleger auch davon ausgehen konnte, dass auffällige Reaktionen
des Patienten sogleich einen Alarm über das Monitorsystem auslösen würden, kann das
Verlassen des Dienstzimmers nicht als grober Pflegefehler bewertet werden, zumal
auch der Sachverständige das Verhalten des Herrn S. zwar als "problematisch", vor
dem Hintergrund eines unauffälligen Zustandes des Patienten aber nicht als völlig
unverständlich erachtet hat.
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B.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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Die Beschwer der Klägerin liegt über 20.000 EUR.
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a. S.-B. T.
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