Urteil des OLG Düsseldorf vom 20.09.2010

OLG Düsseldorf (einstellung des verfahrens, im bewusstsein, anklageschrift, stpo, strafzumessung, sachbeschädigung, sache, anklage, strafe, stgb)

Oberlandesgericht Düsseldorf, III-3 RVs 117/10
Datum:
20.09.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
III-3 RVs 117/10
Tenor:
1. Das Verfahren wird im Hinblick auf die Anklageschrift vom 21. August
2009 (Az. 13 Js 1410/09 StA Krefeld - Sachbeschädigung vom 29. Juni
2009) eingestellt.
Insoweit wird davon abgesehen, der Staatskasse die notwendigen
Auslagen des Angeklagten aufzuerlegen.
2. Im Übrigen wird das angefochtene Urteil mit den Fest-stellungen
aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere
Strafkammer des Land-gerichts zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
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Das Amtsgericht Krefeld hat den Angeklagten "wegen Sachbeschädigung in zwei
Fällen, eine davon tateinheitlich mit Hausfriedensbruch begangen, sowie Beleidigung
und Körperverletzung" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die
auf Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht
nach teilweiser Einstellung des Verfahrens mit der Maßgabe verworfen, dass der
Angeklagte wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen und wegen vorsätzlicher
Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde.
Hiergegen richtet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung sachlichen Rechts
gestützten Revision.
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II.
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Die zulässige Revision ist begründet.
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1.a) Wegen des Tatvorwurfes aus der Anklageschrift vom 21. August 2009 unterliegt das
Verfahren der Einstellung, weil es insoweit an der Verfahrensvoraussetzung eines
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Eröffnungsbeschlusses fehlt. Es besteht damit ein von Amts wegen zu beachtendes
Verfahrenshindernis, welches zur Verfahrenseinstellung führt (vgl. BGHSt 10, 278, 279;
BGH StV 1983, 2; BGH NStZ 1986, 276; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 203 Rn. 4).
Ausdrücklich eröffnet ist das Hauptverfahren hinsichtlich der Anklage vom 21. August
2009 nicht. Im die Anklageschrift vom 21. Juli 2009 (15 Js 1008/09) betreffenden
Eröffnungsbeschluss vom 29. September 2009 ist dieses Verfahren allerdings insoweit
erwähnt, als darin "die Verfahren 36 Ds – 15 Js 1008/09 – 726/09 (Amtsgericht Krefeld)
und 36 Ds – 13 Js 1410/09 – 801/09 (Amtsgericht Krefeld) zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden werden". Die Wirkung eines
Eröffnungsbeschlusses kommt diesem Verbindungsbeschluss allerdings nicht zu. Dies
wäre nur dann der Fall, wenn das verbindende Gericht die Eröffnungsvoraussetzungen
erkennbar geprüft hätte, wenn also dem Verbindungsbeschluss eine schlüssige und
eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage unter den Voraussetzungen des
§ 203 StPO zuzulassen, unter gleichzeitiger Würdigung des hinreichenden Tatverdachts
hätte entnommen werden können (vgl. BGH NStZ 1987; NStZ 88, 236; BGHR StPO §
203 Beschluss 4).
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Diesen Anforderungen wird der Verbindungsbeschluss vom 29. September 2009 nicht
gerecht. Er nennt lediglich die Aktenzeichen der verbundenen Verfahren und noch nicht
einmal eine bestimmt bezeichnete Anklage, die inzidenter zur Hauptverhandlung hätte
zugelassen werden können. Gegen den Willen des Amtsrichters, die Anklageschrift vom
21. August 2009 am 29. September 2009 zur Hauptverhandlung zuzulassen, spricht im
Übrigen auch, dass die dem Angeklagten gesetzte einwöchige Frist zur Stellungnahme
auf diese Anklage erst am 30. September 2009 ablief.
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b) Die Auslagenentscheidung beruht insoweit auf § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO. Der
Angeklagte kann wegen der Sachbeschädigung vom 29. Juni 2009 nur deshalb nicht
verurteilt werden, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Bei dessen Hinwegdenken
erschiene seine Verurteilung im Hinblick auf sein umfassendes Geständnis aber sicher
(vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 467 Rn. 16 m.w.N.).
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2. Hinsichtlich der verbleibenden Taten aus der Anklageschrift vom 21. Juli 2009 erweist
sich das – allein den Rechtsfolgenausspruch betreffende – Urteil als in der Sache
rechtsfehlerhaft. Die Ausführungen des Landgerichts zur Strafzumessung enthalten
einen Erörterungsmangel.
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Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Dessen Wertung ist
im Zweifelsfall zu respektieren (vgl. BGH NStZ 1982, 114; NStZ 1984, 360). Das
Revisionsgericht darf jedoch dann eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen
des angefochtenen Urteils in sich rechtsfehlerhaft oder lückenhaft sind, was dann der
Fall ist, wenn der Tatrichter tragende Strafzumessungsgründe nicht bzw. nicht
vollständig bedacht und erörtert hat (vgl. BGH NJW 1976, 2355).
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Dies ist vorliegend im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 StGB der Fall, wonach "die
Wirkungen, die von der Strafe für das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu
erwarten sind", berücksichtigt werden müssen. Zu diesen Wirkungen gehört nach
herrschender – und auch vom Senat in ständiger Rechtsprechung vertretener – Meinung
der wegen der Verurteilung drohende Widerruf einer ausgesetzten Freiheitsstrafe in
anderer Sache (sog. "Kumulationswirkung" - vgl. zuletzt Senat, Beschlüsse vom 24. Juni
2010 – III-3 RVs 74/10, vom 7. Juni 2010 – III-3 RVs 72/10, vom 14. April 2010 – III-3
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RVs 48/10, vom 13. April 2010 – III-3 RVs 46/10; BGH StV 1996, 26, 27; OLG Hamm
NStZ-RR 1998, 374; NStZ-RR 2010, 202; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. April 2003
– 3 Ss 54/03; OLG Hamburg, Beschluss vom 11. August 2003 – II-56/03 1 Ss 77/03;
OLG Stuttgart, Beschluss vom 9. Februar 2006 – 1 Ss 575/05; OLG Oldenburg,
Beschluss vom 28. Juli 2008 – Ss 266/08). Diesen Umstand hat die Strafkammer im
Rahmen der Strafzumessung vollständig unberücksichtigt gelassen, obwohl der
Angeklagte die abgeurteilten Taten während des Laufes von gleich vier
Bewährungszeiten begangen (Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Krefeld vom
11. Mai 2005; Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 31. Oktober 2005; Urteil des
Amtsgerichts Krefeld vom 11. Februar 2008; Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 7.
Januar 2009 – Nrn. 12, 13, 15 und 16 der Strafliste), deshalb den Widerruf aller dieser
Strafaussetzungen und damit eine zusätzliche Haftzeit von annähernd zwei Jahren zu
erwarten hat.
Der in diesem Zusammenhang vereinzelt vertretenen Gegenansicht, nach der der
Angeklagte, der in der Bewährungszeit im Bewusstsein der Widerrufsmöglichkeit eine
erneute Strafe begeht, wegen des drohenden Widerrufs keine Nachsicht erwarten könne
(vgl. OLG Düsseldorf, 1. Senat, Urteil vom 3. August 2009 – III-5 Ss 67-09 – 62-09 I;
Schönke/Schröder-Stree, StGB, 27. Aufl., § 46 Rn. 55), ist nicht beizutreten. Denn zum
einen ist schon dem Wortlaut des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB eine derartige Einschränkung
nicht zu entnehmen. Zum anderen und vor allem aber ist ein derartiges Normverständnis
mit dem Strafzweck der Resozialisierung nicht zu vereinbaren. Dass die Stärkung der
Fähigkeit und des Willens zu verantwortlicher Lebensführung nur dann realistisch
erscheint, wenn bei der Strafzumessung auf die Dauer der zu erwartenden
Gesamtvollstreckung Rücksicht genommen wird, liegt jedenfalls dann auf der Hand,
wenn die Länge der auf Grund bevorstehenden Widerrufs zu verbüßenden Haft
diejenige der neu verhängten Strafe – wie vorliegend – um ein Mehrfaches übersteigt.
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