Urteil des OLG Düsseldorf vom 10.01.2002

OLG Düsseldorf: trisomie 21, schwangerschaftsabbruch, gefahr, abtreibung, medizinische indikation, beratung, eltern, verwandtschaft, schmerzensgeld, unterhalt

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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2
Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Düsseldorf, 8 U 79/01
10.01.2002
Oberlandesgericht Düsseldorf
8. Zivilsenat
Urteil
8 U 79/01
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die
mündliche Verhand-lung vom 6. Dezember 2001 durch den Vorsitzenden
Richter am Oberlandesgericht B. sowie die Richter am Oberlandesgericht
G. und S.
für R e c h t erkannt:
Die Berufung der Kläger gegen das am 13. März 2001 verkündete Urteil
der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin zu 2) 7 % und den
Klägern als Gesamtschuldnern weitere 93 % auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung des Beklagten durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 10.000 EUR abwenden, wenn nicht der
Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Sicherheiten können auch durch Bürgschaft einer deutschen Bank
oder Sparkasse erbracht werden.
T a t b e s t a n d
Die miteinander verwandten Kläger sind Eheleute und Eltern von zwei gesunden Kindern.
Die ausweislich der Karteikarte des Beklagten am 25. Januar 1960 geborene Klägerin
wurde im Jahre 1997 erneut schwanger. Sie suchte am 6. November 1997 in der 15.
Schwangerschaftswoche erstmals den Beklagten, dessen Vorgänger sie in seiner
frauenärztlichen Praxis regelmäßig betreut hatte, auf. Dieser stellte die Gravidität fest, führte
eine Ultraschalluntersuchung durch und ermittelte als voraussichtlichen Geburtstermin den
20. Mai 1998. In den Monaten November und Dezember 1997 erschien die Patientin
mehrfach in der Praxis, wobei der Arzt sie wiederholt zur Vorlage eines Krankenscheins
ihrer Versicherung aufforderte. Am 12. Januar 1998 - in der 23. Schwangerschaftswoche -
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erfolgte eine genetische Beratung; der Beklagte überwies die Klägerin zur Durchführung
einer Fruchtwasseruntersuchung in die gynäkologische Abteilung des Klinikums R. Die
dort am 14. Januar 1998 vorgenommene Amniozentese ergab am 27. Januar 1998 bei der
Leibesfrucht eine Chromosomenstörung im Sinne eines Down-Syndroms. Der Beklagte
stellte die Klägerin in der Abteilung für pränatale Diagnostik und Therapie der Universität B.
vor; dort äußerte sie den Wunsch, das Kind auszutragen (vgl. Bl. 26 GA). Am 6. April 1998
kam es zur Geburt des Sohnes A. Y., der körperlich und geistig erheblich behindert ist.
Die Kläger machen Ersatzansprüche geltend. Sie haben behauptet, der Beklagte habe sie
nicht rechtzeitig über das erhöhte Risiko einer Geburtsschädigung belehrt; eine solche
Beratung sei nicht nur wegen des Alters der Kindesmutter, sondern auch angesichts der
zwischen den Eltern bestehenden Verwandtschaft angezeigt gewesen. Bei einer
frühzeitigen Unterrichtung über die Gefahr einer Chromosomenaberration wäre das
kindliche Down-Syndrom bereits im November 1997 festgestellt worden; anschließend
hätten sie - die Kläger - sich dazu entschlossen, die Schwangerschaft abzubrechen.
Aufgrund seines Fehlverhaltens müsse der Beklagte den gesamten Unterhalt für das
behinderte Kind tragen; dabei schulde er neben dem Regelunterhalt den
behinderungsbedingten Betreuungsaufwand, für den bei einem Stundenlohn von 20 DM
sechs Stunden täglich zu veranschlagen seien. Die Kläger haben den in den ersten zwei
Jahren entstandenen Schaden zunächst auf 86.760 DM beziffert, die darauf gerichtete
Klage aber in Höhe eines Betrages von 2.400 DM unter Berücksichtigung einer ab dem 1.
Januar 2000 gewährten Unterhaltsbeihilfe in Höhe von 800 DM monatlich
zurückgenommen. Daneben hat die Klägerin zum Ausgleich der mit der Entbindung
verbundenen immateriellen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld in einer
Größenordnung von 15.000 DM verlangt.
Die Kläger haben beantragt,
1.
den Beklagten zu verurteilen, an sie 84.360 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 6. April
1998 zu zahlen;
2.
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet sei, den künftigen Unterhaltsaufwand für ihr
am 6. April 1998 geborenes Kind zu ersetzen einschließlich der Kosten für die
medizinische Versorgung und die eventuell notwendig werdende Heimunterbringung;
3.
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld zu
zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde.
Der Beklagte hat den Antrag gestellt,
die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen, er habe die Patientin bereits am 6. November 1997 und auch bei den
folgenden Terminen nachdrücklich über das altersbedingt erhöhte Risiko eines Down-
Syndroms belehrt und auf die Notwendigkeit einer Fruchtwasseruntersuchung
hingewiesen. Die Klägerin, deren Verwandtschaft mit ihrem Ehemann ihm nicht bekannt
gewesen sei, habe ihm auf seine Vorhaltungen entgegnet, sie habe bereits zwei gesunde
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Kinder und sei zudem - anders als in der Karteikarte vermerkt - nur 34 Jahre alt. Dass sie
sich erst im Januar 1998 zu einer Amniozentese entschlossen habe, sei ihm unter diesen
Umständen nicht vorzuwerfen. Darüber hinaus hat der Beklagte geltend gemacht, ein
legaler Schwangerschaftsabbruch sei bereits im November 1997 nicht mehr möglich
gewesen; eine medizinisch-soziale Indikation habe nicht vorgelegen. Schließlich hat der
Beklagte den Umfang der Ersatzforderungen bestritten.
Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal hat die Klage durch Urteil vom 13. März
2001 abgewiesen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Kläger. Sie wiederholen ihr
erstinstanzliches Vorbringen und machen geltend, ein Schwangerschaftsabbruch sei ohne
weiteres bis zur 22. Schwangerschaftswoche in Betracht gekommen; bis zu diesem
Zeitpunkt wäre eine Abtreibung sowohl für die Klägerin als auch für den durchführenden
Arzt straffrei gewesen, da die naheliegende Gefahr einer schweren psychischen
Beeinträchtigung der Kindesmutter bestanden habe. Nach der verspäteten Feststellung des
Down-Syndroms habe sich kein Arzt mehr bereit gefunden, die Schwangerschaft zu
unterbrechen.
Die Kläger beantragen,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils ihren erstinstanzlichen Anträgen
stattzugeben.
Der Beklagte stellt den Antrag,
die Berufung zurückzuweisen.
Er vertieft sein bisheriges Vorbringen und verteidigt die angefochtene Entscheidung. Ein
normaler Schwangerschaftsabbruch hätte bereits im November 1997 nicht mehr auf legale
Weise vorgenommen werden können. Wenn man allerdings unterstelle, dass zugunsten
der Kläger eine medizinisch-soziale Indikation vorgelegen habe, wäre die Abtreibung auch
nach der 22. Schwangerschaftswoche noch möglich gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von
den Parteien eingereichten Schriftsätze Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
A.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Landgericht hat die Klage mit Recht und
aus zutreffenden Erwägungen abgewiesen. Die Kläger sind nicht nach den Grundsätzen
der positiven Vertragsverletzung gemäß den §§ 611, 242, 276, 249 ff BGB berechtigt,
Ersatz für die mit dem Unterhalt des behinderten Kindes verbundenen Belastungen zu
verlangen; auch steht der Klägerin zu 2) kein auf § 847 BGB zu stützender Anspruch auf
Ausgleich der mit der Entbindung zusammenhängenden immateriellen Beeinträchtigungen
zu. Der Beklagte kann im Ergebnis nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass ein
von der Rechtsordnung akzeptierter Schwangerschaftsabbruch unterblieben ist.
I.
Allerdings ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass ein Frauenarzt
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seiner schwangeren Patientin eine Fruchtwasseruntersuchung zu empfehlen hat, wenn
aufgrund konkreter Risikofaktoren die Gefahr einer Schädigung der Leibesfrucht erhöht ist.
In diesem Zusammenhang ist zwischen den Parteien streitig, ob bei der Klägerin zu 2)
altersbedingt ein Hinweis auf eine mögliche Trisomie 21 angebracht gewesen wäre; auch
ist ungeklärt, ob dem Beklagten die zwischen den Eltern bestehende Verwandtschaft, die
ebenfalls die Gefahr einer Chromosomenaberration erhöhen kann, bekannt war.
Schließlich weicht das Vorbringen der Parteien hinsichtlich der im November und
Dezember 1997 geführten Gespräche erheblich voneinander ab: Während der Beklagte
behauptet, er habe seine Patientin wiederholt auf das bestehende Missbildungsrisiko
hingewiesen, machen die Kläger geltend, eine genetische Beratung habe erstmals im
Januar 1989 stattgefunden.
II.
Im Ergebnis kann dahingestellt bleiben, welche Sachdarstellung richtig ist; es kommt nicht
darauf an, ob dem Beklagten ein schuldhafter Verstoß gegen die ihn treffenden
Beratungspflichten vorzuwerfen ist; es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden,
dass die Kläger bei einer unverzüglichen Information über das Risiko einer Trisomie 21
einen legalen Schwangerschaftsabbruch hätten durchführen lassen können:
1.)
Nach der hier anwendbaren Fassung des § 218 a Abs. 1 StGB ist der Tatbestand einer
strafbaren Abtreibung im Sinne des § 218 StGB nicht verwirklicht, wenn die Schwangere
nach einer Beratung die ärztliche Unterbrechung der Gravidität verlangt und seit der
Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind. Diese Regelung kam für die
Klägerin zu 2) unstreitig nicht in Betracht; sie befand sich nämlich im Zeitpunkt der ersten
Untersuchung durch den Beklagten am 6. November 1997 bereits in der 15.
Schwangerschaftswoche.
2.)
Nach § 218 a Abs. 2 StGB ist ein ärztlicher Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig,
wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse
der Schwangeren angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer
schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen
Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine
andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Auch auf diese Regelung
können die Kläger die geltend gemachten Ansprüche nicht stützen:
a) Zweifelhaft ist bereits, ob ein Arzt, der es versäumt, einen Schwangerschaftsabbruch aus
medizinischer Indikation zu ermöglichen, überhaupt für den mit der Betreuung eines
behinderten Kindes verbundenen Unterhaltsaufwand einzustehen hat. Bei der
Neuregelung der einschlägigen Bestimmungen hat der Gesetzgeber die früher rechtlich
zulässige eugenische oder embryopathische Indikation entfallen lassen; durch die jetzt
geltende Fassung hat er zu verstehen gegeben, dass es ein Recht der Eltern auf ein nicht
behindertes Kind grundsätzlich nicht gibt; ein Schwangerschaftsabbruch kann also nicht
auf die Erwägung gestützt werden, die Leibesfrucht sei aufgrund einer gesundheitlichen
Störung voraussichtlich erheblich geschädigt und eines eigenverantwortlichen Lebens
nicht fähig. Die sozial-medizinische Indikation kann in derartigen Fällen einen
Schwangerschaftsabbruch nur dann rechtfertigen, wenn die Pflege und Erziehung des
wahrscheinlich kranken Kindes die physische und psychische Belastbarkeit der
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werdenden Mutter in einem Maße überfordert, welches geeignet ist, das Lebensrecht der
Leibesfrucht in den Hintergrund zu drängen. Angesichts dieser Zielsetzung der
gesetzlichen Regelung liegt es nahe, einem für das Fehlschlagen einer aufgrund sozial-
medizinischer Indikation rechtmäßigen Abtreibung verantwortlichen Arzt ausschließlich die
wirtschaftlichen Folgen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung der Mutter, nicht aber die
mit der Existenz des Kindes verbundenen Aufwendungen anzulasten.
b) Letztlich bedarf die Frage, ob der von den Klägern geltend gemachte Schaden von dem
Schutzzweck der mit dem Beklagten getroffenen vertraglichen Absprache erfasst wird,
keiner Entscheidung. Die Voraussetzungen einer medizinisch-sozialen Indikation sind
nämlich von den Klägern nicht dargelegt:
aa) Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin zu 2) nach einer frühzeitigen genetischen
Beratung und der Ankündigung, sie werde voraussichtlich ein behindertes Kind zur Welt
bringen, in eine Situation geraten wäre, in der man ernsthafte gesundheitliche
Beeinträchtigungen hätte befürchten müssen. In diesem Zusammenhang haben die Kläger
- erst im Anschluss an einen Hinweis der erstinstanzlichen Zivilkammer auf die Rechtslage
- vorgetragen, die Patientin "leide vermehrt unter depressiven Verstimmungen"; in der
Berufungsbegründung wird lediglich ergänzend geltend gemacht, "eine schwerwiegende
Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der Mutter sei tatsächlich zu befürchten
gewesen". Diese Schilderung reicht nicht aus, die Voraussetzungen einer medizinischen
Indikation anzunehmen. Der Bundesgerichtshof hat betont, dass es konkreter
Feststellungen für eine gravierende Ausnahmesituation der Schwangeren bedarf, um einen
Abbruch der Gravidität zur Vermeidung gesundheitlicher Gefahren für die Mutter
rechtfertigen zu können (Urteil vom 4. Dezember 2001 - VI ZR 213/00); derartige Details
werden von den Klägern weder mitgeteilt noch unter Beweis gestellt; insbesondere
bestand offensichtlich nach der spätestens im Januar 1998 erfolgten genetischen Beratung
keine Notwendigkeit, die angeblichen psychischen Verstimmungen ärztlich behandeln zu
lassen. Ganz im Gegenteil hat die Klägerin zu 2) später bei einem stationären Aufenthalt in
der Abteilung für pränatale Diagnostik und Therapie der Universitätsklinik Bonn in Kenntnis
der drohenden Trisomie 21 ausdrücklich betont, sie wolle die Leibesfrucht austragen (vgl.
Bl. 26 GA); diese Einstellung spricht gegen die behauptete depressive Verfassung.
bb) Abgesehen davon ist ein Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen der
Voraussetzungen des § 218 a Abs. 2 StGB nicht an Fristen gebunden; eine Abtreibung
wäre deshalb auch nach der tatsächlichen Bekanntgabe des Fruchtwasserbefunds noch
ohne weiteres möglich gewesen. Das behauptete Versäumnis des Beklagten dürfte sich
deshalb in diesem Zusammenhang nicht nachteilig ausgewirkt haben.
3.)
Schließlich können die Kläger sich nicht auf die in § 218 a Abs. 4 StGB getroffene
Regelung berufen. Nach dieser Bestimmung ist eine Abtreibung für die Schwangere nicht
strafbar, wenn der Abbruch der Gravidität nach Beratung von einem Arzt vorgenommen
wird und seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind. Zwar könnte die
Versäumung dieser Frist möglicherweise dem Beklagten angelastet werden; zu
berücksichtigen ist aber, dass ein Schwangerschaftsabbruch nach dieser Bestimmung
nicht rechtlich zulässig ist: Eine Abtreibung ohne besondere Indikation zwischen der 12.
und 22. Schwangerschaftswoche ist lediglich für die werdende Mutter straflos, nicht aber
grundsätzlich als legal einzustufen; andere Beteiligte - insbesondere der den Eingriff
durchführende Arzt - bleiben vielmehr grundsätzlich nach § 218 StGB strafbar. Bei der
Bewertung des zwischen den Parteien bestehenden Vertragsverhältnisses kommt es nicht
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darauf an, ob eine Abtreibung vor Ablauf der 22. Schwangerschaftswoche möglicherweise
faktisch - infolge einer großzügigen Annahme der medizinisch-sozialen Indikation oder bei
einer Durchführung des Eingriffs im Ausland - ohne weiteres möglich gewesen wäre; die
Rechte und Pflichten der Beteiligten sind nämlich an der von dem Gesetzgeber
geschaffenen Rechtslage zu messen.
B.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 Satz
1, 108 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Die Beschwer der Kläger liegt über 60.000 DM.